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Lockdown

Zum Buch

Corona hat die Welt in den Lockdown gezwungen, doch Deutschland ist in den ersten Monaten vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen. Aber wie viel war tatsächlich politische Geschicklichkeit, wie viel pures Glück? Wie nachhaltig sind die Entscheidungen zur Krisenbekämpfung? Und welche langfristigen Folgen wird die Pandemie für unser Land haben? Ein Team von Redakteurinnen und Redakteuren des SPIEGEL berichtet von jenen dramatischen Momenten, die über Leben und Tod, Wohlstand und Existenznot entschieden haben. In einer packendenden Chronologie blicken sie auf Spitzenpolitiker und lokale Entscheider, beleuchten die Rolle bekannter Virologen und unbekannter Ratgeber und fragen, wie gut unser Land für das gerüstet ist, was uns jetzt bevorsteht. Denn die wahren Folgen der Pandemie sind immer noch nicht absehbar.

Zu den Herausgebern

Christoph Hickmann, geboren 1980, begann seine journalistische Karriere bei der »Süddeutschen Zeitung«, für die er als politischer Korrespondent aus Frankfurt am Main berichtete. 2009 wechselte er ins SPIEGEL-Hauptstadtbüro, 2012 kehrte er zur »Süddeutschen Zeitung« zurück und war dort knapp sechs Jahre Parlamentskorrespondent. Seit 2018 ist er Reporter im SPIEGEL-Hauptstadtbüro.

Martin Knobbe, geboren 1972, absolvierte nach dem Studium eine Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule. Ab 2001 war er Redakteur beim »Stern«, zuletzt USA-Korrespondent in New York. Seit 2015 arbeitet er für den SPIEGEL in Berlin, seit Februar 2019 ist er einer der Leiter des Hauptstadtbüros. Er hat den Deutschen Reporterpreis und den Nannen Preis im Bereich Investigation gewonnen.

Veit Medick, Jahrgang 1980, ist Korrespondent im Hauptstadtbüro des SPIEGEL. Nach dem Politikstudium absolvierte er 2007 ein Volontariat bei der »taz« in Berlin, zwei Jahre später wurde er Redakteur im Hauptstadtbüro von SPIEGEL ONLINE. Zwischen 2015 und 2017 arbeitete er als Korrespondent in Washington. Seit seiner Rückkehr nach Berlin schreibt er über Innenpolitik.

 

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Christoph Hickmann, Martin Knobbe,
Veit Medick (Hg.)

Lockdown

Wie Deutschland in der Coronakrise knapp der Katastrophe entkam

Ein SPIEGEL-Buch von Sven Becker, Markus Dettmer, Georg Fahrion, Veronika Hackenbroch, Christoph Hickmann, Frank Hornig, Martin Knobbe, Walter Mayr, Veit Medick, Julia Merlot, Ann-Katrin Müller, Peter Müller, Christian Reiermann, Marcel Rosenbach, Cornelia Schmergal, Christoph Schult, Lea Schulze, Rainer Staudhammer, Katja Thimm, Gerald Traufetter, Jonathan Stock, Wolf Wiedmann-Schmidt, Klaus Wiegrefe, Bernhard Zand

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ISBN: 978-3-641-27377-4
V001

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Inhalt

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 Weichenstellungen

2 Weit weg

3 Erste Einschläge

4 Hoffen

5 Bangen

6 Hektik

7 Kursänderung

8 Entscheidungen

9 Lockdown

10 Durchhalten

11 Lockerungsübungen

12 Aufatmen

13 Ein fast normaler Sommer

Epilog

Dank

Personenregister

Prolog

19. März 2020, 15.20 Uhr, Berlin, Bundeskanzleramt

Helge Braun kommt zu spät, deutlich zu spät. Vor gut zwanzig Minuten hätte der Termin beginnen sollen, aber Braun hing fest, in einer Telefonschalte, wieder einmal. Es gibt ja nur noch Telefonschalten jetzt, Videokonferenzen, Telefonate zu zweit und dann wieder Telefonschalten.

Helge Braun, Jahrgang 1972, Bundesminister für besondere Aufgaben, Chef des Bundeskanzleramts, hat mit den Bundesländern diskutiert, mit den Chefs der dortigen Regierungszentralen, es gab viel zu klären. Weil so viel auf dem Spiel steht. Die Gesundheit der Menschen und zugleich womöglich ihre Arbeitsplätze. Die Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens und die Stimmung im Land, die kippen könnte. Man kann sagen: Alles steht im Grunde jetzt gerade auf dem Spiel.

Da draußen im Land geistert seit einigen Tagen das Wort »Ausgangssperre« herum, es kam bislang im politischen Wortschatz der Republik nicht vor, doch in anderen Ländern gibt es sie längst. Nun ist die Frage, ob es auch hier so kommt, kommen muss. Helge Braun will dazu etwas sagen.

So weit ist es jetzt: Corona, genauer ein Virus namens SARS-CoV-2, hat innerhalb weniger Wochen Gewissheiten beiseitegefegt, kollektive Ängste und Versäumnisse freigelegt und Fragen aufgeworfen, wie sie gestern oder vorgestern noch unvorstellbar erschienen, etwa diese: Wird die Regierung eines der liberalsten Länder der Welt sich gezwungen sehen, ihre Bürger zu Hause einzusperren?

Die Schaltkonferenz ist beendet, Braun bittet in sein Büro. Am Tag zuvor hat Angela Merkel eine Fernsehansprache gehalten. Sie hat das noch nie gemacht, sieht man von ihren Neujahrsansprachen einmal ab. Allerspätestens da wurde klar, dass die Lage ernst ist. »Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt«, so hat es die Bundeskanzlerin ausgedrückt. Sie hat an die Bürger appelliert, vernünftig zu sein, mitzuhelfen.

Da knüpft Braun nun an, allerdings nicht mit einem Appell, sondern mit einer Warnung.

Es ist Donnerstag, ein März-Wochenende mit schönem Wetter steht bevor. Von Brauns Büro aus sieht man den Berliner Hauptbahnhof, darüber blauen Himmel, ein paar Wolken. »Wir werden uns das Verhalten der Bevölkerung an diesem Wochenende anschauen«, sagt Braun. »Der Samstag ist ein entscheidender Tag, den haben wir besonders im Blick. Am Samstag verabreden sich die Menschen ja traditionell miteinander, weil sie frei haben. Aber das geht abseits der Kernfamilie derzeit nun einmal leider nicht. Das muss jetzt eingestellt werden. Geschieht das nicht, kann es passieren, dass auch in den Bundesländern weitergehende Maßnahmen beschlossen werden, obwohl wir das eigentlich vermeiden wollen.«

Helge Braun ist ein freundlicher, besonnener Typ, aber an diesem Donnerstagnachmittag im März klingt er, als sei er eine Figur aus George Orwells »1984«.

Der Kanzleramtschef, dem in der Coronakrise die Rolle des obersten Koordinators zufällt, spricht seine Warnung auf dem Höhepunkt einer Krise aus, die eine ganze Gesellschaft, den Kontinent, die gesamte Welt bedroht, bewegt und vor allem massiv verändert. Keinen gesellschaftlichen Bereich gibt es, der nicht betroffen wäre, die Kultur, die Wirtschaft, das tägliche Zusammenleben. Corona verändert die Art, wie Menschen sich begegnen, wie sie ihre Zeit verbringen, wie sie arbeiten, wie sie sich fortbewegen. Es verändert ihr Lebensgefühl, ihren Grad an Freiheit, ihre Vorsicht.

Auf das Virus wird die größte Rezession der Nachkriegsgeschichte folgen, während die unmittelbare Gefahr noch immer nicht gebannt ist, sondern im Hintergrund weiter lauert: die Krankheit Covid-19. All das zusammen ergibt die größte Herausforderung, vor der die deutsche Politik seit der Wiedervereinigung gestanden hat – und das in einer Zeit, in der das Vertrauen in die etablierte Politik, in die Politiker ziemlich ausgehöhlt, mancherorts regelrecht aufgebraucht ist.

Wie ist die deutsche Politik damit umgegangen? Wie hat sie sich geschlagen? Was wurde versäumt, vor der Krise und zu ihrem Beginn? Was wurde hinter den Kulissen diskutiert, welche Wendepunkte gab es? Was waren die entscheidenden Faktoren dafür, dass Deutschland zumindest durch die erste Phase der Pandemie besser kam als andere große europäische Staaten wie Italien, Spanien, Frankreich, aber auch die USA? Und vor allem: Was können wir aus dem vergangenen halben Jahr für die Zukunft lernen?

Ein Team von Redakteurinnen und Redakteuren des SPIEGEL ist diesen Fragen nachgegangen und hat für ein möglichst dichtes Bild des politischen Krisenmanagements zahlreiche Krisentreffen und Besprechungen hinter verschlossenen Türen und in abgesicherten Schaltkonferenzen rekonstruiert, interne Protokolle und Papiere ausgewertet, mit Dutzenden Akteuren über ihre Entscheidungen und Motive gesprochen, mit Ministerinnen und Ministern aus Bund und Ländern, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sowie Behördenchefs, Experten.

Es geht vor allem um die ersten Monate dieser Krise, die erste Welle der Pandemie. Jene Wochen, in denen sich entscheidet, wie hart die Krise das Land und die Gesellschaft trifft, ob sich das politische System und das politische Personal ihr gewachsen zeigen.

Es geht um die Versäumnisse von Jahren, die innerhalb weniger Wochen aufgeholt werden müssen, um ein komplexes, auf Debatte, Abwägung und Kompromiss angelegtes Regierungssystem, von dem plötzlich schnelle, einschneidende Entscheidungen verlangt werden, um Zentralismus gegen Föderalismus, um Grundrechte auf der einen und Lebensrettung auf der anderen Seite, Autoritarismus gegen Liberalismus. Und nicht zuletzt geht es um die Frage, wer sich in dieser Krise bewährt und wer verliert, welcher Typ Politiker zum Modell wird und welcher nach dieser Krise vorerst nicht mehr so gefragt sein wird.

Die Bundesrepublik hat in diesem Zeitraum die politisch repressivste Phase ihrer Geschichte erlebt, die Bürger haben im Namen der Gesundheit und Solidarität massive, bis dahin ungekannte Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheiten akzeptiert und sogar mehrheitlich befürwortet. Was bleibt? Die Frage stellt sich in vielen Bereichen, im Gesundheitssystem, in der Bildung, für die Wirtschaft, den Kampf gegen den Klimawandel und auch für den inneren Zusammenhalt dieser Gesellschaft, ihr Gleichgewicht. Was wird wieder so wie vor der Krise? Was wird anders, und zwar langfristig anders? Das Buch versucht, auch darauf eine Antwort zu geben oder sich Antworten zumindest anzunähern.

Wenn Corona eines gezeigt hat, dann dies: dass Dinge sich täglich, stündlich ändern können, dass Gewissheiten, die jahre-, jahrzehntelang galten, plötzlich wertlos sind. Vieles wird deshalb im Fluss bleiben, wird im Nachhinein, mit mehr Abstand betrachtet, anders aussehen. Das Wesen der Krise ist die Vorläufigkeit. Und doch ist es Zeit für eine Bestandsaufnahme.

Für eine erste Geschichte dieser Krise.

1
Weichenstellungen

Deutschland rüstet medizinisch ab. In Bonn wird ein Amt gegründet, das viel kann, aber wenig darf. In den Nachrichten geht es um ein heimtückisches Virus. Und Thomas de Maizière wird ausgelacht.

Mitte der neunziger Jahre, Gelsenkirchen

Wolfgang Wagner macht sich Sorgen, ernsthafte Sorgen, so erinnert er sich heute, ein Vierteljahrhundert später. Wagner, Jahrgang 1944, Chefapotheker am Düsseldorfer St.-Josef-Hospital, beobachtet seit einiger Zeit, wie mit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Nachlässigkeit eingezogen ist.

Endlich, so denkt man damals in der Politik, braucht man all jene Einrichtungen nicht mehr, die man bislang zum Schutz der Bevölkerung im Fall eines Angriffs vorgehalten hatte – schließlich gibt es keine Bedrohung mehr, gegen die man sich wappnen müsste. Friedensdividende, finanzielle Entlastung durch Abrüstung, so lautet das Stichwort, nicht nur bei der Bundeswehr, sondern, im übertragenen Sinne, auch im Zivilschutz.

Drei Jahrzehnte zuvor, zu Beginn der sechziger Jahre, hatte der Bund begonnen, sogenannte Hilfskrankenhäuser aufzubauen und Depots mit Vorräten an Sanitätsmaterial einzurichten – alles für den Fall, dass es zum Krieg kommen würde, zu einer Katastrophe. Am Ende gibt es 221 solcher Hilfskrankenhäuser mit rund 80 000 Betten. Doch nun, Mitte der Neunziger, schafft der Bund sie nach und nach ab.

Die Notvorräte an Arzneimitteln und medizinischer Ausstattung haben ihr Verfallsdatum überschritten, sie werden »entsorgt« und nicht mehr ersetzt. Und das Programm zur Aus- und Fortbildung von Schwesternhelferinnen läuft aus. Als medizinisches Laienpersonal hätten sie im Krisenfall die Fachkräfte unterstützen und so deren Überlastung verhindern sollen. Wagner sieht in den neunziger Jahren diese Entwicklung und schlägt Alarm.

Hier werde ein zentrales Element der Vorsorge aufgegeben, warnt er in der Arbeitsgemeinschaft Notfall- und Katastrophenpharmazie, die er gegründet hat und damals leitet. Es sei unrealistisch, Vorräte für den Notfall erst dann wieder anlegen zu wollen, wenn es bereits zur Krise gekommen sei, zum Spannungsfall. Doch seine Warnungen verhallen. Derart existenzielle Bedrohungen scheinen gerade weit weg zu sein, die Katastrophen finden woanders statt oder nur im Film.

Es ist eine Art unbeschwerte Zwischenzeit. Aus dem Osten droht keine Gefahr mehr, über islamistische Terroranschläge macht sich die breitere Öffentlichkeit noch keine Gedanken. Hinzu kommt eine Gesetzmäßigkeit demokratischer Politik: Wer wiedergewählt werden will, tut sich immer schwer, Geld und Ressourcen für einen Fall bereitzustellen, der mit einiger Wahrscheinlichkeit nie eintreten wird. Wer dankt es einem, wenn es nicht zur Katastrophe kommt?

»Wir haben damals die Probleme gesehen und benannt, aber wir sind nicht durchgedrungen«, sagt Wagner, »dabei hat sich nichts von dem, was wir bemängelt und gefordert haben, als unsinnig erwiesen.«

Ein erstes Umdenken habe es in der Politik nach den Anschlägen des 11. September 2001 gegeben, doch erst kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland gibt es dann tatsächlich einen neuen Anlauf, die Notfallversorgung in Deutschland wieder aus ihrem Dornröschenschlaf zu holen. In der Bundespolitik fürchtet man, es könnte während der WM zu Terroranschlägen kommen, deshalb werden an den Austragungsorten der Spiele neue Depots mit Sanitätsmaterial aufgebaut, jeweils an den örtlichen Krankenhäusern, geeignet, um Schwerverletzte zu versorgen.

Nach der WM, die glücklicherweise ohne Zwischenfälle verläuft, kommen diese Anstrengungen jedoch wieder zum Erliegen. Bayern verabschiedet sich komplett von der Vorratshaltung, am Ende gibt es noch 16 Standorte in fünf Ländern, an denen der Bund Sanitätsmaterial vorhält.

Wolfgang Wagner warnt in den Jahren danach noch mehrfach, dass die Bundesrepublik auf Katastrophenfälle mangelhaft bis gar nicht vorbereitet sei.

2004, Bonn

Wolfram Geier ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort, mit dem richtigen Thema. Geier, ein fröhlich wirkender Mensch, der auch als Oberstudienrat für Geografie durchgehen könnte, hat 2002 über Zivil- und Katastrophenschutz promoviert, er ist jetzt Experte für eine Disziplin, die plötzlich wieder gefragt ist. Geier wird damit beruflich noch weit kommen.

Dabei war das Thema Katastrophenschutz aus dem öffentlichen Bewusstsein eigentlich schon so gut wie verschwunden. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks brauchte man auch das Bundesamt für Zivilschutz nicht mehr, genauso wie jene 550 Mitarbeiter des Amtes verzichtbar erschienen, die in zehn Niederlassungen quer durch die Republik verteilt waren, um im Fall einer Attacke aus dem Osten das militärische Warnsystem auszulösen. Anfang 2001 wurde das Bundesamt für Zivilschutz aufgelöst und ins Bundesverwaltungsamt eingegliedert. Bundesinnenminister damals: Otto Schily von der SPD.

Doch jetzt, 2004, nimmt Schily seine Entscheidung zurück. Im September 2001 sind in New York Passagierflugzeuge ins World Trade Center geflogen, im Jahr darauf folgte das verheerende Hochwasser an Elbe und Donau, das Krisenmanagement war teilweise chaotisch. Der Innenminister lässt wieder eine Behörde aufstellen: das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, kurz BBK.

Wolfram Geier ist von Anfang an dabei, er wird später die Abteilung Risikomanagement und Internationale Angelegenheiten leiten, im Amt werden sie ihn den »Godfather of Bevölkerungsschutz« nennen. Doch 2004 bekommt die Aufbruchsstimmung unter den Katastrophenschützern gleich einen Dämpfer. Schily hat nun zwar eine neue Behörde aufgestellt, doch es gelingt ihm nicht, flankierend die Verfassung zu ändern. Sein Plan: Über eine Grundgesetzänderung will er dem Bund mehr Kompetenzen beim Katastrophenschutz übertragen. Der ist bislang Sache der Bundesländer, und die verteidigen ihre Einflusssphäre.

»Direkt nach dem 11. September wäre dafür vermutlich ein guter Zeitpunkt gewesen«, so erinnert sich Wolfram Geier an das Ringen um eine Verfassungsänderung. Doch die Gelegenheit zieht vorbei, und 2004 ist die Stimmung schon wieder eine andere. Die Länder blockieren, sie wollen keine Kompetenzen abgeben. »Aus unserer Sicht wäre die Schaffung einer Zentralstelle des Bundes ein Fortschritt gewesen«, sagt Geier im Rückblick. Wäre.

Es ist der Geburtsfehler des BBK, es ist seither nur im »Spannungs- und Verteidigungsfall« für den Bevölkerungsschutz zuständig. Und es darf koordinieren, wenn die Länder es im Fall einer großen Katastrophenlage darum bitten. Aber auch wirklich nur dann. Wäre das Amt ein Sportler, dann wäre es ein Bodybuilder: viele Muskeln, die nur hergezeigt, aber nicht eingesetzt werden dürfen.

»Wir haben eine beratende Funktion und können Handlungsempfehlungen aussprechen«, sagt Christoph Unger, der Präsident des BBK, wenn er 16 Jahre nach der Gründung die Befugnisse seines Amtes beschreiben soll. »Letztlich sind wir eine Art Thinktank. Wir betreiben Risikoanalysen und stellen diese Analysen bei Bedarf den Ländern und dem Bund zur Verfügung.« Im September 2020 wird Unger als BBK-Präsident abgelöst werden.

2007, Deutschland

Was der Nachrichtensprecher vorträgt, klingt äußerst beunruhigend. Es geht um ein »heimtückisches, todbringendes Virus«, das sich in Windeseile verbreite und »aggressiv von Mensch zu Mensch überträgt«. Erstmals aufgetreten sei es in der beliebten südostasiatischen Urlaubsregion »Sinatra«, vier britische Touristen und ein französischer Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hätten sich infiziert. Dessen Zustand verschlechtert sich auf dem Flug in die Heimat so dramatisch, dass die Maschine einen Zwischenstopp in Hamburg macht, wo der Mann am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin behandelt wird. Womöglich hat sich auch einer der Flugbegleiter angesteckt, er ist ein Verdachtsfall, damit ist das Virus wohl in Deutschland angekommen. »Eine tödliche Grippe bedroht Westeuropa«, so formuliert es der Nachrichtensprecher.

Das Szenario, das hier 2007 in drei Sondersendungen behandelt wird, ist allerdings fiktiv, die Fernseh-Brennpunkte bekommt nur ein ausgewählter Kreis an Zuschauern zu sehen: Teilnehmer einer »länderübergreifenden Krisenmanagementübung«, kurz »Lükex«, in Auftrag gegeben und organisiert vom BBK in Bonn. Rund 3000 Teilnehmer simulieren eine Pandemie, neben dem Kanzleramt und mehreren Ministerien beteiligen sich sieben Bundesländer, das Bundeskriminalamt, aber auch Unternehmen wie Tengelmann und die Deutsche Telekom. In einer der Sondersendungen sind Menschen mit Schutzmasken in der U-Bahn zu sehen, außerdem Patienten an Beatmungsgeräten. Die Rede ist von Kontrollen an Deutschlands Außengrenzen, außerdem wird eine »zweite Welle« befürchtet, die Deutschland noch heftiger treffen könnte als der erste Ausbruch. Und obwohl vor Menschenansammlungen gewarnt wird, stiegen »die Zahlen der Teilnehmer an regierungskritischen Demonstrationen«, berichtet der Sprecher. Für die breite Öffentlichkeit mögen solche Szenarien damals noch unvorstellbar sein, im BBK stuft man eine Pandemie mit derart einschneidenden Folgen als Fall ein, auf den man sich vorbereiten sollte.

Das Fazit nach der Übung fällt gemischt aus. Die beteiligten Bundesminister geben sich höchst zufrieden, Innenminister Wolfgang Schäuble von der CDU etwa resümiert, die Teilnehmer hätten die simulierte Krise »optimal« bewältigt. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt von der SPD sieht das Land »gut vorbereitet für einen größtmöglichen gesundheitlichen Schutz der Bürger«. Immerhin ist in der offiziellen Auswertung neben viel Selbstlob auch der Hinweis auf »Optimierungsmöglichkeiten im Krisenmanagement« enthalten. Alles gut also?

Einige Teilnehmer bewerten den Verlauf deutlich kritischer. In einer Auswertung des Thüringer Landesinnenministeriums etwa heißt es, die Gefahrenabwehr und der Schutz der Bevölkerung hätten in vielen der geübten Situationen überhaupt nicht funktioniert – was »im Realfall schwerwiegende Folgen nach sich gezogen« hätte. Anders als die positiven Resümees der Bundesebene wird diese Analyse allerdings nicht veröffentlicht, sondern als vertraulich eingestuft.

Auch Wolfgang Wagner, der schon in den Neunzigern vor den Folgen mangelnder Vorräte gewarnt hat, ist an der Lükex beteiligt. Für die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin bilanziert er danach, die Übung habe »essentielle Schwachstellen für die Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in Krisensituationen ganz deutlich gemacht« – an diesem Missstand hat sich auch nach einem Jahrzehnt nichts geändert.

2008, Berlin

Gerold Reichenbach, Jahrgang 1953, ist nicht nur Sozialdemokrat, sondern auch Katastrophenschützer aus Leidenschaft. Seit 1976 engagiert er sich beim Technischen Hilfswerk, wird später für einige Jahre Vorsitzender des Deutschen Komitees für Katastrophenvorsorge und beteiligt sich immer wieder an großen Hilfseinsätzen. Reichenbach hilft 1991 und 1999 nach Erdbeben in Costa Rica und der Türkei, leistet humanitäre Hilfe im Bosnienkrieg, 2000 bei der Flutkatastrophe in Mosambik genauso wie 2002 während der Flutkatastrophe an der Elbe.

Der Katastrophenschutz ist so etwas wie ein Lebensthema des hessischen Politikers, deshalb stößt er während seiner Zeit im Bundestag ein besonderes Projekt an. Gemeinsam mit drei weiteren Abgeordneten von CDU, FDP und Grünen gibt er 2008 ein Grünbuch mit dem Titel »Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland« heraus.

»Der Hintergrund war, dass damals alle über Terrorismus diskutiert haben«, erzählt Reichenbach, »das haben die Insider des Katastrophenschutzes aber schon immer etwas schräg gefunden. Was die Auswirkungen angeht, ist Terrorismus ja am Ende überschaubar, er ist vor allem ein politisches Problem. In der Sicherheitspolitik hat die Verengung auf den Terrorismus dazu geführt, dass die wichtigsten Risiken aus der Debatte verdrängt wurden.«

Das Grünbuch widmet sich zwei dieser Risiken: dem Szenario »Stromausfall in Deutschland« – und, von Seite 32 an, dem Schlüsselszenario »Seuchengeschehen in Deutschland«. In Fachkreisen, so erzählt es Reichenbach, gilt eine Pandemie schon 2008 als Katastrophe, die jederzeit eintreten kann. Im Februar 2008 gibt er in einer Bundestagsdebatte zu Protokoll: »Die Bedrohung ist real. Unter Fachleuten ist es keine Frage mehr, ob eine Pandemie kommt, sondern nur wann.« Und er warnt, dass sich der Föderalismus im Ernstfall selbst blockieren könnte: »Die bestehende Aufgabenteilung zwischen Zivilschutz als Bundesaufgabe und Katastrophenschutz als reine Länderaufgabe ist historisch überholt. Sie ist zur Bewältigung dieser neuen Bedrohungen ungeeignet.«

Im Grünbuch geht es dann um eine Variante des SARS-Virus, die leicht von Mensch zu Mensch übertragbar wäre. »Die Folge wäre eine massive Ausbreitung der Krankheit mit Patientenzahlen, wie man sie für eine Influenza-Pandemie annimmt – aber mit einer zehn bis hundert Mal höheren Letalität«, heißt es darin. Notwendig, so die Autoren, wären harte Gegenmaßnahmen: »Zum Beispiel die Seuchengebiete abriegeln, die Ansteckungsrate durch Mund-Nasen-Schutz mindern, Desinfektionsschleusen errichten, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in der Bevölkerung durchsetzen.«

Verantwortlich für das Kapitel über die Epidemie ist ein gewisser Lothar Wieler, Professor für Mikrobiologie und Tierseuchenlehre an der Freien Universität Berlin. Er wird einige Jahre später, 2015, Präsident des Robert Koch-Instituts, der zentralen deutschen Behörde zur Überwachung von Infektionskrankheiten.

»Wir haben das Grünbuch im Herbst vorgestellt, und es hat erst mal ziemlich ordentliche Beachtung gefunden«, sagt Gerold Reichenbach. Dann bricht im September 2008 die US-Investmentbank Lehman Brothers zusammen, und es folgt die Weltfinanzkrise, die zu einer Wirtschaftskrise wird. »Da ist das Risiko einer Pandemie dann untergegangen. Das hat keinen mehr interessiert.«

Ende 2012 wird sich die Bundestagsdrucksache 17/12051 einem ähnlichen Szenario widmen. Im »Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012« werden ebenfalls hypothetische Katastrophenszenarien durchgespielt, es geht um »Extremes Schmelzhochwasser aus den Mittelgebirgen« – und um eine mögliche »Pandemie durch Virus Modi-SARS«. Federführend für die Analyse ist das Robert Koch-Institut, beteiligt sind diverse Bundesbehörden, darunter das BBK aus Bonn.

»Das Szenario«, heißt es in der Bundestagsdrucksache, »beschreibt eine von Asien ausgehende, weltweite Verbreitung eines hypothetischen neuen Virus, welches den Namen Modi-SARS-Virus erhält.« Das Virus breitet sich rasch aus. Zum Höhepunkt der ersten Erkrankungswelle nach ca. 300 Tagen sind ca. 6 Millionen Menschen in Deutschland an Modi-SARS erkrankt. Der ersten Welle »folgen zwei weitere, schwächere Wellen, bis drei Jahre nach dem Auftreten der ersten Erkrankungen ein Impfstoff verfügbar ist«. Doch trotz der sehr konkreten Beschreibung folgt aus der düsteren Prognose schon wieder nichts.

Aber wer, fragt Gerold Reichenbach, wolle der Politik das vorwerfen? Als sich 2009 und 2010 die Schweinegrippe in Deutschland auszubreiten drohte, habe die Politik schnell reagiert, Vorräte mit Masken und Schutzkleidung und einen Impfstoff bereitgestellt. »Und dann verlief das Ganze ziemlich harmlos, was dazu führte, dass es heftige Schelte gab: Die Bundesregierung, so haben das einige verbreitet, sei nur auf die Pharmaindustrie hereingefallen. Danach war die Lust, so etwas noch mal zu erleben, verständlicherweise nicht mehr ganz so groß.«

August 2016, Berlin

Thomas de Maizière hat in seiner politischen Karriere einiges an Häme hinnehmen müssen. Das lag auch daran, dass er den Habitus des preußischen Staatsdieners zuweilen etwas demonstrativ vor sich hertrug. Wenn dann ausgerechnet ihm, dem hochdisziplinierten Streber, politische Fehlleistungen unterliefen, forderte das den Spott geradezu heraus – etwa 2013, als dem damaligen Verteidigungsminister ausgerechnet im Wahljahr das Millionendebakel um die gescheiterte Aufklärungsdrohne »Euro Hawk« um die Ohren flog. Drei Jahre später ist de Maizière Bundesinnenminister, und wieder gibt es Häme. Diesmal ist der Anlass allerdings deutlich kleiner.

Im August stellt de Maizière ein 70-seitiges Konzept zur Zivilverteidigung vor. Er warnt vor Attacken auf das deutsche Stromnetz und ruft die Bürger auf, für einen solchen Notfall Vorräte anzulegen: genügend Wasser für fünf Tage, zwei Liter pro Person und Tag, außerdem Lebensmittel für zehn Tage. Die Opposition bezichtigt den Minister der Panikmache: Er rufe, vollkommen unnötigerweise, zu Hamsterkäufen auf.

»Dieses Echo war frustrierend«, erzählt de Maizière heute. »Ich frage mich, wie der Widerspruch zu erklären ist, dass die Leute privat finanziell wahnsinnig viel vorsorgen und sich gegen die Folgen von allen möglichen Risiken umfangreich absichern, aber dann kein Verständnis dafür haben, wenn die Gesellschaft das zum Beispiel im Bereich des Katastrophenschutzes macht.« Zumal der Minister mit seinem Konzept einer Empfehlung des Bundesrechnungshofs folgt – der hat 2013 angemahnt, dass es kein Gesamtkonzept für den Schutz der Bevölkerung gebe und »der Zivilschutz in der Planung des Bundesinnenministeriums tatsächlich keine Rolle mehr spielt«. De Maizière schickt seine Leute an die Arbeit. Das Ergebnis: Er wird ausgelacht.

So sei das eben, sagt er, als Politiker habe man in solchen Situationen ohnehin meist verloren. »Passiert etwas, wird gefragt: Wieso habt ihr nicht bevorratet?« Und wenn nichts passiere? »Dann heißt es nur: Wie kann man so bekloppt sein und Sachen bevorraten, die man nicht braucht.«

Der Christdemokrat de Maizière klingt da genauso desillusioniert wie der Sozialdemokrat Reichenbach.

Und auch 2016 passiert: nichts.

2
Weit weg

Ein Fischhändler fühlt sich krank. Ein Ärztefunktionär bekommt einen Anruf von seiner Frau. Der Gesundheitsminister dreht ein Video im Schnee. Und Christian Drosten wirkt entspannt.

20. Dezember 2019, Wuhan

Der Fischhändler Chen Qingbo ist 42 Jahre alt und ein kräftiger Mann. Er steht, so kann man das sagen, im Zenit seines Lebens, und er betreibt einen Stand auf dem Huanan-Großmarkt im Zentrum der zentralchinesischen Stadt Wuhan, elf Millionen Einwohner. Wie jeden Morgen steht er an diesem Tag seit fünf Uhr früh an seinem Stand, aber etwas ist anders als sonst. Etwas stimmt nicht.

Chen geht es nicht gut, gegen Mittag fühlt er sich so matt, dass er zum Arzt geht. Der verschreibt ihm eine Infusion. Ein paar Tage schleppt Chen sich noch zur Arbeit, doch am 26. Dezember hat er so hohes Fieber, dass er ins Zentralkrankenhaus von Wuhan eingeliefert wird. Die Sache ist offenbar ernst.

Auf dem Huanan-Markt wird nicht nur Fisch verkauft. An dunklen, schlecht belüfteten Ständen wird auch Krokodilfleisch angeboten, Schlangenfleisch und Igelfleisch, selbst sogenannte Schleichkatzen gibt es, sie gelten als Überträger jenes SARS-Virus, das 2002 in Südchina ausbrach. Er selbst, so wird es Chen Wochen später berichten, habe stets einen weiten Bogen um die Wildtierstände gemacht.

Doch irgendwo auf dem Huanan-Markt muss er sich mit etwas infiziert haben. Nur womit?

Zehn Tage, nachdem er erste Symptome gezeigt hat, kämpft Chen mit dem Tod. Sein Fieber steigt auf fast 40 Grad, die Ärzte im Zentralkrankenhaus diagnostizieren eine schwere Lungenentzündung. Deren Herkunft können sie sich allerdings nicht erklären. Bevor sie Chen auf die Intensivstation eines Spezialkrankenhauses überweisen, entnehmen sie ihm eine Gewebeprobe, die sie in ein Labor nach Shanghai schicken. Das Rätsel muss gelöst werden, möglichst schnell.

Zwei Ärzte des Zentralkrankenhauses warnen ihre Abteilungen: Am Huanan-Markt seien sieben SARS-Infektionen aufgetreten, schreibt der Augenarzt Li Wenliang über Social Media an seine Kollegen. Kurz darauf korrigiert er sich: Der Subtyp des Erregers werde noch ermittelt, aber es stehe fest, dass es sich um ein Coronavirus handle. Die chinesische Öffentlichkeit erfährt davon nichts. Die Weltöffentlichkeit erst mal auch nicht.

31. Dezember 2019, Peking

Das Landesbüro der Weltgesundheitsorganisation in der Volksrepublik China wird über eine Häufung von Patienten mit einer Lungenkrankheit unbekannter Ursache in Wuhan informiert, die WHO-Mitarbeiter machen die Nachricht öffentlich.

Die Deutsche Presseagentur schreibt von einer »mysteriösen Lungenkrankheit«, staatliche Stellen hätten dementiert, dass es sich um einen neuen Ausbruch der berüchtigten SARS-Krankheit handelt: »Andere schwere Lungenentzündungen sind eher wahrscheinlich.«

Wahrgenommen wird die Meldung kaum.

31. Dezember 2019, Berlin

Am Silvesterabend gegen 18 Uhr fährt Victor Corman ins Institut für Virologie der Berliner Charité. Der Direktor des Instituts heißt Christian Drosten, Corman hat 2014 bei ihm promoviert. Mittlerweile leitet er am Institut eine Arbeitsgruppe zum Thema »Klinische Virologie und Evolution zoonotischer Viren«, außerdem verantwortet er zusammen mit Drosten das Nationale Konsiliarlaboratorium für Coronaviren. Coronaviren wurden erstmals Mitte der sechziger Jahre identifiziert. Ab 2002 lösten solche Viren eine weltweite SARS-Pandemie aus. Corman hat es eilig an diesem Silvesterabend, es geht um einen Notfall.

Bei einem Patienten besteht der Verdacht, er könnte am sogenannten Middle East Respiratory Syndrome, kurz MERS, erkrankt sein, einer ebenfalls durch ein Coronavirus ausgelösten schweren Atemwegserkrankung mit hoher Sterblichkeitsrate. Corman will die Rachenabstrich-Probe des Patienten auf das MERS-Coronavirus testen, so schnell es geht. Während die Analyse läuft, so erzählt er es später, surft er im Internet. Er sucht nach Neuigkeiten über die »mysteriöse Lungenkrankheit« aus Wuhan, von der er gehört hat. »Ich habe mir gedacht, das könnte ja vielleicht auch ein Coronavirus sein«, erzählt Corman. »Und dann habe ich noch in der Silvesternacht alles dafür vorbereitet, dass wir ganz schnell einen Test entwickeln können, sobald die Genomsequenz des neuartigen Virus bekannt ist.«

4. Januar 2020, Frankfurt/Peking

Als Flug LH720 nach Peking planmäßig um 17.10 Uhr in Frankfurt startet, sind die mächtigsten Funktionäre des deutschen Gesundheitswesens an Bord: der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Präsident der Bundesärztekammer und die Chefs der großen deutschen Krankenversicherungen.

Auch aus dem Bundesgesundheitsministerium ist jemand zur Reisegruppe gestoßen, Jens Spahns Abteilungsleiter, der für die Digitalisierung im Gesundheitswesen zuständig ist. Das Thema steht seit Jahren ganz oben auf der politischen Prioritätenliste, ist aber bislang nicht recht vorangekommen. Was den Fortschritt der Digitalisierung angeht, ist das deutsche Gesundheitswesen gerade über die Jungsteinzeit hinaus. Das soll sich jetzt ändern, darum geht es bei dieser Bildungsreise, China preist sich hier international gern als Vorbild.

Nach der Ankunft geht es für die Delegation aus Deutschland laut Programm mit einem Mittagessen im Restaurant Peking-Ente los, dann weiter in die Verbotene Stadt, klassische Touristenaktivitäten. Es folgt der fachliche Teil: Die Experten lassen sich modernes Krankenhaus- und Datenmanagement erklären, besichtigen einen Wissenschafts- und Technologiepark, später werden sie weiterreisen, nach Shanghai, nach Shenzhen. Es gibt viel zu sehen und viel zu besprechen: Ärztemangel, die Vorzüge der Telemedizin. Worüber nicht gesprochen wird, jedenfalls nicht in der großen Gruppe: die rätselhafte Lungenkrankheit aus Wuhan. Unter den wichtigsten deutschen Gesundheitsexperten ist das in diesen Tagen Anfang Januar kein Thema.

Doch Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, bekommt noch in Peking einen Anruf auf seinem Handy. Seine Frau ist dran, sie klingt besorgt. Ob alles in Ordnung sei, will sie wissen. In Deutschland sei in den Nachrichten von einer neuartigen Lungenerkrankung die Rede, die sich in China ausbreite, Fernsehsender hätten darüber berichtet.

Gassen wundert sich, ihm ist nichts aufgefallen. Auf den Straßen tragen viele Einheimische Masken, aber das ist in Asien nicht ungewöhnlich. Und von den chinesischen Gesprächspartnern erwähnt keiner eine Krankheit. Alles wirkt normal. Gassen vertieft sich wieder in die Feinheiten der Digitalisierung.

5. Januar 2020, Bonn

Im Posteingang des BBK, des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, kommt ein »Event Update« der Weltgesundheitsorganisation an. Am 31. Dezember, heißt es, seien in Wuhan mehrere Fälle einer Lungenentzündung gemeldet worden, die Ursache sei unbekannt. Einige der Patienten seien Händler oder Verkäufer auf dem »Huanan Seafood Market«. Der Markt sei am 1. Januar geschlossen worden.

Einige Kranke hätten Schwierigkeiten zu atmen, so steht es in der WHO-Meldung unter dem Stichwort »Details«, auf Röntgenbildern seien Gewebsveränderungen in der Lunge zu erkennen. Bislang gebe es keine eindeutigen Belege für eine Übertragung von Mensch zu Mensch, vom medizinischen Personal habe sich bislang niemand infiziert. Trotzdem scheinen die WHO-Experten unsicher zu sein, wie sie die Lage einschätzen sollen: Einerseits, heißt es in ihrem kurzen Bericht, seien die gemeldeten Symptome typisch für verschiedene Erkrankungen der Atemwege, und Lungenentzündungen seien im Winter nun mal verbreitet. Andererseits gebe es mittlerweile 44 Fälle, die innerhalb kurzer Zeit im Krankenhaus behandelt werden müssten, damit gelte es vorsichtig umzugehen – zumal noch kein Erreger identifiziert sei.

Die WHO rät: Obwohl Ursache und Übertragungsweg der Krankheit noch unbekannt seien, sollte die Bevölkerung an ein paar Grundprinzipien erinnert werden: engen Kontakt zu Menschen vermeiden, die unter Infektionen der Atemwege litten, häufig Hände waschen, Nähe zu Wildtieren meiden. Von Reise- oder Handelsbeschränkungen für China rät die WHO ab.

8. Januar 2020, Berlin

Eine Nachricht des Robert Koch-Instituts, kurz RKI, erreicht das Bundesgesundheitsministerium, Adressat ist das zuständige Fachreferat des Hauses. Der Kern der Information ist zwei Dutzend Zeilen lang, auch hier geht es um China, genauer: um die Häufung von Lungenerkrankungen »unklarer Ursache«. Bis zum 5. Januar, heißt es, seien 59 Patienten registriert worden, sieben befänden sich in einem kritischen Zustand. »Todesfälle wurden nicht berichtet.«

Noch immer sind die Informationen vage, tappen die Forscher im Dunkeln. »Tests auf saisonale und zoonotische Influenzaviren, Adenoviren, SARS und MERS waren negativ.« Auch in dieser Nachricht wird über den Fischmarkt in Wuhan spekuliert, Quelle ist wieder die WHO: Nach deren bisherigen Erkenntnissen könne die Mehrzahl der Fälle mit dem Markt in Zusammenhang stehen.

Schon zwei Tage zuvor hat die Informationsstelle für internationalen Gesundheitsschutz im Robert Koch-Institut eine erste Bewertung abgegeben: »Das Risiko für Deutschland ist zum jetzigen Zeitpunkt als sehr gering einzustufen.« Aber man verfolge das Geschehen weiterhin und stehe in Kontakt mit der WHO. Die Meldung wirkt rätselhaft, ein paar Zahlen, ansonsten nicht viel Konkretes.

Das Robert Koch-Institut ist wichtig für das Gesundheitsministerium, die Forscher des Instituts beraten das Haus in vielen Fragen, außerdem verstehen sie sich als eine Art Frühwarnsystem, wenn irgendwo auf der Welt neue Erreger auftauchen. Was das RKI sagt, ist Gesetz im Gesundheitsressort.

Der Ton der Nachricht aber wirkt alles andere als alarmierend, zudem scheint noch vieles unklar zu sein. Die Beamten von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sehen keinen Grund, in Hektik zu verfallen. China ist weit weg, in Berlin ist Winter, viel größere Sorgen bereitet die alljährliche Grippewelle.

Die ist nicht nur gefährlich, sondern im Alltag auch lästig. In den Toilettenräumen des Ministeriums an der Berliner Friedrichstraße kleben an den Spiegeln bunte Schilder: »Hände verbreiten Viren. Richtig waschen schützt«, steht darauf. Um auch unterwegs geschützt zu sein, hat Jens Spahn bei Autofahrten immer ein Desinfektionsmittel dabei. Krank werden wäre jetzt ganz schlecht, seine Leute haben mal wieder einen neuen, großen Plan: Im Ministerium entsteht eine neue Abteilung, die sich um den Gesundheitsschutz kümmert. Im Februar soll sie mit der Arbeit beginnen.

Es ist nur eines von vielen Themen, die Spahn in den knapp zwei Jahren seiner bisherigen Amtszeit beackert hat. Er kümmert sich um die Pflege, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens, im November hat sein Ministerium gemeldet, dass Spahn in 18 Monaten 18 Gesetze vorgelegt habe. Spahn scheint zufrieden mit sich. Es wirkt, als sei er endlich angekommen in seinem Amt.

Er hätte sich auch andere Ministerien zugetraut, das Verteidigungsressort zum Beispiel, vom Prestige her noch etwas höher angesiedelt. Manche in der CDU hielten es deshalb für eine subtile Gemeinheit der Kanzlerin, dass sie Spahn, einem ihrer schärfsten Kritiker, am Ende der Koalitionsverhandlungen mit der SPD das Gesundheitsressort anbot. Dort kannte er sich zwar aus, doch keiner seiner Vorgänger hatte das Amt nutzen können, um sich über den Kreis der Fachleute hinaus groß zu profilieren – im Gegenteil: Die meisten verhedderten sich in den zahlreichen Fallstricken des deutschen Gesundheitssystems.

Als er Minister wird, hat Spahn den festen Vorsatz, das anders zu machen. Er versucht sich an einem Imagewandel. Er schweigt jetzt, anders als in früheren Jahren, weitgehend zur Parteipolitik, will sich auf die Sacharbeit konzentrieren. Noch gut eineinhalb Jahre bis zur nächsten Bundestagswahl.

9. Januar 2020, Berlin

Am Tag nach der ersten Nachricht ans Gesundheitsministerium veröffentlicht das RKI sein »Epidemiologisches Bulletin Nr. 2/2020«. Zu den Entwicklungen in China gibt es jetzt ein paar Informationen mehr. Die chinesischen Behörden hätten »die vorläufige Bestimmung eines neuartigen Coronavirus bekannt gegeben«, das bei einem Patienten in Wuhan identifiziert worden sei, heißt es. »Nach Angaben der WHO war der Test auf dieses Virus bei 15 der Patienten positiv.«

10. Januar 2020, Shanghai

Die Gewebeprobe des Fischhändlers Chen Qingbo aus Wuhan ist analysiert. Die Experten in Shanghai, die sie untersucht haben, konnten aus der Probe das Genom des Virus isolieren und veröffentlichen nun dessen vollständige Sequenz. Es ist der genetische Bauplan des Erregers, den die Weltgesundheitsorganisation später SARS-CoV-2 nennt.

11. Januar 2020, Berlin

Victor Corman vom Institut für Virologie der Charité, der noch am Silvesterabend begonnen hat, einen Test auf das neuartige Virus vorzubereiten, macht sich sofort an die Arbeit. Am Computer wählt er kurze Erbgutsequenzen des Virus aus, die möglicherweise als Erkennungsmarker für den Test geeignet sein könnten. Mit seinen Kollegen probiert er im Labor aus, ob sie tatsächlich funktionieren. Corman schreibt auf Twitter: »Lab days are happy days!«

11. Januar 2020, Wuhan

In den Krankenhäusern von Wuhan melden sich Dutzende von Hustenden und Fieberkranken. Unter Ärzten besteht kein Zweifel mehr, dass sich in der Stadt ein hochinfektiöses Virus ausbreitet, sie erkennen das an klinischen Befunden und Testergebnissen, die nach und nach aus privaten und staatlichen Laboren eintreffen. Alles spricht dafür, dass es sich um den Ausbruch einer Seuche handelt. Doch das soll offenbar nicht nach außen dringen.

Noch am 5. Januar hatte die Gesundheitsbehörde von Wuhan 59 Fälle gemeldet, an diesem Tag spricht sie nur noch von »41 ursprünglich diagnostizierten Fällen«. Seit dem 3. Januar seien keine neuen Infektionen mehr aufgetreten, es seien keine Mediziner infiziert. Eine Übertragbarkeit des Virus vom Menschen zum Menschen sei nicht auszuschließen, die Wahrscheinlichkeit sei aber sehr gering, wird es ein paar Tage später heißen. Tatsächlich haben sich zu diesem Zeitpunkt bereits Hunderte infiziert, darunter auch klinisches Personal, was die Verbreitung des Virus noch einmal beschleunigt.

Doch die chinesischen Behörden tun zunächst alles, um das wahre Ausmaß der Epidemie geheim zu halten. Das Zentralregister zur Meldung infektiöser Krankheiten wird außer Kraft gesetzt, Labore werden gezwungen, ihre Proben zu vernichten. Der Augenarzt Li Wenliang, der bereits Ende Dezember vor einem Coronavirus warnte, wird von der Polizei verhört und gezwungen, eine Verpflichtungserklärung zu unterschreiben: Ob ihm klar sei, dass er mit der Warnung seiner Kollegen gegen das Gesetz verstoßen habe? Ob er verstehe, dass er bestraft werde, wenn er noch einmal solche Nachrichten verbreite?

»Verstanden«, schreibt Li auf das Formular und bestätigt die Antwort mit seinem Fingerabdruck. Dann kehrt er an die Arbeit zurück. Fünf Tage später infiziert er sich dort selbst mit dem Virus.

14. Januar 2020, Berlin, Bundeskanzleramt

Jeden Dienstag um zehn Uhr kommt im Kanzleramt eine konspirative Runde zusammen. In einem abhörsicheren Raum informieren die Präsidenten der höchsten Sicherheitsbehörden den Chef des Kanzleramts, Helge Braun, und seine für Geheimdienste zuständigen Mitarbeiter. Nachrichtendienstliche Lage, kurz ND-Lage, heißt das Treffen, an dem meist die Präsidenten von Bundesnachrichtendienst (BND), Verfassungsschutz, Militärischem Abschirmdienst und des Bundeskriminalamts teilnehmen. Auch die beamteten Staatssekretäre aus anderen Ressorts sind manchmal dabei, bisweilen auch weitere Gäste wie der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann. Die Inhalte des Briefings sind geheim, Protokolle gibt es nicht.

An diesem Dienstag geht es nicht mehr nur um die Krisengebiete der Welt, um Extremisten oder potenzielle Terroristen in Deutschland. Es geht auch um Corona.

Der BND beschäftigt selbst zwei Virologen in seiner Abteilung, die sich um Phänomene wie Epidemien kümmern. Die Beamten beklagen einerseits, dass die Informationen aus China dürftig sind und den Zahlen nicht immer zu trauen sei. Andererseits habe sich das Land an die formalen Regeln gehalten und die ersten Infektionen zeitnah an die WHO gemeldet. Handfeste Vorwürfe gegen China gibt es also nicht.

Die geheime Runde im Kanzleramt diskutiert auch die Frage, woher das Virus stammt. Die USA verbreiten bald die Theorie, es könne aus einem Labor in Wuhan entwichen sein. Tatsächlich gibt es in der chinesischen Stadt zwei wissenschaftliche Einrichtungen, in denen mit Coronaviren geforscht wird, eines davon ist ein Labor der höchsten Risikostufe. Kann es sein, dass das neuartige Virus tatsächlich versehentlich auf die Straße gelangte?

Die These wird später durch die Meldung einer australischen Tageszeitung befeuert, wonach ein gemeinsames Papier von fünf Geheimdiensten aus den USA, Großbritannien, Australien, Kanada und Neuseeland genau dies behaupte. Der BND wird den Chef des Bundeskanzleramts beruhigen können: Ein solches Papier der sogenannten Five Eyes sei nicht bekannt. Und für die These, das Virus stamme aus dem Labor, lägen keine Erkenntnisse vor.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann informiert der BND jeden Tag die Kanzlerin und ihren Kanzleramtschef in seinen aktuellen Lageberichten über Corona. Das Virus wird nach und nach auch eine Frage der äußeren und inneren Sicherheit.

15. Januar 2020, Berlin, Charité

Die Wissenschaftler der Charité haben es geschafft: Ihr Test ist fertig. Daraufhin bricht bei den Virologen der Ausnahmezustand aus, die drei Telefone des Konsiliarlaboratoriums stehen nicht mehr still. »Morgens, wenn wir kamen, klingelten sie schon, und spätabends, wenn wir gingen, klingelten sie immer noch«, so erzählt es Victor Corman später. Labore, Notaufnahmen, Hausärzte, Gesundheitsämter, Patienten, sie alle haben Fragen.

Welche Labore in Deutschland testen schon? Muss man für den Test einen Nasen- oder Rachenabstrich machen? Ich huste, soll ich mich testen lassen? Immer wieder erklärt Corman geduldig, was zu beachten ist. Und er beruhigt die Leiter von Gesundheitsämtern, die nichts mehr fürchten, als dass ein Test in ihrem Zuständigkeitsbereich positiv ausfallen könnte. Noch ist kein Fall einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus in Deutschland bekannt, noch hat die neue Krankheit nicht einmal einen offiziellen Namen. Corman und seine Kollegen nennen sie vorerst »WURS«, »Wuhan Respiratory Syndrome«.

Labore aus der ganzen Welt können jetzt übers Internet im Institut für Virologie der Charité kurze Stücke des Virus-Erbguts bestellen, die als sogenannte Positivkontrollen für den Test dienen. In den kommenden Wochen packen Corman und seine Kollegen Hunderte Päckchen, füllen Zollformulare aus und schicken die Virus-RNA-Schnipsel an Labore in über 60 Ländern, damit die Kollegen weltweit anfangen können, auf das neuartige Coronavirus zu testen.

19. Januar 2020, Wuhan

Der Vertreter einer von der Regierung nach Wuhan entsandten Expertengruppe, Wang Guangfa, erklärt vor Journalisten, das neue Coronavirus sei »nicht sehr ansteckend«, das Risiko einer Übertragung von Mensch zu Mensch »gering«. Die Krankheit lasse sich »verhüten und beherrschen«.

20. Januar 2020, Genf