AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.

§

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.

§

Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.

§

Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.

§

Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.

UBIQUE TERRARUM

(ÜBERALL IN DER WELT)

LIMITED COMPANY

GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG

WWW.UBIQUE-TERRARUM.NET

EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND
NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART

EHRENPRÄSIDENT

LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.

GENERALDIREKTOR

ARTHUR MILLER

CHEFEXPEDITIONSLEITER

STEPHAN SLANTON, V.C.

EXPEDITIONSFORSCHER

DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST

EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR E N MÉDECINE

GASTON DE MONTFORT

COMTE DE DARIFANT-CROY

EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS

UND IHRE MANNSCHAFT

PATRICK CROMBY aus Irland

CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich

TSCHANDRU-SINGH aus Indien

Weitere Informationen

über HERBERT KRANZ und

die UBIQUE-TERRARUM-SERIE

finden Sie im Internet unter

www.herbert-kranz.de

www.ubique-terrarum.de

ISBN: 978-3-7392-7876-6

1. Auflage 2008

Alle Rechte vorbehalten

©2008 Kranz

Herausgeber:

Georg Kranz, Born/Darß

Einband:

Willy Kretzer

Textdigitalisierung:

Angelika Schmitz

Überarbeitung der Wort- und Sacherklärungen:

Georg Kranz, Born/Darß

Satz und Layout:

voigt&kranz GbR, Ostseebad Prerow

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

INHALT

Sie warten auf eine Audienz

„Hatten noch nie eine so einfache Sache zu erledigen“, sagte der Chef und zog befriedigt an seiner geliebten Pfeife. „Heute Abschiedsaudienz. Übermorgen Singapur. Mittwoch London.“

Einfache Bemerkungen, nicht wahr? Aber in dem Ton der unverfänglich scheinenden Worte lag etwas Angriffslustiges. Doch der Mann, dem das galt, rührte sich nicht: schweigend sah GG auf die geschweiften und die in gekrümmten Spitzen auslaufenden Golddächer des Palastes, die eine weiße Mauer überragten. Wie für die Ewigkeit war sie gebaut.

Der Graf fühlte sich bemüßigt, die angeschlagene Melodie weiter auszubauen. „Wenn man bedenkt“, sagte er, „was wir für Kunststücke bei den Eishai-Jägern liefern mussten oder auf der schauerlichen Bagno-Insel oder in den Deadlands von Arizona oder bei den doch recht unangenehmen Schakaräh im Sertão oder in Kafiristan, dann hätte man Seiner Hoheit, dem Radscha von Gandor, doch nahelegen sollen, er möchte sich mit seinen Wünschen nicht an die Company ‚Ubique Terrarum’ wenden, sondern an ein x-beliebiges Reisebüro!“

‚Die Mauer ist so hoch und so glatt gefügt’, dachte GG, ‚dass man sie nicht übersteigen kann. Nur durch die großen Tore und die kleinen Pforten kommt man in den Palastbezirk – und die sind natürlich Tag und Nacht bewacht.’

Den Chef ärgerte sein Schweigen. Jedoch war er kein Hitzkopf. Erst nachdem er mit gehörigen Pausen drei genussreiche Züge aus seiner Pfeife getan hatte, ging er zu stärkerem Kaliber über.

„Alles war kindlich einfach“, sagte er. „Reisen flussaufwärts. Bequeme Hausboote. Dann eine Woche lang zu Fuß durch Dschungel. Moskitos. Na ja, Dschungelführer bringen uns genau dahin, wohin wir sollen. Sehen da Goldwäschern bei der Arbeit zu. GG stellt fest, dass sie dabei wegwerfen, was wertvoller ist als ihr ganzes Gold. Machen kehrt. Zu Fuß durch den Dschungel. In Hausbooten faul flussabwärts. Abschiedsaudienz. Überhaupt nichts dabei!“

‚Ob man in Ernstfall die Wächter bestechen kann?’ überlegte GG.

Jetzt aber hatte der Chef genug. GGs Schweigen kam ihm geradezu hinterhältig vor. Er entschied sich für den offenen Angriff. „Sagen Sie, GG, warum haben sie eigentlich so überaus sorgfältig verborgen, dass Sie Malaiisch können? Warum haben wir uns stets und ständig mit diesen langweiligen Dolmetschern abgeben müssen? Offen bemerkt: sehe den Grund nicht ein. Überflüssige Vorsicht, finde ich. Kommt mir lächerlich vor. Alles ganz einfach, scheint mir.“

„Geben Sie zu, mein lieber GG“, sagte der Graf, „der Chef hat Recht! Ihre Vorsicht war unnötig. Unsere sogenannte Expedition war ein Spaziergang. Immerhin, ein Spaziergang durch den tropischen Dschungel, der eigentlich für Spaziergänger nicht eingerichtet ist, aber von irgendwelchen Gefahren habe ich nichts bemerken können!“

„Am Hof eines malaiischen Fürsten ist es gefährlicher als im Dschungel“, sagte GG, „und wir sind noch nicht auf der Heimreise!“

„Übermorgen Singapur, Mittwoch London“, knurrte der Chef.

Die drei Männer, die so miteinander diskutierten, saßen in einem der Gästehäuser des Radscha von Gandor, der über einen der kleineren Staaten von Malaya herrschte. Die Bungalows lagen unter mächtigen, bis an die dreißig Meter hohen Kokospalmen vor der Mauer, die den Palastbezirk umschloss. Nur an der sonnengebräunten Haut sah man den Europäern noch ihre Expedition an – die Buschhemden und kurzen Hosen, die sie auf ihrer Reise zu den Goldwäschern im Innern des Landes getragen hatten, waren verschwunden; statt dessen hatten sie weiße Tropensmokings angezogen und sich überhaupt aufs Beste hergerichtet, denn sie warteten darauf, zur Audienz beim Radscha geführt zu werden. Sie hatten ihm das Ergebnis ihrer Erkundungen noch mitzuteilen, ehe sie sich auf die Heimreise begeben konnten. Nein, auf die Rückreise, nicht auf die Heimreise, denn hatten dieser Engländer, dieser Franzose, dieser Deutsche überhaupt ein Heim? Sie zogen von Erdteil zu Erdteil, in den eisigen Norden wie in den heißen Süden, wohin sie die Londoner Company „Ubique Terrarum“ schickte, in deren Dienst sie standen. Sie waren deren bestes Team und wurden da eingesetzt, wo die schwierigsten Aufgaben zu lösen waren. Sie rieben sich aneinander, sie zogen einander auf, und sie ließen sich das Spiel mit ihren menschlichen Schwächen gefallen, weil sie immer wieder erfahren hatten, dass sie sich aufeinander verlassen und zusammen leisten konnten, was der einzelne allein nicht hätte schaffen können.

Schweigend saßen sie jetzt da: Stephen Slanton, der hagere, zähe Engländer, der nie bei seinem Namen, sondern immer nur Chef genannt wurde, weil er, wenn gehandelt werden musste, die innere Überlegenheit und die tatkräftige Entschlossenheit an den Tag legte, die der Führer eines Unternehmens besitzen muss. Neben ihm der feine, fast zart wirkende Franzose, der ein ausgezeichneter Arzt war, von dem sie aber nur als „dem Grafen“ sprachen, nicht weil er als Nachfahr eines uralten Geschlechts darauf Anspruch hatte, sondern weil er sich in seiner Erscheinung wie in seinem Wesen als echter Edelmann erwies. Und als dritter der Deutsche Dr. Peter Geist, den sie mit Hochachtung und Spott den „Großen Geist“ nannten, im ständigen Gebrauch zu GG abgeschliffen, der so beängstigend viel wusste und sich so viele Gedanken machte, zu viele, wie der Chef eben behauptet hatte.

Dass der Bote aus dem Palast, den sie erwarteten, schon gekommen war, hatten sie nicht hören können, denn der malaiische Diener ging barfuß, weshalb seine Schritte lautlos waren. Aber jetzt hörten sie Stimmen. Jemand sprach mit ihren Begleitern, die sich in dem Vorraum des Hauses aufhielten. Der Vorhang aus Rohrgeflecht und Glasperlen, der die beiden Zimmer voneinander trennte, wurde auseinander geschoben. Ein Malaie, von dessen dunklem Gesicht sich ein weißer Turban scharf abhob, trat ein, legte die Hand auf die Brust, verneigte sich und sprach auf malaiisch: „Friede bleibe bei euch!“ Dann fuhr er in gräulichem Pidgin-Englisch fort: „Tuan flink flink in Palast kommen, bitte sehr. Befehl des Radscha!“

Neunauge wird wieder enttäuscht

Sechs Augen sahen ihnen nach und beobachteten genau, was draußen geschah.

Der Palastdiener war nicht allein geblieben. Vor dem Gästehaus hatten sich zwölf mit Speeren bewaffnete Wächter eingefunden, die sich anschickten, den drei Weißen zu folgen. Es war nicht recht deutlich, ob sie als eine Art Ehrengarde oder als Bewachung gedacht waren. Zu ihrem Erstaunen sahen die drei, die aus dem Gästehaus blickten, dass zwei von den Palastwächtern zurückblieben und sich vor dem Eingang als Posten aufpflanzten.

„Was soll denn das heißen?!“ zankte der Expeditionskoch Cyprian Bombardon, dessen besondere Aufgabe es war, den Grafen zu betreuen. Der hitzköpfige Südfranzose, der aus Marseille stammte, führte den Spitznahmen „Neunauge“, weil er lange Zeit den Plan gehabt hatte, in Paris ein kleines Restaurant „Zum Vergnügten Neunauge“ aufzumachen. Inzwischen hatte er sich aber zu sehr viel weitergehenden Plänen entschlossen.

Das Vollmondgesicht des Iren Patrick Cromby, den sie Plumpudding getauft hatten, sah besorgt den Männern nach, für die sich das große Gittertor in der Palastmauer geöffnet hatte. Eben schloss es sich wieder, und obwohl daran doch eigentlich nichts Besonderes war, gefiel ihm das gar nicht. „Sie werden die Herren doch nicht etwa gefangen setzen?“ sagte er, sichtlich in Unruhe. Er war der Assistent des Chefs, und ein treuerer Gefährte war auf dieser Erde nicht zu finden.

Der dritte war ein junger Inder, der sich den Namen Tschandru-Singh gegeben hatte. Als Knabe war er von den weißen Sahibs mit auf die Expedition nach Kafiristan genommen worden. Er hatte ihnen große Dienste leisten können, ja um ein Haar hätte er für sie sein Leben gelassen. Aber er hätte es gern für sie hingegeben, für den Sahib GG vor allem, der in seiner Muttersprache zu ihm reden konnte und den er liebte. Was die weißen Sahibs für ihn getan hatten, war für ihn mit dem Verstand gar nicht zu fassen. Obwohl er zur Kaste der Unberührbaren gehörte und damit für immer zu einem elenden Leben bestimmt schien, waren die Sahibs mit ihm wie mit ihresgleichen umgegangen, und als sie Indien verließen, hatte Sahib GG dafür gesorgt, dass seine Mutter und er in einer Kolonie von Weißen aufgenommen wurden, wo die Last der Unberührbarkeit nicht auf ihnen lag, wo er Lesen und Schreiben und Englisch lernte. Jetzt, als die Sahibs die Expedition nach Malaya unternahmen, hatten sie ihn wieder geholt, und für ihn, der mittlerweile ein junger Mensch von 19 Jahren geworden war, gab es nichts Beglückenderes, als mit ihnen zu leben und für sie zu tun, was ihm nur möglich war.

Tschandru-Singh betrachtete die beiden dunkelhäutigen Männer, die den Eingang zum Gästehaus bewachten. Jeder hielt einen der langen Speere in der Hand, mit denen die Palastwache ausgerüstet war, und im Gürtel hatte jeder einen krummen Keris, den gefährlichen malaiischen Dolch. Ihre Turbane waren von hellem Blau. „Das sind keine Malaien von Gandor“, sagte der Inder. „Das sind Batak von Sumatra.“

Er hatte Englisch gesprochen, und Neunauge verstand nur Französisch. Aber das Wort „Batak“ hatte er sofort aufgenommen, und er war wie elektrisiert. „Batak?!“ wiederholte er und machte eine Handbewegung, als ob er sich mit der flachen Hand die Kehle durchschnitte.

„Ja“, antwortete Tschandru-Singh, „Kopfjäger!“

Neunauge war Feuer und Flamme. Er träumte ja nicht mehr von einem kleinen Restaurant, das er in Paris einrichten wollte, nein, er baute in Gedanken an einem riesigen Prachtbau mit so vielen Sälen, wie es auf der Erde fremde Länder gab. In jedem sollte man die Gerichte dieser Länder bekommen können, in jedem sollte die Bedienung die Tracht des betreffenden Landes tragen, und jeder sollte im charakteristischen Stil des Landes eingerichtet sein. Für den Indonesischen Saal nun hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. In Indonesien waren doch ehedem die Kopfjäger zu Hause, die Koppensnellers, wie die Holländer sagten. Die Wilden suchten den Menschen, die sie überfielen, nicht nur die Köpfe abzuschneiden, sondern pflegten auch noch die Kunst, diese Menschenköpfe in einer geheimnisvollen Weise zu präparieren. Neunauge war sich darüber klar, dass der Anblick dieser ungewöhnlichen Siegeszeichen, die noch in die Urzeit der Menschengeschichte hinabreichten, starke Nerven erforderte. Trotzdem war er von dem Gedanken besessen, sie für die Ausschmückung seines Indonesischen Salons zu erwerben. Bei ihrer Unternehmung ins Innere des Landes hatte er keinen anderen Gedanken gehabt, als solche Beutestücke aufzutreiben, aber alles war vergeblich gewesen. Jetzt stellte ihm das Schicksal zwei Kopfjäger unmittelbar vor die Tür!

Schon war er bei den Kriegern, die an der untersten Stufe der hohen Treppe Wache hielten. Wie die meisten malaiischen Häuser war auch das Gästehaus auf Pfählen errichtet, so dass die Räume des eingeschossigen Hauses einige Meter über dem Erdboden lagen. Er bot jedem eine Zigarette an. Sie nahmen die Gabe, aber als er ein Streichholz ansteckte, wehrten sie ab. Sie kauten den Tabak lieber so.

„Ganz wie Sie wünschen, meine Herren“, sagte Neunauge. Er sprach so unbefangen mit ihnen, als könnten sie sein Französisch verstehen. „So viele Mäuler, so viele Geschmäcker.“ Aber nun, wo es an sein eigentliches Anliegen ging, musste er die Zeichensprache zu Hilfe nehmen. Dabei aber war er in seinem Element. Zusammengeduckt machte er ein paar Schritte und bemühte sich, einem Kater möglichst ähnlich zu werden, der eine Maus fangen will. Plötzlich richtete er sich auf, stieß einen schrillen Laut aus und wechselte die Rolle: jetzt war er nicht mehr der Kopfjäger, sondern zugleich auch dessen Opfer. Mit der flachen Hand fuhr er sich an die Kehle – das war das Messer des Kopfjägers -, und dazu röchelte er – das war der Todeslaut des bedauernswerten Opfers.

Die beiden Wächter hatten sehr interessiert zugeschaut. Sie hatten offenbar genau verstanden, worum es sich bei der kleinen Privatvorstellung handelte, die Neunauge ihnen gab, aber sie waren damit nicht zufrieden. Der eine nämlich zog seinen Keris aus dem Gürtel und legte dessen Schneide seinem Kameraden behutsam an den Nacken.

„Aha“, sagte Neunauge, „nicht von vorn macht ihr das, sondern von hinten! Das ist auch wieder Geschmacksache!“ Er war glücklich, dass sie ihn begriffen hatten. Nun formte er mit den Händen in der Luft ein kugelähnliches Gebilde. Unter anderen Umständen hätte das den Eindruck erwecken können, er wolle den beiden Kriegern das Wesen eines Fußballs erklären, aber hier war natürlich ein Menschenkopf gemeint. Dann zog er sein Portemonnaie und hielt den beiden auf der flachen Hand einen malaiischen Dollar hin.

Die zwei Krieger vom Stamme der Batak starrten auf das Geldstück, rührten sich aber weiter nicht.

Neunauge griff noch einmal in sein Portemonnaie, und nun versuchte er die beiden mit zwei weiteren Münzen. Die Augen der dunkelhäutigen Männer schienen größer zu werden, doch sie selbst standen so unbeweglich wie vorher.

„Herrschaften“, sagte Neunauge, „ihr dürft aber auch nicht unbescheiden sein!“ Trotzdem nahm er eine dritte Münze, und nun schüttelte er die Dollars in beiden hohlen Händen, als müsse der Klang des Geldes noch stärker wirken als dessen Anblick. Doch auch damit erzielte er keine sichtbare Wirkung. Er unternahm das Letzte: er ließ die Münzen wieder verschwinden, bewegte aber Daumen und Zeigefinger, als zahle er vor den Männern eine erhebliche Summe von Geldstücken in die Luft.

Nun kam Leben in die beiden starren Gestalten. Sie sahen einander an. Der eine äußerte ein paar Laute ihrer unverständlichen Sprache.

„Jetzt habe ich dich“, sagte Neunauge. „Wann lieferst du mir ein paar Menschenköpfe aus eurer guten Stube?“

„Taubat, taubat!“ sagte der Batak.

Vernichtet ging Neunauge wieder in das Haus. Er konnte kein Malaiisch, aber das Wort kannte er. Er hatte es immer wieder gehört, wenn er sich nach der verlockenden Trophäe erkundigt hatte. „Taubat“ hieß soviel wie „nie wieder“. In dem Wort lag ein reuiger Jammer, etwas getan zu haben, das verboten war. „Das weiß ich auch, ihr Holzköpfe“, so schimpfte er vor sich hin, „dass Kopfabschneiden heute verboten ist. Aber deswegen tut ihr das doch.“

Sie trinken Tschumtschum

Die Palastwächter, die den drei Europäern gefolgt waren, blieben an der Innenseite des Eingangs zurück, nachdem sich die mächtigen handgeschmiedeten Torflügel wieder geschlossen hatten. Der Diener führte die Fremden weiter.

Sie durchschritten den ersten inneren Hof. Der Palast bestand aus vielen eingeschossigen Gebäuden, die durch Mauern miteinander verbunden waren und immer wieder einen Hof umschlossen. Einer glich dem anderen; wer sich hier nicht auskannte, konnte meinen, er irre in einem Labyrinth umher. Jedoch hatte dieser erste Hof ein besonderes Kennzeichen, das ihre Verwunderung schon erregt hatte, als sie vor dem Aufbruch zu ihrer Reise in das Innere des Landes vom Radscha empfangen worden waren. Genau in der Mitte des von weißen Mauern umschlossenen Raumes nämlich erhob sich ein gewaltiger Speer, und vor diesem Hoheitszeichen des Radscha hockte mit untergeschlagenen Beinen ein alter Wächter, der einen schwarzen Turban trug. Unbeweglich saß er auf dem Boden, die Hände ineinandergelegt. Er sah nicht rechts noch links. Er beachtete die Gäste nicht, die an ihm vorübergeführt wurden. So hatte er schon dagesessen, als sie an ihm vor acht Wochen vorbeigekommen waren. Sie hatten den beklemmenden Eindruck, dass dieser alte Mann hier schon seit Jahrzehnten Tag und Nacht vor dem riesigen Speer hocken müsse. Er sah übrigens nicht auf den Speer, sondern blickte auf den Boden.

Jetzt überquerte ein Zug von fünf schlanken, schönen Mädchen den Hof. Dabei war nichts zu höheren, denn die barfüßigen Gestalten schritten lautlos. Die Dienerinnen gingen hintereinander. Die erste trug ein golden schimmerndes Tablett, auf dem eine Tasse stand. Dicht hinter ihr schritt eine zweite, die einen hohen, flachen Schirm aus ineinander geflochtenen Palmzweigen über die erste hielt – höchstwahrscheinlich galt diese Auszeichnung nicht der Trägerin, sondern dem, was sie trug, eben der goldenen Tasse. Die nächsten kamen mit Schüsseln, die sie auf die linke Schulter gesetzt und mit weißen Tüchern verdeckt hatten. Als letzte schritt ein Mädchen, das eine kupferne Teekanne trug.

Der Diener verneigte sich vor dem ersten Mädchen, das unter dem Schirm ging, und als der stille Zug vorüber war, flüsterte er den weißen Herren zu: „Blumen des Radscha. Bringen Radscha Tee.“

„Wieso Blumen?“ fragte der Chef. „Habe keine gesehen.“

„Die Dienerinnen des Radscha heißen seine Blumen“, sagte GG.

„Bezaubernd“, sagte der Graf. „Wenn ich wieder einmal dazu kommen sollte, auf dem Schloss meiner Vorfahren zu wohnen, werde ich der Köchin den Titel ‚Küchenblume’ verleihen. Haben die speerbewaffneten barfüßigen Herren, die uns bis an das Tor brachten, auch so einen eindrucksvollen Namen?“

„Das Malaiische“, erwiderte GG, „ist eine der malerischsten Sprachen unserer Erde. Die Männer der Palastwache heißen ‚die Wölfe des Radscha’.“

„Auf mich machten die Malaien, mit denen wir bis jetzt zu tun hatten“, sagte der Graf, „mehr einen feinen, zarten, geschmeidigen Eindruck. Sie kommen mir keineswegs wölfisch vor.“

„Deswegen hat sich der Radscha echte Wolfsmalaien geholt“, sagte GG. „Die Männer seiner Leibwache kommen aus dem Innern von Sumatra. Sie gehören zu den wildesten Stämmen Indonesiens.“

Der Diener blieb vor einer Tür stehen, öffnete sie und forderte die Gäste mit einer Handbewegung auf, einzutreten. Er selbst blieb draußen und schloss die Tür wieder.

Sie sahen sich in einem großen Raum, in dem wenig stand, der jedoch reich wirkte. Der Boden war mit Fliesen belegt, von denen immer vier sich zu einer stilisierten blauen Lotosblüte zusammenfügten. Niedrige breite Polster liefen um die Wände, die mit kostbaren Batikstoffen behängt waren. Im selben Augenblick, als sie diesen Empfangssaal betreten hatten, war aus einer Tür, die in die inneren Gemächer führte, ein Haushofmeister getreten. Er verneigte sich vor ihnen und bedeutete ihnen wortlos, sich möchten doch auf den Polstern Platz nehmen. Sie taten es, worauf er in die Hände klatsche. Sofort erschienen Diener, die vor jeden der Fremden ein Tischchen stellten. Darauf kamen wieder andere. Sie brachten kleine Schalen mit Früchten, die schon in Stücke zerschnitten waren: Mango- und Papayafrüchte, Bananen, Granatäpfel, die kleinen runden Letschi, die auf der einen Seite grün, auf der anderen rot sind, und milchige Wussua, aromatische Früchte mit süßem, weißem Fleisch, die nie nach Europa kommen, weil sie sofort frisch gegessen werden müssen.

Kaum aber hatte jeder der Gäste ein Stückchen Obst in den Mund gesteckt, als die Diener, die drei Schritt von ihnen entfernt stehengeblieben waren, heranhuschten und die Tischchen samt den Schüsseln wieder wegtrugen.

„Schade“, sagte der Graf, „ich hätte gern noch ein bisschen probiert!“

„Die Schüsselchen hatten nur symbolischen Charakter“, sagte GG. „Sie sollten uns zeigen, dass man uns hier im Hause Wohl will.“

„Möchte mir lieber meine Pfeife anstecken“, sagte der Chef.

„Das tun Sie besser erst, wenn der Radscha sich seine Wasserpfeife bringen lässt“, sagte GG.

Der Haushofmeister, der diese Begrüßungszeremonie überwacht hatte, horchte zu der Tür hin, die nach innen führte. Er machte eine feierliche Gebärde.

„Ich denke, er kündigt das Erscheinen des Radscha an“, sagte der Graf, und sie erhoben sich. Der Haushofmeister hatte die Tür geöffnet, und ein Mann trat ein, der für einen Malaien ungewöhnlich groß war. Er trug einen Sarong, der bis auf die Füße reichte, und eine kurze Jacke, die aus Goldfäden gewebt war. Der Turban, in Weiß, kennzeichnete ihn als Mohammedaner. Im Gürtel trug er einen Dolch, dessen kurzer, dicker Griff aus Elfenbein seitlich geneigt war; die Scheide, in der die Waffe stak, war mit einem breit geschweiften Flügel versehen.

Die Farbe seiner Haut war von einem hellen Kaffeebraun, und die dunklen Augen waren nur ganz wenig schief gestellt. Damit erwies er sich als einer der Malaien, bei denen das kaukasische Element das mongoloide überwiegt. Seine Lippen waren voll, aber nicht wulstig, und seine Nasenwurzel erhob sich kaum über die Augenwinkel. Die Wangenknochen aber traten stark hervor, was ihm etwas Wildes gab, wobei aber wieder auffiel, dass die Hand, die auf dem Dolchgriff ruhte, klein und zart war.

Eine eindrucksvolle Gestalt – aber die Gäste sahen, dass es nicht der Radscha war, der sie nun empfing, sondern Budar Tulang, der Oberste der Leibwache, der „Herr der Wölfe“, wie sein Titel war.

Er forderte sie auf, wieder Platz zu nehmen, und sie setzten sich jetzt da, wo die Wandpolster über Eck zusammenstießen, sie drei auf der einen Seite und der Herr der Wölfe auf der anderen. Er sprach englisch, nicht fließend, sondern nur in kurzen Sätzen, dabei aber gut verständlich. „Seine Hoheit bedauert“, sagte er, „die Tuan heute nicht zu sehen. Seine Hoheit müde. Seine Hoheit schläft.“

‚Das ist natürlich nicht wahr’, dachte GG. ‚Immer wenn die hohen Herren des Ostens jemand nicht empfangen wollen, lassen sie ausrichten, sie schliefen – aber warum will der Radscha uns nicht empfangen?’

Höflich, nein mehr als höflich, ausgesprochen teilnahmsvoll erkundigte sich Budar Tulang, wie es ihnen auf der Reise ergangen sei, ob sie irgendwelche Klagen hätten – und der Chef berichtete ihm, dass alles gut und nach Wunsch gelaufen sei. Der Mann gefiel ihm. Da der Chef sich auch nur immer kurz auszudrücken pflegte, fühlte er Sympathie für diesen Malaien, der keine überflüssigen Worte machte.

Während der Chef und der Herr der Wölfe sich so unterhielten und GG immer noch überlegte, beobachtete der Graf den fremdartigen Mann. Seine Zähne interessierten ihn. Sie waren nämlich an der Vorderseite mit Einlagen aus Gold und Perlmutt versehen, nicht etwa weil sie krank waren, sondern dieser Schmuck verdeckte eine darunter liegende Zaubermedizin, die vor Vergiftung schützen sollte. Nun war der Herr der Wölfe wie alle Malaien, die sich das leisten können, ein eifriger Betelkauer, und durch den Betelsaft hatten die Perlmuttstücke einen ganz besonderen Glanz bekommen.

Jetzt zog der Mann, der hier am Hof nach dem Radscha der Mächtigste war, eine Bambusdose hervor, die mit Betel gefüllt war, den die Malaien Sirih nennen. Er bot seinen Gästen davon an. Sie lehnten dankend ab, und er bediente sich allein. Sie sahen, dass sich auf dem Deckel der Dose ein Menschenzahn befand, und der Herr der Wölfe schloss das Döschen, indem er mit der Faust auf den Deckel und somit auch auf den Zahn schlug. Er bemerkte das Interesse der Fremden und erklärte: „Diesen Zahn hatte Latu Hata im Munde. Latu Hata war ein missgeborener Sohn Satans. Er war Hauptmann der Wölfe. Aber er wollte Herr der Wölfe werden. Er wollte da sitzen, wo ich sitze. Deshalb musste ich ihm den Kopf abschneiden lassen. Jedes Mal, wenn ich die Dose schließe, schlage ich auf Latu Hatas Zahn. Jedes Mal ist mir, als gäbe ich meinem Feinde noch einen Schlag. Das gibt mir ein Gefühl, und das Gefühl ist mir angenehm.“

‚Warum erzählt er uns das?’ fragte sich GG.

„Ja“, sagte der Graf, „wenn nun Latu Hata dem Herrn der Wölfe den Kopf hätte abschneiden können, dann hätte er wahrscheinlich einen der schönen, blitzenden Zähne Budar Tulangs auf seiner Beteldose!“

„So ist es“, erwiderte der Malaie, „es gibt auf der Erde mehr schlechte Menschen als gute. Sie werden ihre Taten bedauern. Der Mond wird sich spalten. Der Engel Idrasil wird die Toten zum Gericht rufen. Als Verdammte werden sie von den Früchten des Höllenbaums essen müssen. Aber noch gehen sie frech und übermütig einher –“, und wie zur Erhärtung seiner These teilte er ihnen das Neueste aus dem Herrschaftsbereich des Radscha mit: der Geheimbund der Tiger rühre sich wieder. „Tigermänner sehr schlechte Männer. Tigermänner wollen Geld. Tigermänner sind Blutegel für reiche Leute. Verlangen Geld. Reicher Mann zahlt nicht. Tigermänner hängen in der Nacht eine Schnur mit Tigerkrallen an seine Tür. Reicher Mann zahlt noch immer nicht. Nach vierzehn Tagen legen ihm Tigermänner in der Nacht einen toten Hund vor die Tür. Reicher Mann zahlt noch immer nicht. Wieder vierzehn Tage: Tigermänner stoßen ihm einen Keris in den Pfosten seiner Tür. Wenn reicher Mann jetzt nicht zahlt, reicher Mann toter Mann. Sehr schlechte Leute, die Tigermänner.“

‚Warum kommt er uns jetzt damit?’ fragte sich GG. Er wurde den Eindruck nicht los, dass alles, was der Herr der Wölfe scheinbar zufällig vorbrachte, wohlüberlegt war.

Gerade wollte der Graf darauf äußern, nicht nur Sprachen und Speisen der verschiedenen Völker seien verschieden, sondern auch ihre Methoden, rasch und ohne große Mühe zu Geld zu kommen, als der Herr der Wölfe das Thema schon wieder wechselte. „Seine Hoheit der Radscha ist sehr froh, dass die Tuan zurück sind. Seine Hoheit der Radscha immer sehr besorgt um das Schicksal der Tuan. Seine Hoheit der Radscha hält sehr viel von den Tuan. Seine Hoheit freut sich darauf, die Tuan morgen zu empfangen. Ich werde Seiner Hoheit berichten, dass die Tuan bei den Goldwäschern waren. Was darf ich Seiner Hoheit noch berichten: lohnt sich die Arbeit der Goldwäscher oder nicht?“

Mit einem Male war GG ganz sicher, dass dieser Mann etwas plante. ‚So wie mir jetzt’, dachte er, ‚muss einem Jagdhund zumute sein, wenn ihm der Wind aus dem Wald plötzlich Wildgeruch zuträgt!’ Aber er zwang sich, gelassen zu scheinen, und er sagte leichthin, als mache er eine durchaus nebensächliche Bemerkung: „Über das Ergebnis unserer Expedition dürfen wir leider nur Seiner Hoheit persönlich berichten. Befehl des Radscha!“

Im Gesicht des Herrn der Wölfe verzog sich keine Miene. „Befehl des Radscha ist heilig“, sagte er, und da sich GG erhob, standen auch seine beiden Kameraden auf.

„Tuan gehen noch nicht, bitte sehr“, sagte Budar Tulang ausgemacht höflich. „Tuan haben gegessen. Tuan haben noch nicht getrunken. Seine Hoheit wäre gekränkt, wenn Tuan unter dem goldenen Dach seines Hauses nicht auch die Lippen benetzt hätten!“ Er klatschte in die Hände und rief dem sofort eingetretenen Haushofmeister auf malaiisch zu: „Den Tschumtschum für die Tuan!“ – und dann sagte er laut und deutlich: „Aber bring den richtigen, den vergifteten!“

GG ließ durch keine einzige Bewegung erkennen, dass er diesen fatalen Befehl verstanden hatte. Er überlegte rasch und scharf. Was sollte das denn heißen? Wenn der Herr der Wölfe sie hier vergiften ließ, dann würde weder der Radscha noch sonst jemand etwas von dem Ergebnis der Expedition erfahren – also wäre es durchaus unzweckmäßig, sie zu beseitigen, ehe sie berichtet hatten, was zu berichten war. Also konnte der Reisschnaps, den die Diener jetzt in einem großen bauchigen Gefäß hereinbrachten, gar nicht vergiftet sein. Warum aber hatte Budar Tulang dann ausdrücklich diese bedrohlichen Worte gebraucht? Indem GG sich das fragte, sah er auch schon die Antwort. Das war nichts als eine Probe, ob von ihnen wirklich keiner Malaiisch verstand, denn wer sich von ihnen weigerte, davon zu genießen, wer die anderen vom Trinken abhielt, der verriet seine Sprachkenntnis.

Sie hatten sich wieder gesetzt, und die Diener hatten jedem der weißen Tuan ein langes Bambusröhrchen überreicht, mit dem sie sich das scharfe Getränk aus dem Gefäß saugen sollten. Aber dem Herrn der Wölfe hatten sie keins gegeben, offenbar wollte der hohe Herr nicht mittrinken. Dem Chef gefiel das nicht. Dieser Mann war ihm doch so sympathisch, deshalb hätte er gern mit ihm zusammen einen Schnaps getrunken. „General“, sagte er, um dem Manne eine Freude zu machen, „hoffe, Sie lassen sich auch so ein Ding bringen!“ Damit schwenkte er sein Bambusröhrchen in der Luft.

Der Herr der Wölfe wehrte höflich, aber bestimmt ab. „Als Mohammedaner trinkt Budar Tulang keinen Alkohol!“ sagte GG, und dann steckten die drei ihre Röhrchen in das Gefäß. Der Graf sog vorsichtig und der Chef kräftig.

GG hätte am liebsten nur so getan, als ob er von dem Getränk etwas zu sich nähme, denn er wusste, was ihnen damit bevorstand. Doch wenn Budar Tulang das merkte, dann konnte er seine Vorsicht anders auslegen, und so tat auch er einen angemessenen Zug.

Ihnen war, als hätten sie flüssiges Feuer getrunken. „Ich glaube“, keuchte der Graf auf Französisch, „diese Delikatesse beziehen die Herren direkt aus der Hölle!“ Er sprach mühsam, Mund und Schlund waren wie ausgebrannt, seine Stimme hatte keinen Klang mehr.

Für Sekunden schien es, als träten dem Chef die Augen aus dem Kopf. Wild blickte er zu GG hinüber. Hätte der ihm nicht ein Zeichen geben können, vorsichtig zu trinken? Hatte GG ihn etwa absichtlich hereingelegt? Denn GG kannte sich doch mit den Sitten und Gebräuchen hier aus! Aber er sah, dass sich GG das helle Wasser aus den Augen wischte. Da fühlte er sich von dem Herrn der Wölfe, dem er großzügig den Titel „General“ zugebilligt hatte, herausgefordert. Die sollten hier erleben, wessen Stephen Slanton fähig war! Er führte sein Röhrchen wieder in das Gefäß und sog zum zweiten Male einen kräftigen Schluck. Dann atmete er tief und sprach „General, das ist ein Feuerwasser für Krieger! Sagen Sie Seiner Hoheit, wäre außerordentlich dankbar, wenn mir so ein Bottich ins Gästehaus hinübergeschickt würde!“

So sprach er mannhaft. Aber das konnte er nicht verhindern, dass seine Stimme dabei dumpf klang, als leide er an einer schweren Bronchitis, und er rasselte noch immer leicht, als sie wieder im Gästehaus saßen und sich zusammen über den Empfang durch den Obersten der Leibwache unterhielten.

„Netter Mann, dieser General der Wölfe“, sagte der Chef, „gefällt mir.“

„Mein lieber Chef“, meinte der Graf, „ich bin eher der Ansicht, mit diesem Herrn ist ebenso wenig gut Kirschen essen wie gut Schnaps trinken.“

„Unsinn, Graf“, sagte der Chef. „Sehen auf einmal auch Gespenster. GG hat sie angesteckt. Der Mann ist geradezu. Die Sache mit dem Zahn ein bisschen stark. Aber macht aus seinem Herzen keine Mördergrube.“

„Lieber Chef“, sagte der Graf, „wie macht man eigentlich aus seinem Herzen eine Mördergrube? Was haben Mörder überhaupt in einer Grube zu tun? Haben sie anderen eine Grube gegraben und sind sie selbst hineingefallen? Schon von klein auf hat mich diese markante Wendung in Unruhe versetzt!“

GG hätte darauf antworten können, aber ihn beschäftigte jetzt etwas anderes mehr als eine Spracherklärung. „Weshalb hat dieser Mann aber, wenn er so geradezu ist, wie Sie meinen, Chef, weshalb hat er dann für uns vergifteten Tschumtschum bestellt?“

„Wie bitte?“ fragte der Graf verblüfft.

Der Chef sah GG an, ohne etwas zu äußern.

„Ich meine“, sagte der Graf, „Sie müssen sich doch näher erklären, GG!“

GG erzählte ihnen, was vorgegangen war, und dann schwiegen seine Zuhörer geraume Zeit. Der Graf sprach als erster wieder. „Mein lieber GG, ich bin überzeugt, Sie haben richtig gehandelt. Aber offen gestanden, ich erlaube mir die Überlegung, ob Sie nicht auch einen anderen Weg hätten einschlagen können. Selbstverständlich hege ich nicht den Verdacht, es wäre Ihnen ganz recht gewesen, wenn der Chef und ich dort in dem schönen Saal, uns unter Krämpfen windend, das bisschen Geist aufgegeben hätten, das uns noch eigen ist. Sie haben ja selbst mitgetrunken. Ich gebe Ihnen auch weiter zu, dass das Dasein auf dieser Erde nicht immer angenehm ist, jedoch finde ich es, seien Sie mir deshalb nicht böse, etwas gewagt, dass Sie so fest darauf vertrauten, das als vergiftet angekündigte höllische Zeug sei ungefährlich! Bei Ihren hohen geistigen Gaben wäre es Ihnen doch ein leichtes gewesen, diesem undurchsichtigen Herrn mit dem Ton lebhaften Bedauerns zu versichern, heute sei gerade der Todestag der letzten europäischen Kaiserin und uns darum Schnapsverbrauch nicht gestattet.“

Die Erwiderung des Chefs war wesentlich kürzer. „Bin überzeugt, haben sich einfach verhört.“

„Das glaube ich nicht, Chef“, sagte GG bestimmt.

„Ausgeschlossen, dass Sie sich verhörten?“

„Ausgeschlossen ist es natürlich nicht“, erwiderte GG.

„Aha“, sagte der Chef, und damit war für ihn der Fall klar. „Hauptsache, sprechen morgen den Radscha. Übermorgen Singapur. Am Donnerstag London.“

GG war anderer Meinung. Er kam von der Vorstellung nicht los, ihre Unternehmung sei keineswegs beendet, sondern beginne jetzt eigentlich erst und sie stünden vor dunklen, gefährlichen Verwicklungen.

Aber er schwieg. Mit bloßen Vermutungen wollte er den Chef nicht aufbringen. Er war jedoch entschlossen sehr aufzupassen.

Der Chef möchte auf Elefantenjagd gehen

Es war Tschandru-Singh, der am anderen Morgen eine Entdeckung machte, die Besorgnis und Unruhe, ja Verdacht erwecken musste. Als er nämlich sehr früh aus dem Hause trat, noch ehe die Diener aus der Küche des Radscha sie mit dem Morgenmahl versorgt hatten, sah er an dem Türpfosten zu seiner Linken etwas hängen, das er bis dahin dort nie gesehen hatte.

Er nahm es in die Hand. Es war eine dünne Schnur, die zu einem handbreiten Ring zusammengeknotet war, und an ihr waren Krallen eines Raubtieres befestigt, Tigerkrallen, wie er sofort sah. Er war in seinem Leben zwar noch nie einem Tiger begegnet, aber Tigerkrallen kannte er aus den Läden der indischen Händler, die sie zu hohen Preisen verkauften, weil sie, zu Pulver zerrieben, ein gesuchtes Mittel waren, das dem, der es schluckte, die Kräfte eines Dschungelherrschers geben sollte.

Von dem, was der Herr der Wölfe den weißen Sahibs erzählt hatte, wusste Tschandru-Singh nichts; so war er überrascht, was sein Fund für ein Aufsehen erregte. Die Herren saßen beim Frühstück, das inzwischen gebracht worden war. Eben wollte der Graf einen leckeren Fladen, in den Krabbenfleisch gebacken war, in das Schälchen mit Nuok Mam tauchen, einer Würze aus Jamaikapfeffer, Knoblauch und dem Saft einer grünen Zitrone; der Chef war dabei, sich eingehend mit Bambussalat zu beschäftigen, während dich GG für ein Schälchen mit Gado Gado entschieden hatte, einem zarten Gemüse mit einer Haselnusssoße. Da also trat der Inder an GG heran und sagte: „O Sahib, dies hier hat in der Nacht jemand an unsere Haustür gehängt!“

Alle drei blickten auf die Schnur mit den Tigerkrallen. Der Graf ließ den Fladen in dem Schälchen mit der Würze, der Chef interessierte sich nicht mehr für Bambussalat und GG ließ sein Gado Gado stehen.

„Es ist gut, Tschandru-Singh“, sagte GG rasch. „Ich denke, heute wird ein Mann vorsprechen, der uns diese Tigerkrallen verkaufen will!“

Tschandru-Singh ging. Aber es fiel ihm auf, dass keiner der Sahibs weiteraß …

„Mithin“, sagte der Graf, als der Inder den Raum verlassen hatte, „beehrt uns der Tigerbund mit seiner ersten Visitenkarte.“

„Was halten Sie davon, Chef?“ fragte GG. Aber in den wenigen fünf Worten lag viel verborgen, denn eigentlich war damit etwas ganz anderes ausgesprochen: ‚Habe ich nicht gesagt, Chef, dass hier irgend etwas nicht stimmt?’

Der Chef hörte genau, was gemeint war. „Unsinn“, sagte er. „Malaien sind keine New-Yorker Racketeers, die nach der Drohung binnen drei Stunden arbeiten. Haben doch gehört: erst noch einen toten Hund, dann ein Dolch, und dann erst wird es Ernst. Bis dahin alles Kinderei. Und übermorgen sind wir in Singapur.“ Damit wandte er sich wieder seinem Bambussalat zu, und auch die anderen beiden aßen weiter. Jedoch äußerte keiner mehr ein Wort.

„Kommen Sie mit, etwas Wind trinken?“ fragte GG den Grafen, als sie mit dem Essen fertig waren. Diesen schönen malaiischen Ausdruck für Spazierengehen hatten sie nämlich in ihren Sprachgebrauch übernommen, und während Plumpudding dem Chef die morgendliche Pfeife brachte, gingen die zwei unter den hohen Kokospalmen auf und ab. Noch lastete nicht auf allem die drückende feuchte Schwüle, die der Tag immer mit sich brachte.

„Finden Sie es nicht sonderbar, Graf“, fragte GG, „dass wir heute die drohende Botschaft der Tigermänner vorfinden, nachdem Budar Tulang uns gestern über die Sache unterrichtet hat?“

„Zufall oder innerer Zusammenhang?“ fragte der Graf zurück.

„Wenn uns der Palastgeneral, wie der Chef ihn nennt, gestern nicht erzählt hätte, was es mit den Tigerkrallen auf sich hat, dann hätte uns Tschandru-Singhs Fund wahrscheinlich kaum beschäftigt.“

„Sie meinen, der Oberwolf hat es uns erzählt, damit uns die Botschaft beschäftigt?“

„Ich werde den Eindruck nicht los, dass alles genau berechnet war, was er uns da vorsetzte. Erst kam er mit der Geschichte von Latu Hatas Zahn – hieß das nicht: seht ihr, so gehe ich mit Männern um, die gegen mich sind? Dann folgte der Bericht über den Tigerbund, der uns scheinbar gar nichts anging – heute aber merken wir, dass sich die Tigermänner sehr wohl mit uns beschäftigen.“

„Dann hätte der Herr der Wölfe also gewusst, dass uns der Tigerklub in seine Klauen nehmen möchte?“

„Wenn er uns unter Druck setzen will, könnte er kaum umsichtiger vorgehen.“

„Mein lieber GG, Ihre scharfsinnigen Schlüsse haben wie immer viel für sich. Aber auch dem Argument des Chefs möchte ich mich nicht entziehen: wir haben doch mit dem Radscha zu tun, und nicht mit dem General seiner zweibeinigen Wölfe. So wie uns der Radscha empfangen hat und wir, oder vielmehr Sie, ihm das Ergebnis der Expedition mitgeteilt haben, ist doch wirklich alles erledigt.“

„Warum hat uns aber der Radscha gestern nicht empfangen?“ fragte GG hartnäckig.

„Mein lieber GG, kennen Sie die Launen eines Fürsten? Vielleicht war er wirklich müde. Vielleicht hat er sich in seinem Harem geärgert. Tausend Möglichkeiten ohne tiefere Bedeutung – und sehen Sie dort: da kommt der Herr der Wölfe persönlich! Heute schickt er nicht nur seine Männer, heute kommt er selbst. Passen Sie auf, jetzt führt er uns zum Radscha.“

„Hören Sie, Graf“, sagte GG rasch, „von den Tigerkrallen sagen wir ihm kein Wort. Wenn er dahintersteckt, soll er selbst davon anfangen.“

Vom Palast her näherte sich Budar Tulang dem Gästehaus. Ein Gefolge von Kriegern mit Speer und Keris hielt sich in angemessenem Abstand. Der Graf und GG gingen rascher, so dass sie mit dem Herrn der Wölfe zugleich an der Treppe des Gästehauses waren.

Höfliche, ja feierliche Begrüßung. Der Chef kam die Stufen herunter und hieß seinerseits den hohen Würdenträger willkommen. Dann gingen sie zusammen die Treppe hinauf und nahmen auf der Veranda Platz.

Sie waren mit dem orientalischen Brauch vertraut, dass es als äußerst unfein gilt, wenn ein Besucher genötigt wird, sofort mit seinem Anliegen herauszukommen. So antworteten sie ausführlich, als der Herr der Wölfe sich erkundigte, ob auch nichts ihre Nachtruhe gestört habe, wie ihr Befinden heute morgen sei, und hörten aufmerksam zu, als er ihnen langsam und genau erzählte, dass er einen rechten Ärger gehabt habe. Er war nämlich dahintergekommen, dass von seinen beiden Dienern einer von dem chinesischen Großkaufmann Song Tschen Siang bestochen worden sei, ihn über jedes Gespräch, das in seinem Hause geführt wurde, genau zu unterrichten. Es war ihm aber nicht möglich zu ermitteln, wer von den beiden Hausboys der Schuldige war.

„Wie unangenehm“ sagte der Graf. „Und wie peinlich für den Schuldlosen, in einem falschen Verdacht zu stehen!“

„Was werden Sie tun, General?“ fragte der Chef.

„Ist bereits geschehen“, antwortete der Herr der Wölfe. „Ich habe beide heute Nacht ertränken lassen.“

Seinen Zuhörern verschlug es die Sprache. Aber der Graf hatte das Gefühl, ihr entsetztes Schweigen spreche zu laut, und so bemühte er sich, verbindlich zu fragen: „Wäre es nicht vielleicht auch ein Weg gewesen, sich mit dem chinesischen Herrn über den Fall zu verständigen?“

Das hielt der Herr der Wölfe für völlig ausgeschlossen. „Das hätte Herrn Song gekränkt“, sagte er. „Herr Song ist der größte Kaufherr von Gandor. Seine Beziehungen reichen bis Hongkong und Bombay. Er ist Mitbesitzer der Spielhölle von Tscholon. Dort werden jede Nacht zwei Millionen Piaster verspielt. Einen solchen Herrn kränkt man nicht. Er würde sich rächen.“

Und jetzt erst kam er auf den Anlass seines Besuches zu sprechen. „Ich bedaure unendlich“, sagte er, „aber ich habe eine schlechte Nachricht für die Tuan. Seine Hoheit der Radscha kann Sie auch heute nicht empfangen, und nicht einmal in den nächsten sieben Tagen.“

„Warum nicht?“ fragte der Chef.