Zum Buch
Clare hat endgültig genug von ihrem untreuen Ehemann. Doch bevor sie weiß, wie es nun mit ihrem Leben weitergehen soll, gerät sie in einen Autounfall und landet im Krankenhaus. Nicht der schlechteste Ort für einen Neuanfang, wie sich zeigt! Denn plötzlich interessieren sich gleich drei Männer für sie: der Polizist Sam, der eigentlich zu jung für sie ist. Footballcoach Pete, mit dem sie eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. Und nicht zuletzt ihr Ex, der sie zurückgewinnen möchte …
Zum Autor
Seit Robyn Carr den ersten Band ihrer von den Kritikern gefeierten Virgin-River-Serie veröffentlichte, stehen ihre Romane regelmäßig auf der Bestsellerliste der New York Times. Auch ihre herzerwärmende Thunder-Point-Serie, die in einem idyllischen Küstenstädtchen spielt, hat auf Anhieb die Leser begeistert. Robyn Carr hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Ehemann in Las Vegas.
Lieferbare Titel
Schicksalsstürme in Thunder Point
Rosenduft in Thunder Point
Neues Glück in Thunder Point
Erfüllte Träume in Thunder Point
MIRA® TASCHENBUCH
Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2006 by Robyn Carr
Originaltitel: »Never too Late«
erschienen bei: MIRA Books, Toronto
Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. / SARL
Covergestaltung: büropecher, Köln
Coverabbildung: Sunny Designs / Shutterstock
Lektorat: Susanne Zeyse
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783955768157
www.harpercollins.de
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Dieses Buch ist Denise und Jeff Nicholl gewidmet, voll tiefer Zuneigung und aufrichtiger Dankbarkeit.
Liebe Leserin, lieber Leser,
kennen Sie das? Diese leichte Nervosität, bevor man eine Reise antritt? Zum Beispiel zu einem Familientreffen – mit Verwandten, die Sie seit Jahrzehnten nicht gesehen haben – oder in ein fernes Land, über das Sie bisher nur gelesen haben – welche Kleidung nimmt man mit, wird man die Leute verstehen, wird man verloren gehen? Hilfe!
Ein Buch zu schreiben kann eine ganz ähnliche Erfahrung sein – ein Abenteuer. Eine neue Reise, die ich jedes Mal ein wenig verzagt beginne. Ein Unterschied ist jedoch, dass das Schreiben eines Romans auch einem Brettspiel ähnelt. Wenn man mal falsch abgebogen ist, kann man umdrehen und von vorne beginnen. Bis schließlich alle Wendungen stimmen.
Für Gefühle ist es nie zu spät, eines meiner Lieblingsabenteuer in der Frauenunterhaltung, bildet da keine Ausnahme. Es ist um eines meiner Lieblingsthemen aufgebaut: zweite Chancen. Im Mittelpunkt der Handlung steht Clare: Sie wird bald vierzig und braucht dringend einen Neuanfang nach einem traumatischen Verlust in ihrer Jugend, einer schlechten Ehe und einem beinahe tödlichen Autounfall. Wie könnte dieser Neubeginn aussehen? Ein begehrenswerter jüngerer Mann wäre gut. Vielleicht eine alte Liebe, um die Dinge etwas zu verkomplizieren. Und um das Chaos komplett zu machen – denn es geht ja darum, unsere Figuren letztendlich wieder auf den rechten Pfad zurückzuführen –, ein Ex-Mann, der auch unbedingt eine zweite Chance haben möchte. Mit Clare.
Doch natürlich ist Clare mit alldem nicht allein. Sie hat eine ältere und eine jüngere Schwester, und wie es bei abenteuerlichen Reisen und Zufällen so ist, brauchen die beiden ebenfalls gerade einen Neuanfang. Die ehrgeizige und erfolgreiche Maggie möchte frische Energie in ihre festgefahrene Ehe bringen, und die junge Sarah, die das Leben bisher eher von der Seitenlinie beobachtet hat, würde sterben für einen Bruchteil der Aufmerksamkeit, die ihre Schwester Clare auf einmal von den Männern erhält.
Aber Moment – Männer sind ja ganz gut und schön. Doch ihre Anwesenheit oder Abwesenheit sind wohl kaum ein Allheilmittel für das Leben einer Frau. Vor allem nicht für das Leben einer Frau, die auf eine zweite Chance hofft. Denn sie muss sich zunächst selbst finden, mit ihren Fehlern aus der Vergangenheit abschließen und ein neues Ich aufbauen – um aus diesem Prozess gestärkt und voller Selbstvertrauen herauszukommen, bereit, die Welt zu erobern. Ist sich eine Frau erst einmal ihrer selbst sicher, gibt es fast nichts, das stärker sein könnte als sie. Man nehme das Ganze mal drei, und schon hat man eine Explosion der Leidenschaft fürs Leben. Und für die Liebe. Aber ist es dafür vielleicht schon zu spät?
Nein. Es ist nie zu spät.
Ich hoffe, Sie haben beim Lesen von Für Gefühle ist es nie zu spät so viel Freude, wie ich beim Schreiben hatte.
Robyn Carr
Clare fuhr durch den Märzregen zu dem Haus, das einmal ihr gehört hatte. Das Haus, aus dem sie ausgezogen war, als sie sich von ihrem Ehemann trennte. Sie fühlte sich ein bisschen schuldig, weil dies ein weiterer von ihren sehnsüchtigen nächtlichen Streifzügen war zurück zu all dem, was sie vermisste. Allerdings unternahm sie diese Touren nur, wenn sie wusste, dass Roger nicht da war. Wobei sie diesmal eine Geburtstagskarte dabeihatte, die sie ihm dalassen wollte.
Vielleicht war sie zu nett zu Roger, wie ihr gemeinsamer Sohn Jason behauptete. Denn ihre Schwestern ärgerten sich auch darüber, wie nachsichtig sie mit ihm war. Vielleicht sollte sie wirklich versuchen, ein bisschen härter zu sein. Vielleicht hatten alle recht – Roger verdiente ihre Rücksichtnahme nicht, und sie benahm sich wie ein Idiot.
Aber heute war Rogers vierzigster Geburtstag, und er tat ihr ein bisschen leid. Er hatte eindeutig ein Problem mit dem Älterwerden, was für ihn typisch war. Das hatte er jedenfalls gesagt. Also hatte Clare, ganz die verständnisvolle zukünftige Ex-Frau, ihm angeboten, ihn an seinem Geburtstag zum Abendessen zu bekochen. Das hätte Roger außerdem die Gelegenheit gegeben, etwas Zeit mit dem gemeinsamen Sohn zu verbringen – was Roger sich wünschte, aber Jason eher nicht. Doch Roger hatte erklärt, er sei geschäftlich unterwegs und werde den Abend irgendwo in einer anderen Stadt allein im Hotel verbringen müssen.
Es war wahrscheinlich besser, dass das mit dem Abendessen nicht geklappt hatte, denn Jason war immer noch wütend auf seinen Vater. Clare hatte ihn regelrecht zwingen müssen, die Geburtstagskarte zu unterschreiben, die sie auf dem Küchentresen liegen lassen wollte, damit Roger sie nach seiner Rückkehr finden würde. Sie hätte sich gewünscht, dass Jason sie begleitete, aber wie sich herausstellte, war das Unterschreiben der Karte das Äußerste, wozu er bereit gewesen war.
Bevor sie Jason bei seinem Freund Stan abgesetzt hatte, hatte er zu ihr gemeint: »Du wirst wieder mit ihm zusammenkommen, oder?« Seine Stimme hatte so giftig geklungen, dass sie es nicht gewagt hatte, ihm zu antworten. Was dazu führte, dass er sich bestätigt fühlte. »Also ja!«
»Nein!«, hatte sie daraufhin behauptet. Und dies so vehement gesagt, wie sie konnte. »Aber ich denke, es wäre gut für uns alle – vor allem für dich –, wenn wir gut miteinander zurechtkämen.«
»Ich will nicht mit ihm zurechtkommen! Ich hasse ihn!«
Ihr Magen krampfte sich zusammen, wenn sie Jason so reden hörte.
Doch Roger hatte sich das selbst zuzuschreiben und sonst niemandem. Er war so naiv gewesen zu glauben, dass er seine Seitensprünge für immer vor seinem Sohn geheim halten könnte und nur Clare unter seinen Eskapaden zu leiden hätte. Aber er hatte es sich mit Jason verscherzt, und das war schlimm. Für Vater und Sohn.
Jason war vierzehn. Auf dem Weg zum Mann. Noch kämpfte er mit der Pubertät, seine Sommersprossen wichen Pickeln, seine große Erscheinung mit den großen Füßen wirkte tapsig und linkisch. Und er war ziemlich empfindlich, um es vorsichtig auszudrücken. Man nehme einen reizbaren Teenager, einen egozentrischen und ehebrecherischen Vater, mische das Ganze – und innerhalb weniger Sekunden kommt es zur Explosion.
Sie hätte Jason eine Menge Antworten darauf geben können, aber sie hatte sie sich gespart. Mit klugen Tipps hatte sie bereits einige Erfahrung gesammelt – und wusste mittlerweile, dass sie nicht funktionierten. Du wirst ihn nicht für immer hassen. Ganz egal, was du denkst, er hasst dich nicht. Er hat es versaut, und das weiß er, und es tut ihm leid, Jason.
Clare war es mittlerweile egal, dass Jason wütend auf Roger war – weil Roger es wirklich verdient hatte. Aber dieser Hass war gar nicht gut. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn litt. Als sich Jason geweigert hatte, mit zum Haus zu fahren, um die Geburtstagskarte hinzubringen, hatte sie daher einfach gesagt: »Kein Problem, dann mach ich das allein. Ich setz dich auf dem Weg bei Stan ab. Ruf mich an, bevor ihr ins Bett geht. Wenn du dran denkst.«
Clare genoss den Anblick des Hauses, während sie in die Auffahrt einbog. Es war ein hübsches, zweistöckiges Backsteingebäude. Laternenlampen erhellten die dreitorige Garage und den Weg zur Haustür. Sie blieb kurz im Wagen sitzen und betrachtete das Gebäude. Wie sehr sie es vermisste, hier zu wohnen …
Es war ihre vierte Trennung von Roger. Sie hatte gedacht, es würde mit der Zeit einfacher werden, denn Roger war ein notorischer Fremdgeher. Doch als Clare ihn diesmal mit einer anderen erwischt hatte, hatte sie endgültig genug gehabt und wollte nicht mal mehr in dem schönen großen Haus bleiben, obwohl sie sich dort immer sehr wohl gefühlt hatte. Sie hatte einen räumlichen Neuanfang für eine gute Idee gehalten, aber der fiel ihr dann doch schwerer als gedacht. Sie hatte das Haus damals eingerichtet, vieles selbst gemacht. Die Trennung vom Haus kam ihr vor wie die Trennung von einer guten alten Freundin.
Wie aufs Stichwort hatte Roger angefangen zu zetern, dass er seine Familie zurückhaben wolle und eine weitere Chance verdient habe, eine letzte Chance. Er wolle sich ändern und alles wiedergutmachen für Clare und Jason und alle anderen aus ihrem Umfeld, die er mit seinem Verhalten verletzt hatte.
»Ich werde jetzt vierzig, Clare, und das ist wirklich traumatisch«, hatte er behauptet. »Glaub nicht, ich wüsste nicht, was ich getan habe, wie dumm ich war. Das weiß ich. Ich werde dir beweisen, dass ich mich ändern kann. Ich werde mir Hilfe holen, eine Therapie machen.«
»Ich glaube nicht, dass ich dir noch eine weitere Chance geben kann«, hatte sie geantwortet. »Und selbst wenn – meine Familie kann es ganz sicher nicht. Nicht mal unsere Freunde halten das noch mal aus.«
»Das ist deine Schuld!«, stieß er prompt hervor. »Weil du unsere privaten Probleme einfach nicht für dich behalten kannst!«
Da hatte er recht. Aber sie fand, dass er sich mal in ihre Lage hätte versetzen können. In einer relativ kleinen Stadt mit nur fünfzehntausend Einwohnern konnte sie davon ausgehen, dass so ungefähr jeder wusste, was er ihr angetan hatte. Niemand konnte verstehen, wieso sie zu ihm zurückkehrte. Und dann noch mal. Und noch mal. Aus Schuldzuweisungen Roger gegenüber war ungläubiges Staunen geworden und schließlich fehlender Respekt vor ihr. Ihre besten Freunde hatten sich inzwischen von ihr abgewendet.
Wieso hatte sie überhaupt nachgegeben und ihn zurückgenommen? Weil Roger dieses gewisse Etwas hatte – er sah nicht nur gut aus, er war auch lustig und im Grunde ein gutherziger Mensch. Er war großzügig und ein wunderbarer Tänzer. Und es hatte Zeiten in ihrem Leben gegeben – nach dem Tod ihrer Mutter zum Beispiel und als ihre kleine Schwester Sarah unter einer schlimmen Depression gelitten hatte –, da war Roger einfach für sie da gewesen. Er hatte sich immer gut um seine Familie gekümmert, und wenn er auch kein hingebungsvoller Vater war, liebte er Jason. Er war nie als Trainer oder Pfadfinderleiter aktiv gewesen, aber er hatte sich immer für die Sportveranstaltungen und Leistungen seines Sohns interessiert. Eigentlich hatte Roger nur einen Fehler – das war allerdings der schlimmste, den es geben konnte.
Dennoch überlegte Clare immer wieder, ob das nicht alles ihre Schuld war. Dass sie unfähig war, eine funktionierende Ehe zu führen, und genauso unfähig, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie konnte Roger einfach nicht davon abhalten, andere Frauen zu haben, und sie konnte es anscheinend auch nicht lassen, ihn immer wieder zurückzunehmen. Sie hatte keine Ahnung, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, Jason zuliebe die Familie zusammenzuhalten, oder genau die falsche? Irgendwie hatte Clare in diesem Spiel einfach nicht gewinnen können.
Offiziell war sie vor drei Monaten ausgezogen, gleich nach Weihnachten, und zwar in ein Townhouse, das genau die richtige Größe für sie und ihren Sohn hatte. Sie hatte zuerst nur mitgenommen, was sie wirklich brauchten, aber nach und nach immer mehr Sachen aus dem alten Haus abgeholt, wenn sie wusste, dass Roger nicht da war. Falls er bemerkt hatte, dass der Schrank mit der Bettwäsche oder die Küche leerer wurden, ließ er ihr gegenüber nichts verlauten. An diesem Abend wollte sie die Gugelhupfform, den Schongarer, ihr geliebtes Geschirr mit dem roten Rand und den Küchenläufer, der vor der Spüle lag, mitnehmen, außerdem ein paar von den Geschirrtüchern von Williams-Sonoma. Die Geburtstagskarte würde ihm zwar verraten, dass sie da gewesen war, aber das fand sie in Ordnung. Es wurde Zeit, dass Roger endlich begriff, dass ihre Trennung endgültig war.
Seufzend machte sie den Motor aus und stieg aus in den kühlen Nieselregen. Sie schlug den Jackenkragen hoch und erschauderte – vor Kälte, aber auch weil sie jetzt gleich ihr früheres Zuhause betreten würde. Beim Aufschließen wunderte Clare sich etwas, dass die Alarmanlage nicht eingeschaltet war, allerdings machte sich Roger um solche Dinge wenig Gedanken. Sie schaltete nur das Licht im Eingangsbereich und im Flur an, schließlich kannte sie jeden Quadratzentimeter des Hauses und hatte sich mit jeder Küchenoberfläche, mit jedem Schrank, mit jeder Fußleiste und jedem Fußboden beschäftigt. Jetzt würde sie direkt in die Küche gehen, die Geburtstagskarte auf den Tresen legen, sich ihre Sachen schnappen und wieder nach Hause fahren. Auf keinen Fall würde sie länger als nötig dableiben und sich auch nicht umsehen. Dass das Haus perfekt sauber war, deprimierte sie immer ein bisschen. Es ärgerte sie, dass Roger allein offensichtlich super zurechtkam, obwohl er immer behauptete, wie sehr er sie doch brauchte.
Das Haus war immer ihr Reich gewesen, doch es war höchste Zeit, dass sie die Vergangenheit ruhen ließ und endlich von vorne anfing.
Auf einmal hörte sie ein Quietschen und erstarrte. Eine quietschende Diele im Obergeschoss? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. War jemand im Haus? Ein Einbrecher? Da, ein anderes Geräusch, wie das Ächzen der Wasserleitung, wenn man den Hahn im Garten aufdrehte. Kurz dachte sie daran, die Flucht zu ergreifen. Dann hörte sie das Geräusch wieder, lauter diesmal. Gefolgt von einem eindeutig weiblichen Lachen.
Dieser Mistkerl!
Clare wurde auf einmal sehr wütend. Aber am meisten ärgerte sie sich darüber, dass sie Jason gebeten hatte mitzukommen. Meine Güte, wie viele Stunden beim Psychologen hätte er gebraucht, um das hier verarbeiten zu können?
Lautlos schlich Clare die Treppe hinauf. Aus dem Schlafzimmer sah sie einen Lichtschimmer dringen. Die Doppeltür stand halb offen. Sie warf einen Blick ins Zimmer und erspähte den schlanken Rücken einer Blondine, die auf Roger ritt. Die Frau bewegte sich rhythmisch vor und zurück, während Roger unter ihr stöhnte. Die Frau kicherte wieder. Am Fuß des Bettes stand ein Weinkühler mit einer geöffneten Flasche darin, auf dem Nachttisch entdeckte sie zwei Gläser.
Clare drückte vorsichtig die Tür ganz auf und sah einen Moment lang zu. Dann räusperte sie sich. Es dauerte etwas, bis die beiden begriffen, dass sie nicht mehr allein waren. Die Frau warf einen Blick über ihre Schulter und entdeckte Clare. Blitzschnell stieg sie von Roger herunter und verschwand unter der Bettdecke. Clare konnte nur einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Zum Glück kannte sie sie nicht. Immerhin etwas.
Roger versuchte sich auf die Ellbogen zu stützen. »Clare …«
Sie marschierte aufs Bett zu. »Wie läuft’s auf der Geschäftsreise, Roger?«
»Clare, sie wurde abgesagt. Auf die letzte …«
»Ach, halt den Mund, Roger!«, brüllte sie.
»Aber Clare! Wir sind getrennt! Und da dachte ich …«
Sie riss die Weinflasche aus dem Kühler, schleuderte sie auf den Teppich und kippte den Eimer mit den schmelzenden Eiswürfeln über Roger und seiner Begleitung aus. Er schrie laut auf, und auch die Frau unter der Decke fing an zu kreischen.
Clare drehte sich um und rannte aus dem Haus. Die Eingangstür ließ sie absichtlich offen stehen, in der Hoffnung, dass vielleicht ein paar Löwen und Tiger aus dem Zoo ausgebrochen waren und die Nachbarschaft durchstreiften. Oder dass ein Serienmörder die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen würde.
Sie sprang ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen von der Einfahrt, dann raste sie die Straße entlang. Und weinte. Nicht, weil sie Roger so sehr liebte, sondern weil sie es satthatte, dauernd von ihm gedemütigt zu werden.
Es war das erste Mal, dass sie ihn in flagranti erwischt hatte, obwohl Roger sich nie um Diskretion bemüht hatte. Sie hatte Beweise gefunden, Hotelrechnungen, Quittungen für Geschenke, die sie nicht gekriegt hatte. Immer wieder hatte es seltsame Telefonnachrichten gegeben, und einmal hatte eine Frau bei Clare angerufen und sie angebettelt, Roger doch freizugeben. Immer, wenn sie ihn damit konfrontiert hatte, hatte er ihr reinen Wein eingeschenkt. Er war ein Charmeur, ein Flirtspezialist, ein Womanizer und ein ganz schlechter Lügner.
Sie hatte ihn mehr als einmal gefragt, warum er denn überhaupt geheiratet hatte. »Im Ernst, Roger – wieso bist du nicht Single? Du benimmst dich doch sowieso wie einer. Also los, befreie dich von mir!«
Roger hatte den Kopf hängen lassen und ehrlich gesagt: »Aber ich liebe dich, Clare. Ich habe dich immer geliebt. Ich weiß, ich hab’s verbockt, doch ich glaube nicht, dass ich ohne dich zurechtkomme.«
In blinder Wut drosch sie jetzt aufs Lenkrad ein. Plötzlich sah sie blinkende Lichter im Rückspiegel und warf einen Blick auf den Tacho. Verdammt, sie war viel zu schnell.
Sie bremste ab und fuhr rechts ran, ließ den Kopf hängen und fing erneut an zu schluchzen. Tränen der Wut. Nur allzu bekannt.
Es dauerte ein paar Minuten, bis ein Polizist mit seiner Taschenlampe ins Fahrzeuginnere leuchtete und leicht gegen die Scheibe klopfte. Clare ließ das Fenster herunter und sah in das Gesicht eines attraktiven jungen Mannes, der sie mit einem väterlichen Stirnrunzeln anschaute.
»Haben Sie eine wichtige Verabredung?«, fragte er.
Sie wischte sich die Tränen ab. »Tut mir leid«, erwiderte sie, obwohl ihr klar war, dass er keine Entschuldigung hören wollte. »Ich war wütend und unvorsichtig. Schlechte Kombination.«
»Wütend, unvorsichtig und tot ist eine noch schlechtere Kombination.«
»Ich habe gerade meinen Mann im Bett mit einer anderen Frau erwischt«, platzte Clare heraus. Jetzt hatte sie es schon wieder getan! Roger war offensichtlich nicht der einzige indiskrete Mensch. Auch sie konnte einfach nicht den Mund halten.
»Wow«, sagte der Cop und leuchtete ihr ins Gesicht. »Der Kerl muss verrückt sein«, fügte er hinzu.
»Wir sind schon länger getrennt«, erklärte sie. »Ich bin einfach reingeplatzt. Das war dumm. Ich hätte es wissen müssen.«
»Ich muss Sie bitten, mir Führerschein und Fahrzeugpapiere zu zeigen.«
»Natürlich.« Sie brauchte ein bisschen, aber schließlich reichte sie ihm die Dokumente. »Versicherungsschein ist auch dabei.«
Er betrachtete die Papiere. »Haben Sie etwas getrunken?«, fragte er.
»Nein. Doch ich kann Ihnen versprechen, dass ich mir zu Hause einen schönen großen Drink einschenken werde.«
Er hatte ein umwerfendes Lächeln. Süße Grübchen. Ein gut aussehender Typ. »Wenn ich nicht im Dienst wäre, würde ich Sie einladen.« Er gab ihr die Papiere zurück. »Ich weiß zwar nichts über Ihren Mann, aber Sie sind eine wunderschöne Frau, und es wäre echt eine Schande, wenn Sie sich umbringen würden, nur weil er so ein Loser ist. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
»Ja«, murmelte sie zerknirscht.
»Kriegen Sie es hin, sicher nach Hause zu fahren? Auf Stopp-Schilder zu achten und sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten?«
Verwirrt nickte sie. »Bekomme ich keinen Strafzettel?«
»Ich denke, Sie haben heute Abend genug durchgemacht. Oder nicht?«
»Aber ich dachte, sobald man von der Polizei angehalten wird, muss man einen Strafzettel kriegen!«
»Keine Ahnung, wie die Leute auf so was kommen«, meinte er. Wieder dieses Lächeln. »Ich bin der Cop – ich entscheide. Also – fahren Sie weiter, aber bitte vorsichtig. Und bestrafen Sie den Mistkerl nicht damit, dass Sie sich wehtun.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte sie und war selbst überrascht, dass sie lachte.
»Natürlich. Sie haben eine Menge, wofür es sich zu leben lohnt. Fahren Sie vorsichtig!«
Er schritt zurück zu seinem Wagen, und sie legte den Gang ein. Blinkte, sah sich um und fuhr vorsichtig auf die Straße zurück. Es waren nur noch fünf Minuten bis nach Hause. Der Polizist folgte ihr, was sie amüsiert zur Kenntnis nahm. Die Ampel wurde rot, und sie hielt an. Sie winkte ihm im Rückspiegel zu, konnte allerdings nicht erkennen, ob er die Geste erwiderte. Die Ampel sprang auf Grün, und sie steuerte vorsichtig auf die Kreuzung zu.
Und dann wurde plötzlich alles schwarz.
Sam Jankowski lief zurück zu seinem Einsatzwagen. Oh, Mann, dachte er. Was für eine Frau! Hätte er sie woanders getroffen, hätte er sie um ein Date gebeten. Sie sah sogar gut aus, wenn sie weinte. Und dass sie ein bisschen älter war als er, mochte er auch. Die Frauen, mit denen er sonst ausging, waren in der Regel jünger als er, oft unreif und ein bisschen flatterhaft. Dabei mochte er eigentlich Frauen, die schon ein bisschen gelebt hatten. Frauen, die wussten, was sie wollten und wo es hinging. Clare Wilson, ein Meter zweiundsechzig, dreiundfünfzig Kilo, braune Haare, grüne Augen, bescheuerter Ex-Mann.
Clare bog wieder auf die Straße, inklusive Blinken, und er folgte ihr. Ordnungsgemäß blieb sie an der roten Ampel an der nächsten Ecke stehen, und als das Licht auf Grün sprang, fuhr sie auf die Kreuzung. Und in diesem Moment krachte es. Ein SUV war offensichtlich bei Rot gefahren und krachte Clare in die Seite, schob ihren Wagen quer über die Kreuzung in einen Laternenmast.
»Herr im Himmel!«, rief Sam.
Er schaltete das Blaulicht ein und fuhr auf die Kreuzung, um den Verkehr anzuhalten. Noch während er aus dem Wagen sprang, schaltete er sein Funkgerät ein. »Zentrale, DP-Drei-Fünf, Krankenwagen benötigt. Ich habe hier eine Vier-Null-Eins, Kreuzung Winston und Montgomery.«
»Verstanden. Schon unterwegs.«
»Kannst du zwei Nummernschilder überprüfen?«
»Verstanden.«
»Mary Nora Paul sieben sechs neun«, sagte Sam und wiederholte aus dem Gedächtnis Clares Nummernschild, während er auf die zusammengestoßenen Fahrzeuge zurannte. Eine junge Frau stieg aus dem SUV.
»Ma’am!«, rief er. »Bitte machen Sie die Kreuzung frei, gehen Sie auf den Bürgersteig.« Er stellte eine Warnfackel auf.
»Mein Baby!«, stieß die Frau weinend hervor.
»Zentrale, Notarzt informieren, dass ein Säugling in einem der Fahrzeuge ist.«
»Verstanden.«
»Nummernschild Union Zebra Henry zwei zwei neun.« Er ging zu der Frau, die jetzt auf den Rücksitz guckte. Die hinteren Scheiben des Wagens waren nicht geborsten, das Baby weinte – ein gutes Zeichen –, und die Scherben der zerstörten Windschutzscheibe hatten sich nur im vorderen Wagenbereich verteilt. »Ma’am, bitte lassen Sie das Kind in seinem Kindersitz, bis der Notarzt da ist.«
»Ich muss ihn rausholen«, widersprach die Frau panisch und mit zitternder Stimme.
»Es ist besser, wenn Sie ihn nicht bewegen.«
Sam stellte eine weitere Warnfackel auf. »Ma’am!« Er hörte Sirenen. »Bitte lassen Sie zuerst den Notarzt das Kind untersuchen.« Er rannte zu seinem Wagen, um einen Feuerlöscher zu holen, dann lief er zu Clare Wilsons kleinem, völlig zerstörten Toyota.
Der Wagen war mit der Fahrersitzseite gegen den Laternenmast geschoben worden, der aber zum Glück stehen geblieben war. Die rechte Wagenseite war durch den aufprallenden SUV komplett zerquetscht. Sam kam nicht an Clare heran, er konnte nur durchs Fenster der Fahrerseite gucken. Sie hielt immer noch das Lenkrad umklammert, ihr Kopf hing zu einer Seite. Sie stöhnte. Sam griff durch die zersplitterte Scheibe und nahm ihre linke Hand. »Clare?«, fragte er. »Können Sie mich hören?«
»Aah«, stöhnte sie, wobei sie ihre Augen geschlossen hatte.
Lieber Gott, dachte er. Das sieht gar nicht gut aus. Er hielt weiter ihre Hand. »Versuchen Sie sich nicht zu bewegen. Versuchen Sie es, okay? Alles wird gut.«
»Jason«, sagte sie.
»Nicht reden, Clare.«
»Mike. Mike!«
»Shh.« Einer von denen muss ihr Ex sein, dachte er, und dann wurde er auch schon vom Notarzt zur Seite geschoben. Also machte er sich daran, den Verkehr zu regeln, bis der SUV und der Toyota abgeschleppt werden konnten. Es dauerte lange. Clare musste von den Rettungskräften herausgeschnitten werden, und er hörte sie schreien, als sie auf die Krankentrage gelegt wurde. Das Geräusch fuhr ihm durch Mark und Bein.
Nachdem der Notarzt sie mitgenommen hatte, fragte er den Einsatzleiter der Feuerwehr: »Wird sie es schaffen?«
»Ich weiß es nicht. Die lebenswichtigen Organe wurden wohl stark in Mitleidenschaft gezogen. Haben Sie den Unfall gesehen?«
»Ich bin direkt hinter ihr gefahren. Sie hatte Grün. Der SUV ist bei Rot gefahren. Das werde ich auch in meinen Bericht schreiben.«
Und dann, dachte er, rufe ich im Krankenhaus an.
Clare befand sich in dichtem Nebel. Es fiel ihr schwer, ihre Gliedmaßen zu rühren, und sie wusste nicht einmal, ob sie die Augen geöffnet hatte. Irgendwo weit weg schien ein schwaches Licht zu brennen, und sie tat alles, um sich in seine Richtung zu bewegen, doch es war schwer. Irgendetwas hielt sie zurück und zog an ihr.
Eine Person kam auf sie zu, ein Schatten. Hinter der Person wurde das Licht heller, und sie sah jemanden. Sie keuchte, als sie Mike erkannte, die Liebe ihres Lebens. Er trug immer noch den Overall der Air Force, den er vor neunzehn Jahren getragen hatte. Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen und schenkte ihr ein Lächeln, das sie wie immer dahinschmelzen ließ.
»Mike! Oh, Mike! Ich wusste, du würdest zurückkommen.«
»Hi, Clare.«
»O Gott!« Weinend streckte sie die Hand nach ihm aus.
Allerdings kam er nicht näher. Er hatte die Hände in den Hosentaschen und wirkte absolut friedlich. »Du musst zurückgehen, Clare. Du hast noch einiges zu erledigen.«
»Ich will bei dir sein! Alles, was ich immer wollte, war …«
»Ich kann nicht hierbleiben und du auch nicht. Wir sehen uns nächstes Mal.« Damit drehte er sich um und verschwand langsam wieder im Nebel.
Sie schrie vor Angst, da sie ihn ein zweites Mal verlieren würde. Zuerst drang kein Laut aus ihrer Kehle, dann nur ein schwaches Stöhnen. Vergeblich versuchte sie, ihm zu folgen, aber irgendetwas hinderte sie daran. Und dieses Etwas war angefüllt mit Angst und Wut.
Also schrie sie noch einmal – und erneut ohne Stimme.
Endlich begann sich der Nebel zu lichten. Von oben drang Licht ein, und weil es so hell war, musste Clare die Augen zusammenkneifen. Die Macht, die sie von Mike wegzog, war wild und ungezähmt – ganz unangenehm –, und aus Protest fing sie an, um sich zu schlagen.
Dann gingen auf einmal ihre Augen auf, und sie sah das Gesicht ihres Sohnes.
»Mom!«, sagte er. »Oh, Mom!«
Doch Jason wurde jäh aus ihrem Gesichtsfeld geschoben. Menschen in weißen Kitteln nahmen seinen Platz ein. Eine Frau injizierte etwas in einen Schlauch, der über ihr baumelte. Jemand stieß gegen die Oberfläche, auf der sie lag, und ein Mann rief: »CT ist positiv. Hundert Milliliter Fentanyl und ab nach oben mit ihr.«
Dann wurde die Welt wieder schwarz.
Das nächste Mal erwachte sie aus einem traumlosen Schlaf und blickte in das Gesicht ihrer älteren Schwester Maggie. Nichts hätte schöner sein können. Maggie vermittelte ihr immer ein Gefühl von Sicherheit, selbst wenn sie sie wegen irgendetwas zusammenstauchte. Clare versuchte zu lächeln, war sich aber nicht sicher, ob es ihr gelang.
»Wir sind alle hier, Clare«, meinte Maggie. »Dad, Sarah, Jason, Bob. Aber wir wollen uns nicht alle um dein Bett drängeln.«
Clare bemühte sich zu erklären, dass sie Mike gesehen hatte, doch aus ihrem Mund drang nur ein kehliger Laut.
»Versuch noch nicht zu sprechen. Du kommst wieder in Ordnung, aber du wirst Schmerzen haben. Lass einfach zu, dass sie dich mit Schmerzmitteln vollpumpen, und versuch zu schlafen. Bob und ich kümmern uns um Jason. Wir sind da.«
Eine Krankenschwester tat wieder irgendetwas mit den Schläuchen, und der Schlaf überwältigte sie.
Plötzlich spürte sie die Schmerzen. In ihrem Hals, ihrer Hüfte, ihrem Bauch, ihren Beinen.
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie keinen Strafzettel bekommen hatte, aber was hatte sie falsch gemacht? Die Schmerzen waren schrecklich, allerdings war es genauso schrecklich, nicht zu wissen, wieso sie hier war. Sie öffnete die Augen, und da war wieder Maggie. Aber Maggie hatte doch so viel zu tun – sie konnte nicht einfach stundenlang im Krankenhaus hocken. Oder vielleicht sogar tagelang?
»Hey, wird auch Zeit«, begrüßte Maggie sie.
Zitternd hob Clare die Hand. »Au. Mein Hals.«
»Ich weiß. Das kommt vom Intubieren. Hier, trink einen Schluck Wasser.«
Die kühle Flüssigkeit war angenehm, jedoch fiel ihr das Schlucken schwer. »Was? Was?«, fragte sie.
»Ein Autounfall, Clare. Erinnerst du dich an etwas?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Auf der Kreuzung ist dir jemand reingefahren. Du warst sehr schwer verletzt – deine Milz musste entfernt werden, und deine Hüfte ist gebrochen. Aber sei froh, du lebst noch.«
»O Gott«, presste Clare stöhnend hervor.
»Du wirst wieder vollständig genesen, aber es wird kein leichter Weg.«
»Wer ist mir denn reingefahren?«, gelang es ihr zu fragen. »Ein Betrunkener?«
»Nichts dergleichen«, antwortete Maggie. »Eine junge Frau in einem SUV hat sich mit ihrem Baby auf dem Rücksitz beschäftigt, als sie bei Grün losfuhr. Kaum dass sie wieder auf die Straße guckte, war Rot und dein Wagen auf der Kreuzung.«
»O Gott«, sagte Clare und senkte die Lider. »Und das Baby?«
»Den beiden geht es gut. Dem Baby fehlt nichts, die Mutter hatte nur ein paar blaue Flecken. Mit ihrem SUV hat sie deinen Toyota geschrottet. Du musstest aus dem Wrack geschnitten werden. Erinnerst du dich an gar nichts?«
Clare schüttelte den Kopf.
»Okay. Vielleicht ganz gut, dass du dich an nichts erinnerst.«
Clare döste wieder weg, und als sie aufwachte, war Maggie immer noch da und hielt ihre Hand. Sie stand von dem Stuhl auf, auf dem sie gesessen hatte, und beugte sich übers Bett. Clare war froh, dass ihre Schwester da war. Maggie war Anwältin, Ehefrau und Mutter – Clare konnte sich kaum vorstellen, dass sie einfach alles stehen und liegen gelassen hatte, um bei ihr zu sein. »Bist du schon lange hier?«
»Nur ein paar Stunden. Heute.«
»Du musst nicht hierbleiben«, flüsterte Clare.
»Ich gehe gleich«, erwiderte Maggie. »Ich wollte nur sicher sein, dass du wieder bei Bewusstsein bist.«
»Wäre ich fast gestorben?«, fragte sie.
»Deine Verletzungen waren definitiv lebensbedrohlich. Tut es schlimm weh?«
Tat es, aber Clare schüttelte den Kopf. »Roger?«, fragte sie.
Maggies Miene veränderte sich. Sie sah aus, als wollte sie spucken. »Er war hier. Soll ich ihm sagen, dass du ihn sehen möchtest?«
Clare schüttelte den Kopf. »Er soll wegbleiben.«
Ein zufriedenes Grinsen konnte Maggie sich nicht verkneifen, aber sie sagte nur: »Geht klar.«
Während die Zeit – langsam – verstrich, sah Clare die Gesichter all ihrer Lieben, die sich einer nach dem anderen über ihr Bett beugten. Alle gaben sich Mühe, sie nicht zu überanstrengen. Jason weinte und legte seinen Kopf auf ihre Hand. »Meine Güte, Ma, ich hatte solche Angst«, meinte er. »Was hätte ich nur gemacht, wenn du gestorben wärst?«
»Mach dir keine Sorgen. Ich geh nicht weg«, entgegnete sie, denn das hatte sie von anderer Stelle bestätigt bekommen. Sie hatte noch »einiges zu erledigen«. Zu erledigen? fragte sie sich.
Ihre jüngere Schwester Sarah hielt sich tapfer, aber hinter ihren dicken Brillengläsern sah sie etwas verstört aus. Sie war erst einundzwanzig gewesen, als ihre Mutter starb, und ihr fiel es am schwersten, mit dem Verlust umzugehen.
Clare berührte ihre Hand. »Alles gut, Schätzchen. Alles wird gut«, sagte sie.
Unsicher lächelte Sarah. »Typisch Clare«, entgegnete sie. »Du liegst im Krankenhaus, aber du tröstest mich.«
Clare schaute Sarah an. Dunkelblonde Haare, sorgfältig nach hinten frisiert, schwarzes, altmodisches Brillengestell, kein Make-up – da war nichts mehr zu erkennen von dem früheren Wildfang. »Schlampe in Ausbildung«, hatten Maggie und Clare sie immer genannt, doch seit dem Tod ihrer Mutter hatte Sarah hatte sich vollkommen verändert.
Clare hingegen hatte ein Trauma ganz anderer Art aus der Bahn geworfen. Es war kein Zufall, dass sie so viel darüber nachdachte, seitdem sie im Krankenhaus war. Sie hatte Mike in einer Art Nahtoderfahrung vor sich gesehen. Ihr Leben war noch einmal vor ihrem inneren Auge abgelaufen und hatte sie immer wieder auf diese seltsame Zeitreise geschickt.
Bis sie einundzwanzig war, hatte Clare ein unbeschwertes Leben geführt. Ein glückliches Kind aus einer glücklichen Ehe, sogar als Sandwich-Kind. Maggie kommandierte sie zwar herum, und Sarah war das typische Nesthäkchen, aber dafür war Clare mit gutem Aussehen, Humor, Intelligenz und Glück gesegnet. Sie war gut in der Schule, beliebt und furchtlos. Ihre Clique bestand aus Leuten, die zusammen aufgewachsen waren, und mit fünfzehn verliebte sie sich in Mike Rayburn, Star-Quarterback der Schulmannschaft und Ballkönig. Er war zwei Jahre älter als sie und ging in Reno aufs College, nicht allzu weit entfernt von ihrer Heimatstadt Breckenridge, einem schönen Ort am Fuß der Sierra Nevada am Lake Tahoe. Das grüne, fruchtbare Tal mit seinen Feldern und Viehweiden unterhalb von schneebedeckten Gipfeln erinnerte an die Schweiz. Sie hatte eine tolle Zeit an diesem magischen Ort, mit den herrlichen Sommern am See und Skifahren in den Bergen im Winter. Es stand außer Frage, dass Clare auch das College in Reno besuchte. Ihre Beziehung war gut und blieb spannend. Nach seinem Abschluss ging Mike zur Air Force, was sie für zwei Jahre voneinander trennte, da Clare ihr Studium beenden musste. Aber Mike schenkte ihr einen großen Diamantring und bat sie, während ihres letzten Jahres auf dem College schon mal ihre Hochzeit zu planen.
Doch dann kam ihnen etwas dazwischen. Ein Erdbeben.
Mikes jüngerer Bruder Pete, im selben Alter wie Clare, war während ihrer Schulzeit einer ihrer besten Freunde gewesen. Sie hatten zusammen ihren Highschoolabschluss gemacht. Pete hatte sich – im Gegensatz zu seinem Bruder, der immer ein glänzender Schüler gewesen war – nie viel um die Schule gekümmert und lieber seinen Spaß gehabt. Er und Clare hatten so viel und oft miteinander gelacht, dass Mike irgendwann richtig sauer geworden war. Wie sein großer Bruder war auch Pete ein exzellenter Sportler. Da er allerdings nicht gerade einen Spitzenabschluss gemacht hatte, hatte er nach der Schule eine Vollzeitstelle angenommen und sich für ein paar Kurse am Breckenridge Community College eingeschrieben. Mit einundzwanzig, kurz vor dem Abschluss, schaute er sich verschiedene Universitäten an. Unter anderen auch den Campus, an dem Clare studierte. Natürlich zeigte sie ihm voller Begeisterung alles.
Für Clare war Pete immer noch der Junge von damals – dünn, schlaksig, ein bisschen ungelenk. Sie war überrascht, dass ein erwachsener Mann aus ihm geworden war, als sie ihn wiedersah. Er war genauso attraktiv und sexy wie sein älterer Bruder. Vielleicht sah er sogar noch ein bisschen besser aus.
Pete übernachtete bei ihr und ihren zwei Mitbewohnerinnen, guckte sich die Uni an, redete mit Dozenten, Trainern und Beratern und schaute sich auf dem Campus um. Clare stellte ihn ihren Freunden vor und nahm ihn in den Pub mit, wo sich alle trafen. Er kam überall gut an, ihre Freundinnen standen auf ihn. Doch dann verreisten ihre Mitbewohnerinnen übers Wochenende. Clare kochte für Pete Spaghetti, und er brachte eine riesige Flasche Chianti mit. Sie aßen, tranken, lachten und redeten bis spät in die Nacht.
Und dann passierte es. Clare wurde bewusst, wie sehr sie Pete mochte. Und wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie waren beide ein bisschen betrunken, als er seinen muskulösen Oberschenkel an ihren presste. Er berührte ihre Hand, schaute ihr tief in die Augen – und küsste sie. Küsste sie noch mal. Es war nicht das erste Mal, dass sie zu viel getrunken hatte, und auch nicht das erste Mal, dass ein anderer Mann sie anmachte, aber sie hatte Mike nie betrogen, war noch nicht einmal in Versuchung geraten. Doch in diesem Moment auf der Couch überfiel sie eine wilde Leidenschaft. Für Pete, der nicht länger der kleine Bruder, sondern ein starker, erfahrener und attraktiver Mann war. Seine Küsse elektrisierten sie, seine Berührungen weckten ihr Verlangen. Verstand und Vernunft waren plötzlich ausgeschaltet.
Bevor sie es sich versah, gab sie sich ihm hin, wollte ihn in sich spüren, wollte alles von ihm. Er sagte, er wolle sie auch und er könne nicht aufhören. Dass er nicht ganz Herr seiner Sinne war, machte ihn in ihren Augen noch begehrenswerter. Er drang in sie ein, und sie wurde verrückt vor Lust. Er knabberte, streichelte, saugte, bis er gleichzeitig mit ihr kam.
Nur langsam kehrten sie wieder auf den Boden der Realität zurück, und plötzlich war sie fassungslos. Beschämt. Erschüttert.
»O Gott«, sagte sie nur.
»Clare, ich …«
Aber sie wollte nichts hören. Was hatte sie gemacht? Was hatte sie Mike angetan? Und Pete? Und sich selbst? Sie rannte aus dem Wohnzimmer hinüber in ihr Zimmer, knallte die Tür zu und heulte vor Reue und schlechtem Gewissen die ganze Nacht durch. Wenn sie sich schon so schrecklich fühlte, müsste Pete sie nicht hassen für das, was sie seinem Bruder angetan hatte? Sie hatte ihn angefleht, mit ihr zu schlafen! Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie unter der Packung mit Kopfschmerztabletten einen Zettel: »Lass uns nie wieder darüber sprechen. Es ist nichts geschehen. Pete.«
Und sie sprach auch nicht darüber – schon allein deshalb, weil sie sich so sehr schämte. Sie hatte Schwierigkeiten damit, die Gästeliste für die Hochzeit zusammenzustellen, konnte es kaum ertragen, über den Empfang zu reden, ließ ihre Geschenkeliste nicht registrieren, und bei der Anprobe des Brautkleids brach sie in Tränen aus. Sie fühlte sich elend und war weit davon entfernt, die Sache hinter sich gelassen zu haben. Natürlich hörte sie nichts mehr von Pete – aber sie war sich nicht sicher, ob das die Sache besser oder schlechter machte. Denn falls er sie nicht hasste, hatte er doch sicher jeglichen Respekt vor ihr verloren.
Mike schien bei ihren Telefonaten nichts von ihrem Gefühlschaos zu bemerken. Entweder weil er wegen seiner Ausbildung so viel auf dem Schirm hatte oder weil sie eine Meisterin der Täuschung war. Am Ende spielte es keine Rolle, denn wenige Monate später stürzte er mit seinem F-16 Kampfflugzeug ab und starb.
Tiefe Verzweiflung, heftige Trauer und große Reue bestimmten von da an Clares Leben. Es war eine dunkle Zeit. Sie fragte sich oft, ob sie an ihrem Kummer zugrunde gehen würde. Während der Trauerfeier sah sie Pete nicht an, nicht einmal, als sie beide sich schluchzend umarmten. Es dauerte sehr, sehr lange, bis sie sich von dem Gedanken lösen konnte, dass sie eine Mitschuld hatte an Mikes Tod.
Zwei Jahre dauerte es, bis sie dazu in der Lage war, wieder mit ihren Freundinnen auszugehen. Und sie verbat sich jegliche Verkuppelungsversuche. Ihr Herzschmerz war noch zu groß. Sie wollte nie wieder so verwundbar sein. Wenn sie zufällig Pete irgendwo begegnete, konnte sie kaum mit ihm sprechen, und er wich ihrem Blick aus. Offensichtlich war sein Schmerz genauso groß wie ihrer.
Und dann lernte sie Roger kennen. Den gut aussehenden Roger. Durch ihn tauchte sie wieder aus der Dunkelheit auf, konnte lachen, sich auf Veranstaltungen und Dates freuen. Er war versiert und clever, was das Flirten betraf, und unglaublich charmant. Er umwarb sie gekonnt, und so überraschend es für sie war – aber sie fühlte sich zum ersten Mal seit Mikes Tod wieder richtig lebendig. Als ihr klar wurde, dass ganze Tage am Stück vergingen, ohne dass sie an Mike dachte oder an das, was sie getan hatte, erkannte sie, dass Roger ihre Chance auf einen Neuanfang war. Mehr noch: Sie hatte sich in ihn verliebt, mit Haut und Haaren. In den liebenswerten, einfühlsamen, lebenslustigen Mann, der sie aus dem Dunkel zurück ins Licht geholt hatte. Dafür würde sie ihm ewig dankbar sein. Ihre Freunde und ihre Familie waren so erleichtert, dass sie wieder lächeln konnte, dass sie sie aus vollem Herzen ermutigten. Sie liebten Roger – so wie Clare. Also nahm sie seinen Antrag an, der zwar für ihren Geschmack ein bisschen schnell kam, aber das war eben Rogers Tempo. Nicht lange, da bekamen sie Jason.
Doch dann gab es auf einmal viele abendliche Meetings, Geschäftstermine außerhalb der Stadt. Tagsüber war Roger nicht erreichbar, weil er in Kundengesprächen war. Aber wenn er dann zu Hause war, machte er all das vergessen – das war seine Art. Unwiderstehlich und begehrenswert. Es gelang ihm immer, ihre Zweifel in Windeseile zu zerstreuen.
Allerdings war das Leben mit ihm anders, als sie es sich ausgemalt hatte. Es war auch anders als mit Mike, der weniger charmant und lebensfroh, aber zuverlässiger gewesen war. Es gab viele einsame Nächte, in denen Clare ihr Baby allein in den Schlaf wiegte – während sie auf Roger wartete, der viel später als erwartet nach Hause kam – und in denen sie davon träumte, dass sie auf Mike wartete und ihr gemeinsames Kind in den Armen hielt.
Wegen ihres kleinen Fehltrittes in der Vergangenheit bemühte sie sich besonders, eine gute Ehefrau zu sein. Clare hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich immer wieder vorstellte, Jason wäre Mikes Kind – bis sie Jahre später erfuhr, dass Roger sie schon während ihrer Schwangerschaft das erste Mal betrogen hatte. Es gab einen Grund dafür, warum er nie Zeit hatte und immer so spät nach Hause kam. Und der Grund hieß Jill. Soweit Clare wusste, war Jill die Erste.
Statt ihr Prinz auf dem weißen Pferd zu sein, wurde Roger zu dem Kreuz, das sie zu tragen hatte. Zu der ihr auferlegten Buße dafür, dass sie mit dem Bruder ihres Verlobten geschlafen hatte. Immer, wenn sie Pete begegnete, blieb sie distanziert, während er sie mit traurigen Augen anschaute. Es sah nicht so aus, als ob sie beide sich jemals von dem erholen würden, was sie getan hatten. Clare versuchte es sogar mit einer Psychotherapie und erzählte in ihren Sitzungen alles ganz offen und ehrlich, aber dennoch strampelte sie sich weiter ab in ihrer verlogenen Ehe.
Und genau das war ein weiterer Grund dafür, warum sie Roger immer wieder zu ihr zurückkehren ließ: Wenn sie nicht vergeben konnte, würde auch ihr nicht vergeben werden. Und außerdem wollte sie, dass ihr Leben etwas wert war. Sie wollte, dass ihre Familie nicht auf der Strecke blieb. Und natürlich war Roger eben auch verführerisch und charmant – dem konnte sie sich nicht so leicht entziehen.
Doch dann wachte sie in Reno im Krankenhaus auf, und ihr ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Da erkannte sie zum ersten Mal nach all den Jahren, dass ihre Ehe endgültig gescheitert war.
Es war Zeit weiterzuziehen.
Wenn es etwas gab, das damit vergleichbar war, halb tot aus einem Autowrack geborgen zu werden, dann war es die Physiotherapie. Jeder Schritt, den sie tat, durchschoss Clare wie eine Ladung Dynamit, jede Streckübung war die reinste Folter. Ihr erster Gedanke am Morgen war, dass sie die Leiden der Verdammten zu erdulden hatte. All diese Übungen wurden ihr von einer teuflischen kleinen Person aufgezwungen, die nicht größer als ein Waldgeist war. Sie hieß Gilda, und man tat gut daran, sie nicht zu unterschätzen. Sie hatte ein schwarzes Herz und Bärenkräfte.
»Noch einen Schritt, kommen Sie! Einen noch! Gut! Gut! Okay, und noch einen …«
»Ich … hasse … Sie … so … sehr…«
»Ah, süße Worte. Sie werden mir noch danken, wenn Sie wieder Rumba tanzen!«
»Ich … werde … Sie … verklagen …«
»Noch einen Schritt! Schluss mit dem Gejammer! Gut! Gut! Wie wär’s mit noch einem?«
»Sie werden so leiden. Das schwöre ich bei Gott!«
Gilda küsste sie auf die Wange. »Sie sind ein harter Brocken, Clare. Gut, dass Sie so fit waren, als Sie den Unfall hatten – das macht sich jetzt bezahlt.«
»Sie sind eine gemeine Hexe.«
»Ja, das höre ich immer wieder.«
Die Belohnung für die durch Gilda erlittenen Qualen bestanden für Clare in einem starken Schmerzmittel, einem Schaumbad und einem Nickerchen. Dann kam schon wieder Besuch. Und damit das Dilemma: Clare langweilte sich, und sie fühlte sich einsam, außerdem war es jämmerlich unbequem im Bett. Gleichzeitig war sie zu müde, um allzu viel Besuch zu ertragen, freute sich aber trotzdem über alle, die zu ihr ins Krankenhaus kamen.
Ihre jüngere Schwester Sarah kam täglich vorbei und Maggie an den meisten Nachmittagen. Oft brachte sie Jason mit. Ihr Schwager Bob schaute in der Regel kurz am Abend vorbei. Er arbeitete überwiegend in Carson City, der Hauptstadt des Bundesstaates Nebraska. Clares Vater George ging immer noch jeden Tag in seine Eisenwarenhandlung. Ruhestand war ein Fremdwort für ihn, auch wenn er schon weit über sechzig war. Eins hatte sich allerdings in seinem Tagesablauf verändert – er machte neuerdings eine Mittagspause, die er im Krankenhaus bei seiner Tochter verbrachte. Manchmal kam er auch noch mal abends vorbei, wenn er auf dem Weg nach Hause war. Seine Putzfrau Dotty kam auch fast jeden Tag, und immer hatte sie Süßigkeiten fürs Krankenhauspersonal dabei. »Damit bestechen wir sie«, meinte Dotty. »Sie sind netter zu dir, wenn sie was Süßes bekommen.«
Clares Mutter Fran war an Krebs erkrankt, als Jason drei Jahre alt war, und kurz darauf gestorben. Sarah hatte der Verlust schwer zu schaffen gemacht. Sie war damals erst einundzwanzig gewesen und wieder zurück zu ihrem Vater gezogen, dem sie aber alles andere als eine Hilfe war. Beide magerten ab und verwahrlosten etwas, deswegen plünderten Maggie und Clare ihre Konten und stellten Dotty ein, die zweimal in der Woche ins Haus kam und den Kühlschrank mit gesunden Lebensmitteln füllte. George protestierte zwar zuerst, nahm dann aber rasch wieder zu, und auch die Flecken und Knitterfalten auf seiner Kleidung gehörten bald der Vergangenheit an. Und Sarah, die so verloren gewesen war, hatte nun wieder eine Mutterfigur, die sich um sie kümmerte.
Dotty war Witwe und ein paar Jahre älter als George. Als Clare und Maggie sie einstellten, arbeitete Dotty noch für vier verschiedene Familien, inzwischen erledigte sie nur noch Georges Haushalt. »Ich mag ihn nicht besonders«, log sie durch ihre falschen Zähne, »aber es ist doch ganz klar, dass er alleine nicht zurechtkommt. Und wenn ich etwas Nettes für seine verstorbene Frau tun kann, ist es, dafür zu sorgen, dass er ihr nicht allzu bald folgen wird.«
Die einzige Person, die noch nicht an Clares Krankenbett aufgetaucht war, war Roger. Aber wie das so ist mit Dingen, die zu schön sind, um wahr zu sein – eines Tages tauchte er doch auf. Er hatte bis zum Abend gewartet, kurz vor dem Ende der Besuchszeit, und sich irgendwie am Personal vorbeigemogelt. Er sah sie mit einem Dackelblick an, der wohl bedeuten sollte: Ich bin so ein Mistkerl, du musst einfach Mitleid mit mir haben, weil ich so leide. Was der arme Roger nicht wusste: Kaum erblickte Clare ihn, hatte sie wieder dieses Bild vor Augen – die schlanke Blondine auf ihm. Und es machte sie rasend.
»Clare«, sagte Roger. »Ich habe schon mehrfach versucht, dich zu besuchen, aber deine Schwestern haben behauptet, dass du mich nicht sehen willst.«
Sie schaltete das Licht ein. »Das stimmt auch, Roger. Geh bitte. Ich bin schwer verletzt, und du machst es nicht besser.«
»Ich möchte mit dir über Jason reden.«
Sie schaltete das Licht wieder aus.
»Ich denke, er sollte zu mir ziehen«, verkündete Roger.
»Wieso das denn?«, fragte Clare völlig perplex. »Du arbeitest den ganzen Tag und abends meistens auch noch. Was soll Jason bei dir?«
»Wir organisieren im Elternpool die Fahrten zur Schule. Ich werde weniger arbeiten. Er kann sein altes Zimmer wiederhaben.«