© Text und Illustrationen: Peter Levin und Valbona Ava Levin

1. Auflage 2017

Herstellung und Verlag: BoD-Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7448-4244-0

Für Shukrije

Peter Levin, 1963 in Ulm geboren. Studium der Soziologie und Religionswissenschaften in Freiburg, Berlin und London. Ausbildung zum Physiotherapeuten, Osteopathen und Heilpraktiker. Diplomarbeit in Osteopathie. Veröffentlichung von osteopathischen Lehrbüchern und Artikeln. War Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für Osteopathie. Dozent für Osteopathie in Europa und Nordamerika. Privatpraxis für Osteopathie in Hamburg.

Anja Thams, 1967 in Hamburg geboren. Studium an der Werkkunstschule Lübeck. Kunstmalerin und Zeichnerin für einen Kunstdruckverlag. Illustrationen mehrerer Bücher. Umzug nach Wuppertal. Springmann-Kunstpreis 2016.

Inhalt

Die Organfamilie

Wir leben mit unseren Organen in einer Gemeinschaft zusammen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen miteinander auskommen, um den Alltag zu bewältigen. Nur wenn es in der Organfamilie allen gut geht und gut gehen darf, ist ein Leben in gemeinsamer Freude möglich. Sonst beherrschen Elend und Zank, Krankheit und Missgunst das Leben im Inneren und Äußeren. Hier werden die Organe als liebenswerte Zeitgenossen und zuweilen merkwürdig-schrullige Persönlichkeiten vorgestellt. Für Organliebhaber gilt die goldene Regel: Liebe deine Organe wie dich selbst. Im Leben und in der Liebe ist es ratsam, das Gegenüber kennen zu lernen, auch wenn das Gegenüber im eigenen Inneren wohnt.

Manche Organe sind sympathisch und interessant, andere fremd und abstoßend. Ein Mindestmaß an freundschaftlichem Umgang mit Respekt für die Bedürfnisse und Nöte der Anderen bleibt jedoch das Geheimnis des glücklichen Organlebens. Solidarität ist geboten und möglich. Geht es einem Organ schlecht, müssen alle ran wie in einer gut funktionierenden Familie. Jedes Organ hat einen gesunden Egoismus und Überlebenswillen. Irgendwann, wenn der müde Magen allzu lange am Herzen gezogen und auf den Dickdarm gedrückt hat, werden Herz und Dickdarm entscheiden, dass ihr eigenes Überleben wichtiger ist und sich zur Wehr setzen. Dann beginnen die Konflikte in der Organgemeinschaft offenbar zu werden. Und während es zum Hauen und Stechen zwischen den Organen kommt, werden wir krank.

Oft stand Nachlässigkeit und Unverständnis gegenüber einem einzelnen Organ am Anfang. Dann gab es keine gute Lösung der einsetzenden Organkonflikte, nur Symptomverschiebungen. Auch Schuldzuweisungen führen nicht weiter. Es braucht die anerkennende Liebe, um die Grenzen der Einzelnen zu erkennen und das gute Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen.

Füllen wir unseren Magen mit allem was die Konsumwelt zulässt, kann es gut sein, dass er sich wehrt und alles zurückgibt. Belasten wir unsere Lungen über ihre Möglichkeiten, machen sich diese durch Husten und Stimmunterbrechungen bemerkbar. Das Verständnis für die Fähigkeiten und Grenzen der Organe macht unser Leben einfacher und schmerzloser.

Die Organe sind eingebettet und eingebunden in die Organgemeinschaft. Der Raum in dem die Organe zusammen leben ist begrenzt. So sind Konflikte und Platzstreitigkeiten vorprogrammiert. Der Magen weiß davon zu berichten, da er sich bei jeder Mahlzeit ausdehnen muss. Dabei kommt er immer wieder in Organvolumenkonflikte mit seinen Nachbarn: Dickdarm, Leber, Lungen und Herz. Nimmt ein voller Magen den Lungen ihren Raum oder bedrückt er das auf ihm liegende Herz, kommen schnell Klagen: Atemnot und Herzbeschwerden. Das Beziehungs- und Gemeinschaftsleben der Organe kennt aber auch gemeinschaftliche und solidarische Aspekte. Es wundert jedoch manchmal, dass wir die ganze Breite des Dramas menschlicher Beziehungen auf das Zusammenleben in der Organgemeinschaft projizieren können. In den Organerzählungen ist den Organen nichts Menschliches fremd; sie erleben Anziehung und Abstoßung, Solidarität und Missgunst, Selbstaufgabe und Autonomiesucht, Schreck und Ekel, Abhängigkeit und Verzweiflung, Verlust und Gewinn, Glück und Pech, Frust und Zufriedenheit.

Unsere Organe sind individuell und unvergleichlich. So wollen sie auch behandelt werden. Ständig werden sie hier miteinander verglichen, aber nur, um zu zeigen, wie unterschiedlich sie sind. Wie wir selbst als besondere Einzelwesen geliebt werden wollen, so möchten die Organe auch in ihrer Besonderheit geliebt werden. Über einen Kamm scheren lassen die Organe sich nicht. So wollen Dünndarm und Niere als eigenständige Persönlichkeiten erkannt werden. Selbst wenn wir den Dünndarm mit seinem Bruder, dem Dickdarm, vergleichen, müssen wir sofort ihre Unterschiede benennen. Der Dickdarm liebt es im Rahmen zu bleiben. Der Dünndarm ist abenteuerlustig und schlägt gern über die Stränge. Kaum auszudenken, was passieren würde, wenn beim Einpacken die Geburtstagsgeschenke für Nieren und Dünndarm verwechselt würden. Wer dem Dünndarm als Überraschung ein Flugticket nach Thailand schenkt, mag goldrichtig liegen. Die Nieren aber, die gerne zu Hause auf dem Sofa liegen und sich Bildbände ferner Länder anschauen, würde ein solches Geschenk in große Nöte bringen.

In der Organfamilie sind die Aufgaben verteilt. So wie Mutter und Kind, Großeltern und Eltern, Mann und Frau je nach Fähigkeit und Position in der Generationenfolge unterschiedliche Aufgaben in einer Familie erfüllen, so erfüllen die Darmorgane eine andere Aufgabe als die Blutorgane. Ein Herz kann viel leisten für die Familie, aber die Aufgaben der Verdauung kann es beim besten Willen nicht übernehmen. Kommt ein Organ in Rollenkonflikte, wird es mit den Themen der anderen belastet und kann seine eigentlichen Aufgaben nicht mehr so gut erfüllen.

Es ist gut zu wissen, was ein Organ mag und was es nicht mag, was es kann und was es über die Maßen fordert. Wer dann noch die Lieblingsmusik oder das Lieblingsbuch eines Organes kennt, ist natürlich im Vorteil. Wer die Organe lieben will wie sich selbst, kann sie hier in all ihrer Schönheit und Eigenart kennen lernen.

Die Leber

Steckbrief

Wie sie ihre Freunde sehen

Immer am machen und basteln

Engagiert, beteiligt, warmherzig und leidenschaftlich

Extrem und anpassungsfähig

Platzbedürftig und voluminös

Einladend und platzgebend

„Bigger than life“

Hat Freude an der Verwirklichung

Was sie mag

Herstellen, erschaffen, speichern

Anforderungen

Köcheln und zaubern

Gute Materialen, passendes Werkzeug

Langsame Rhythmen

Die Wallungen des Blutes

Die Fülle des Seins

Was sie nicht mag

Stau, stehende Hitze

Hochdruckgebiete

Gifte, Alkohol und Süßes

Bedürfnislosigkeit

Lustfeindlichkeit

Ihre Lieblingsmusik und Lieblingsliteratur

Soul, von Solomon Burke bis Raphael Saadiq

Italienische Opern, griechische Tragödien

Verwandlungskünstlerin aus Leidenschaft

Die Leber ist wahrlich ein außergewöhnliches Organ. Sie steckt voller Schaffenskraft. Sie ist das größte, wärmste, aktivste, energiereichste, jüngste und - ihre Liebhaber sagen - schönste Organ der Organfamilie. Wenn es um die Leber geht, häufen sich die Superlative. Dann ist es schwer, den Charakter der Leber unter ihrem Supermannkostüm zu erkennen. Neben ihren vielen Besonderheiten stellen wir sie hier auch als erstes und durchaus prototypisches Organ im Blutsystem vor. Im Gegensatz zu den später portraitierten Hohlorganen steht die Leber nicht mit der Umwelt in direktem Kontakt. Ihre innere Fülle und Kraft ist das in den Gefäßen fließende Blut. Das Volumen und die chemische Qualität des Blutes sind der Schaffensbereich und Erfahrungshorizont der Leber. Dem Blut entnimmt sie die Grundbausteine des Lebens und wandelt diese um. Kaum ein Bauelement des Körpers, das nicht von ihr mitgebaut, kaum eine Zelle, die nicht von ihr mitbeliefert wird. Ohne die Leber lässt es sich nicht leben. Ist sie krank, nimmt sie alle anderen Organe in Mitleidenschaft. Schon die antike griechische Organlehre und Medizin wusste um die ungewöhnlichen Fähigkeiten der Leber. Sie war in der griechischen Organlehre Sitz der Leidenschaften und Ursache vieler Leiden. Wer sich nicht für sie interessiert, wird von ihr heimgesucht. Wird sie gut behandelt bleibt sie ewig jugendlich.

Sie ist die Größte

Die Leber ist das größte Organ in uns und kann sich bei Bedarf zudem noch mit Leichtigkeit ausdehnen. Sie mag daher die Weite der Räume. Große Volumenschwankung kennt sie gut, und diese machen ihr keinen Stress. Sie kann sich an die wechselnde Fülle mit einer adaptiven Hülle anpassen. So vermeidet sie trotz großer Volumenveränderungen starke Druckschwankungen: Sie kann auf 150 % ihres Volumens anschwellen ohne den inneren Blutdruck zu erhöhen. Dabei bleibt ihre Funktion erhalten. Diese Toleranz macht ihr kein Organ nach. Denken wir an die geringe Schwellungsfähigkeit des Gehirns und der Nieren. Schwellen diese, kommt es schnell zu Druckerhöhungen und lebensbedrohlichen Funktionsveränderungen. In der Volumenveränderungs-Liga gehört die Leber mit dem Magen und dem Herz an die Spitze. Während das Herz mit zunehmender Blutfüllung zur Kontraktion neigt, saugt sich die Leber voll wie ein Schwamm und wird schwerer und schwerer.

Bigger than life

Im Haus der Organfamilie zieht die Leber in das große Zimmer mit Balkon ein. Die anderen Familienmitglieder könnten sich zwar beklagen, dass die Leber das schönste Zimmer bekommt, aber da sie nicht nur die Größte sondern auch die Großzügigste ist, geben die anderen ihrem Platzbedarf gerne nach. Sie ist einladend und ausladend zugleich. Der Leber gelingt es, ihren platznehmenden Charakter mit einer platzgebenden Geste zu verbinden. Die Leber beeindruckt durch Gelassenheit, sie gibt den anderen das Gefühl, dass man ihr so leicht nichts anhaben kann. Sie ist „bigger than life“. Damit ist sie in der Organfamilie ein gutes Gegengewicht zu den ewig unsicheren und von Fragen geplagten Nieren. Die Leber ist fraglose Präsenz; komplizierte Verwicklungen sind nicht ihr Metier. Jeder Familie tut dieser Schuss selbstverständlicher Anwesenheit gut.

Arbeit an der Substanz

Mit der Leber kommen wir auf die stoffliche Seite des biografischen und therapeutischen Veränderungsprozesses zu sprechen. Die Physiologie spricht von Stoffwechsel (Metabolik). Der Verdauung und Aufnahme der Stoffe im Magen-Darm-Trakt folgt deren Umbau in den Leber- und Körperzellen. So können wir die Verwandlungskraft von Leber und Magen unterscheiden. Der Magen schafft Formänderung, ohne selbst am Verwandlungsprozess der Substanz beteiligt zu sein; er vermischt nur. Die Leber ist offen für Volumenänderungen, nimmt es mit der eigenen Form nicht so streng und entfaltet ihre volle Verwandlungsmacht in der Arbeit an der Substanz.

Da die Aktivität der Leber auf Substanzänderung zielt, ruft sie immer wieder die theologische und therapeutische Fraktion auf den Plan. Dann fallen Worte wie: Verwandlung und Umwandlung (Transsubstantiation), Heilung und Erneuerung.

Hier mischen sich dann physiologische, religiöse und therapeutische Metaphern. Es klingen an: die Verwandlung von Wasser zu Wein zu Blut und zurück, die Übersetzungen von Materie in Geist in Information und zurück.

Verwandlungskünstlerin

Fleißig baut und verwandelt die Leber, was ihr über das Blut aus dem Magen-Darm-Trakt, der Milz sowie der Leberarterie zugeführt wird. Sie baut Proteine (Eiweiße), aus denen dann Zellen und Hormone gemacht werden. Besonders für die schnell erneuernden Gewebe, wie die Blut- und Schleimhautzellen, ist ihre Arbeit von großer Bedeutung. Sie ist die große Verwandlerin, Bau- und Umbaumeisterin unter den Organen. Sie stellt die große Küche, die Chemiefabrik, die Druiden- und Hexenwerkstatt in der Organfamilie dar. Sie empfängt und sie gibt, sie entnimmt dem Blut einiges und fügt ihm vieles hinzu. Netto arbeitet die Leber mehr für den gesamten Organismus als für sich selbst. Sie entnimmt relativ einfache Bauteile aus dem Blut und reichert es mit sehr komplexen Enzymen, Vitaminen etc. an. Sie ist eine Verwandlungskünstlerin besonderer Art; sie erhöht die Qualität und Komplexität des Produkts. Sie gleicht einer Alchemistin.

Funktionen über Funktionen

Die Funktionen der Leber sind so zahlreich, dass es leicht ist, eine zu vergessen; so zum Beispiel, dass sie

Entstanden aus Blut

Mit der Leber begeben wir uns in die Welt der blutgefüllten Organe. Mit ihr fängt alles an. Sie bildet sich im Blut noch bevor es ein entwickeltes Gefäßsystem gibt. In der Lebergegend sammelt sich anfänglich das Blut des Embryos; und die spätere Leber entsteht und besteht zu großen Teilen aus Blut. Ihr ganzes Leben spielt sich in Auseinandersetzung mit dem Blut ab. Die Leber ist ein Blut-Organ par excellence. Sie ist unmittelbar und substantiell in Form, Farbe und Volumen bestimmt von Blut. Sie erhält 25-30 % des Herzausstoßes, obschon sie nur 2,5 % des Körpergewichts hat. Die Organe der ersten Kapitel - Leber, Milz, Herz und Nieren - sind Organe im Blut- und Gefäßsystem. In den späteren Kapiteln werden verschiedene Hohlorgane (Magen, Darm, Lunge, Harnblase) vorgestellt. Diese sind nicht voll mit Blut, sondern werden regelmäßig durch Nahrung, Luft und Urin gefüllt und entleert.

Von venösen Blutseen zum Gefäßschwamm

Anfangs gleicht die Leber einer venösen Seenplatte oder Lagune. In diese LeberLagunen fließt das frische, sauerstoffreiche Blut aus der Plazenta und gibt der Leber alles, was sie zum Wachsen braucht. Über lange Phasen ist die Leber daher so groß, dass sie die Hälfte des Bauchraumes ausfüllt und anderen Organen (wie dem Dünndarm) den Raum zum Wachsen verwehrt.

Wie in einer Lagune bilden sich in den venösen Seenplatten der Leber durch Anschwemmung von Zellen und Bindegewebe langsam Wälle und Kanäle aus. Durch formbildendes Wachstum entsteht die Leber als Lagunennetzwerk aus Blut und Gefäßen. Aus den venösen Blutseen entsteht die Gefäßarchitektur der Leber. Sie ist um das Blut herum gebaut. Die innere Form der Leber entspricht dem architektonischen Bau ihrer Gefäße. Formiert sich die Leber zu einem Organ, ist sie einem Schwamm vergleichbar. Die Streben des Schwamms sind das innere Bindegewebsnetz und die Gefäße. Sie bilden ein System aus miteinander verbundenen Höhlen, die Sinusse der Leber. Die Blutfüllung des Leberschwamms entfaltet und trägt das innere Gefäßnetz.

Venöse Fülle

Die Fülle der Leber ist das venöse Blut aus dem Magen-Darm-Trakt und der Milz. Zwei Drittel des Blutes, das in die Leber fließt, ist venös, ein Drittel arteriell. In den Leberhöhlen (Sinusse) laufen das venöse und arterielle Blut zusammen und versorgen die Leber von innen. Vergleichen wir das mit dem Herzen, wird das Ungewöhnliche dieser Situation deutlich: Das Herz wird von Blut durchströmt, aber das durchströmende Blut versorgt nicht den Herzmuskel. Ein um das Herz herumlaufender Gefäßkranz bringt Blut von außen zum Herzmuskel. Bei der Leber finden wir diese Trennung nicht; das in den Leberschwamm einlaufende Blut versorgt die Leber ohne ein eigenes Gefäßsystem von innen mit Sauerstoff. Die Leber deckt ihren Sauerstoffbedarf hauptsächlich über das venöse Blut ab; ein Umstand, der die Unterscheidung zwischen venösem und arteriellem System durcheinanderbringt. Obschon das venöse Blut weniger Sauerstoffsättigung aufweisen kann, ist diese dennoch groß genug, um die Leber gut zu versorgen.

Ungewöhnlich ist schon, dass ein Organ venösen Zulauf erfährt. Die Anatomen haben diesem seltenen Organisationsmodell einen eigenen Namen gegeben: Pfortader oder portaler Kreislauf. Normalerweise wird ein Organ von arteriellem Blut versorgt und nach dem Austausch in den Kapillaren vom venösen Blut entstaut. Nur an wenigen Orten im Körper wird dieses Prinzip verändert. Die Leber ist das prominenteste Beispiel.

Volumen ohne Druck

Die Leber als venöses Organ zeigt alle Charakteristika des venösen Systems: großes Volumen und ausgiebige Volumenschwankungen, mäßiger Druck und geringe Druckschwankungen. Da sich der venöse Zustrom mit der Verdauungsaktivität rhythmisch ändert, gehören Volumenschwankungen zum Alltagsgeschäft der Leber. Die Leber hat keine Angst vor Fülle und Überfülle. Die Leber darf und kann schwellen. Druckanstieg ist dagegen nicht unbedingt ihr Ding. Obschon sie nicht als lethargisch zu bezeichnen ist, lässt sie sich nicht so leicht unter Druck setzen. Sie selbst agiert am besten unter geringem Blutdruck, ist also ein venöses Niederdrucksystem.

Der Blutdruck in der Leber ist nur 4 mmHg höher als im rechten Herzen. Das ist zwar ein geringer Unterschied, aber groß genug, um ein Abflussgefälle zum Herzen aufrecht zu erhalten. Bei der Entstauung ihrer venösen Fülle bekommt die Leber Hilfe vom Zwerchfell, das mit der Leber in deren oberen und hinteren Bereichen vollständig verwachsen ist. Bei jedem Atemzug zieht sich das Zwerchfell zusammen und drückt auf den Leberschwamm. Dabei wird Blut aus der Leber herausgepresst.

Bewässerte Reisfelder

In der Leber herrschen Strömungsverhältnisse, die an Lagunen erinnern. Das Blut fließt mit geringem Druck in die vielen offenen Höhlen und Buchten des Leberschwamms. Nur Leber und Milz kennen diese Form des offenen Gefäßbettes. Normalerweise besteht in allen Organen eine Kontinuität der Gefäße und klare Richtung des Flusses: Arterien werden zu Kapillaren und diese dann zu Venen. In der Leber ist an Stelle der Kapillaren ein offenes Netzwerk getreten. Die Kontinuität der Gefäße ist durch die Schwammstruktur aufgelöst. Entsprechend bewegt sich das Blut in der Leber wie in einem Reisfeld; es umspült die Pflanzen, schwankt vor und zurück und verlässt es dann wieder. Diese Form der Bewässerung vermeidet zwei Gefahren: zu schneller oder zu langsamer Durchfluss. Bei zu schnellem Durchfluss wird die Kontaktzeit mit den Pflanzen zu kurz und diese werden nicht ernährt. Im Falle der Leber sind es die Leberzellen, die eine möglichst lange Kontaktzeit brauchen. Fließt das Blut zu langsam, kommt es zum Stau mit allen bekannten Gefahren der Ansammlung von Toxinen und veränderter Blutgerinnung.

Lebermüdigkeit, Leberhitze

Die Leber arbeitet bei niederem Druck und ausreichendem Durchfluss gut. Hat sie genug Zeit und bekommt sie gute zu verarbeitende Stoffe zugeteilt, schafft sie ihre Arbeit an den Bestandteilen des Blutes ohne Anstrengung. Die Hauptarbeit kommt dabei den Leberzellen (Hepatozyten) zu, die im Gewölbe der Leberhöhlen liegen. Hier spielen sich die für die Leber typischen Prozesse der Speicherung und Bereitstellung von Energie ab. Die Leber kann sowohl Zucker speichern als auch wenn nötig die Speicher leeren. Als energetisches Zentrum im Stoffwechselprozess ist sie - wie oft die Küche im Haus - der wärmste Ort des Körpers.

Müde wird die Leber nur wenn sie überlastet wird oder wenn sie sich entzündet. Seltsamerweise drückt sich eine Entzündung der Leber nicht als Fieber, sondern als allgemeine Müdigkeit aus. Bei akuter Leberentzündung sind wir matt und elend. Da die Leber als Oberbauchdrüse auch beim Pfeifferschen Drüsenfieber angegriffen wird, haben einige diese Lebermüdigkeit erlebt.

Gut platziert, aber nicht gierig

Nicht nur im Embryo ist die Leber gut platziert, um das beste Blut abzufangen. Auch nach der Geburt ist ihr ein Platz an der Sonne sicher, denn sie bekommt das Blut aus dem Dünndarm, das gerade frisch beladen wurde mit Nahrungsstoffen. Die Leber kann einströmende Moleküle sofort nutzen. Manches entnimmt sie großzügig, z.B. die Grundbausteine der Eiweiße (Aminosäuren), weil sie die Einzige ist, die Bluteiweiße bauen kann. Von anderen Stoffen nimmt sie nur ihren Anteil. So hat die Leber eine geringe Affinität für Zucker (Glucose). Deshalb gelangt die größte Menge des Zuckers zu jenen Organen und Zellen, die diesen viel dringender brauchen: Gehirn, Herz, Nieren, Muskeln und rote Blutkörperchen. Hier zeigt die Leber Größe und einen Sinn für Verteilungsgerechtigkeit. Das Gehirn braucht am meisten Zucker und bekommt diesen in großen Mengen. Besonders abhängig vom Zucker sind die roten Blutkörperchen; diese können sich nur mittels Glukose am Leben halten. Die anderen Organe hätten notfalls die Möglichkeit aus Fetten ihre Energie zu produzieren.

Süße Energie

Glukose ist die wichtigste Quelle für die Energiegewinnung und Energie braucht der Körper en masse. Die physiologischen Abläufe benötigen im menschlichen Organismus viel Energie. Diese Energie muss der Organismus, aus dem was er aus der Umwelt aufnimmt, selbst herstellen. Die Erneuerungs- und Reparaturvorgänge, der Zellstoffwechsel und die Pumpmechanismen der Zellwand müssen angetrieben werden. Das Benzin des Körpers heißt ATP (Adenosin-Tri-Phosphat). ATP entsteht bei der Verbrennung von Zucker im Zellplasma und in den Zellkraftwerken (Mitochondrien).

Die Leber hat ein einzigartiges Verhältnis zum Zucker, das spüren nicht nur die Naschkatzen unter uns. Ist der Blutzuckerspiegel nach einer guten Mahlzeit dauerhaft hoch, entnimmt die Leber dem Blut vermehrt Zucker. Da sie diese Mengen nicht für die eigene Arbeit braucht, speichert sie den überschüssigen Zucker in den Leberzellen. In Phasen der körperlichen Anstrengung oder des Hungers gibt sie diesen Zucker wieder ans Blut ab. Somit ist die Leber nicht nur ein Speicherorgan für Zucker, sie spielt auch bei der Verteilung des verfügbaren Zuckers eine entscheidende Rolle. In Zeiten des Überflusses spart sie an und gibt uneigennützig in der Not. Die Bauchspeicheldrüse hilft dabei mit; sie schickt die entsprechenden Hormone für die Einlagerung (Insulin) und Herausgabe (Glukagon) von Zucker aus den Leberzellen. Neben den Muskeln des Bewegungsapparats haben nur die Leberzellen die Fähigkeit, Glukose zu speichern und bei entsprechender Not zu mobilisieren.

Feind und Freund

Eine Leber muss Freund und Feind auseinanderhalten können. Eine ausgewogene Ernährung und Durchblutung halten die Leber jung. Sie ist das einzige Organ, dem man das Alter nicht ansehen muss. Bestimmte Formen des Zuckers machen der Leber das Leben schwer. Die Leber lernt schnell, dass Alkohol und Fruchtzucker (Fruktose) ihr schaden können. Im Vergleich zur Glukose wird bei der Verarbeitung der Fruktose in den Zellen vermehrt Fett gebildet. Die Leber neigt dazu, 30 % der Fruktose in Fett umzuwandeln. Dieses Fett verbleibt entweder in der Leber oder geht ins Blut. In der Leber führt es zu deren Verfettung. Wandert es ins Blut, ist es gefürchtet, weil es die Gefäße schädigt. Egal wie man es dreht: wer glaubt, Fruchtsaft wäre fettfrei, der hat nicht mit der Leber gerechnet. Große Mengen an Fruchtzucker können für die Leber ebenso schädlich sein wie Alkoholkonsum. Deshalb bezeichnen manche besorgte Forscher den in vielen Getränken und Nahrungsmitteln enthaltenen Fruchtzucker als Gift.

Die zweite leberschädliche Form des Zuckers ist der Alkohol. Alkohol stört und zerstört nicht nur die Zellmembran der Leberzellen, er wirkt noch tiefer in der Zelle. Er macht sich auch an der Membran des Mitochondriums zu schaffen und legt damit die Energiegewinnung der Leberzelle lahm. Ohne Energie sterben diese Zellen.

Die Belastung der Leber und erst recht die irreversible Leberzirrhose führen zu Rückstau im ganzen Bauchraum. Die Menschen mit Leberschäden verlieren zudem Substanz, weil die Leber nicht mehr ihren Aufbau-Aufgaben für den Rest des Körpers nachkommt. Sie sehen daher unterernährt und zugleich überbläht aus: Der geschwollene Bauch wird von dünnen Beinen getragen.

Sucht und Rausch, Bedürfnis und Exzess

Alles an der Leber geht in die Superlative: komplexester Stoffwechsel, größtes Blutvolumen, größter Produzent von Lymphflüssigkeit. So können wir sagen: die Leber ist ein Extrem-Sportler. Sie ist extrem belastbar und lädt dazu ein Grenzen auszutesten. Und wer ist mehr für Exzesse geeignet als ein extremes Organ? Die Leber erlaubt uns, Grenzen zu überschreiten und wieder in die Grenzen zurückzukehren. Aber es gibt keine Garantie auf die sichere Rückkehr nach dem Exzess. Das Wort „Sucht“ trägt den Sog in sich. Der Sog hält fest und droht uns zu verschlingen. In der Sucht ist der Rückweg aus der Grenzüberschreitung unendlich viel schwerer als es die leichte Lust des Augenblicks und des Rausches vermuten ließen. Glücklich, wer nach dem Rausch nur im Frust des Katers endet. Der Kater birgt eine Chance, er kann zum Warnschuss geraten. Die Leber freut sich, wenn auf die Warnung reagiert wird.

Die Leber stellt die Frage nach der menschlichen Bedürfnis-Natur und den Konsequenzen der Befriedigung. In ihr wird der Übergang vom Feuer der Begeisterung zum rauschhaften Exzess zu einer Frage des Überlebens.

Feuer der Zivilisation