C. L. POLK

WITCHMARK

DIE SPUR DER TOTEN

Aus dem Englischen
von Michelle Gyo

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Witchmark«
im Verlag Tom Doherty Ass., New York

© 2018 by Chelsea Polk

Für die deutsche Ausgabe

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Illustration des Originalverlags

© Will Staehle

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96395-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11563-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für AJ und Tom,
die jeden Tag da waren

1

Ein Notfall

Das Memo roch nach der Farbe des Matrizendruckers und schlechten Nachrichten. Natürlich begann es mit den üblichen Hurra-Rufen, weil unsere Jungs gesiegt hatten und endlich nach Hause kamen, doch es enthielt den Befehl, sechzehn Patienten bis zum Ende der Woche aus meiner Obhut zu entlassen. Ich hatte keine zehn Männer, die man, ohne dass sie eine Gefahr darstellten, zu ihren Familien nach Hause schicken konnte. Das war nicht zu verantworten, und das würde ich Mathy ins Gesicht sagen.

Das grünliche Gaslicht im Treppenhaus wich dem der weißgoldenen Aetherlampen in der Eingangshalle, und ich musste mich zwingen, nicht zusammenzuzucken, als ich das vertraute Prickeln und Summen der modernen Beleuchtung wahrnahm. Die Frau an der Eingangsloge winkte mich zu sich, doch ich ignorierte die Zettel in ihrer Hand.

»Haben Sie Dr. Matheson gesehen?«

»Guten Abend, Dr. Singer. Sie ist vor zwanzig Minuten gegangen.« Sie nickte und deutete nach links.

Matheson hatte das Memo spät geschickt, um zu verschwinden, bevor sich die Neuigkeit herumsprach. Sie wollte nicht diejenige sein, die Veteranen nach Hause schickte, bevor sie dafür bereit waren. Diese Verantwortung lastete auf mir.

»Sie sind nicht der Einzige, der nach ihr fragt.« Die Angestellte drückte mir Nachrichten in die Hand. »Sie sind alle früh gegangen. Abteilungsleiter, Mitglieder des Verwaltungsrats … Es ist schlimm, nicht wahr?«

»Zwangsentlassung der Patienten.« Meine Finger streiften ihre kaum, und doch nahm ich mit meiner Gabe die alte Wunde an ihrem Schultergelenk wahr, die in mattem Rot schimmerte. Meine Finger juckten, sie zu heilen. Ich zog mich zurück.

Sie rollte Zettel zusammen, schob sie in Röhren und steckte diese in beschriftete Ablagefächer. »Nun, damit wird Platz geschaffen für die Soldaten, die heimkommen, nicht wahr?«

So war es. Der Krieg in Laneer war vorüber, und wie vorhergesagt hatte Laneer vor Aelands Macht kapituliert. Das war ein freudiges Ereignis, sicher. Doch wenn ich an die gut fünfzigtausend Soldaten auf dem Heimweg dachte, und die Möglichkeit, dass sie ähnliche Probleme wie meine Patienten hatten … Ich ignorierte die Übelkeit in meinem Magen und stopfte die Nachrichten in meine Manteltasche zu dem zerknitterten Memo. »Was ist mit Robin?«

»Hab sie nicht gesehen. Die Krankenschwestern sind in einer Besprechung.«

Dieses verdammte Memo, und keine Robin in der Nähe zum Jammern. »Danke. Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Abend.« Ich nickte ihr höflich zu und ging zum Ausgang, zögerte aber kurz, als ich die schwere Tür aufdrückte.

Es ist völlig sicher draußen. Das wusste ich, dennoch streifte ich die Bäume mit einem prüfenden Blick, als ich durch die Tür des Hospitals hinaustrat. Die Zweige bogen sich unter den reifenden Äpfeln, und nicht unter dem Gewicht von feindlichen Heckenschützen.

Alles sicher hier. Der immerwährende Sommer Laneers und das Geschützfeuer befanden sich auf der anderen Seite des Ozeans. Ich war zu Hause in Kingston, wo die Räder der Kutschen und Reifen der Fahrräder über die regenfeuchten Straßen glitten und die kühle Luft den nahenden Winter ankündigte. Ich klopfte auf meine Taschen, suchte nach Zigaretten, die ich absichtlich nicht mehr bei mir trug. Vielleicht würde Robin mir eine geben. Beim Ewigen Hort, nach diesem Tag konnte ich eine gebrauchen.

Kutschglocken aus Messing, trillernde Fahrradklingeln und Rufe erklangen nicht weit entfernt, und sie kamen näher. Eine Kutsche schlingerte um die Kurve und Fahrradfahrer stoben auseinander wie aufgeschreckte Fische. Der Kutscher zog an den Zügeln und stemmte sein Gewicht gegen die Bremse. »Notfall!«, rief er und brachte die aufgeregten Pferde zum Stehen.

In meinem Bauch breitete sich Kälte aus. Wir waren kein Notfallhospital. Falls sie einen Chirurgen benötigten, musste ich das Skalpell in die Hand nehmen, und ich hatte keines mehr angerührt, seit ich aus dem Krieg zurückgekehrt war.

Die Tür der Kutsche öffnete sich mit einem Schlag, und ein breitschultriger Gentleman sprang heraus, der einen Kranken in den Armen hielt. Der Kopf des Patienten rollte zu mir herum, und mein Herz schlug hart in meiner Brust. Er war nicht einfach krank, dem wächsernen Aussehen seiner Haut nach zu urteilen, starb dieser Mann. Er hob zittrig eine Hand und verkrallte sich in das Revers meines Mantels.

Ich legte meine Arme unter die Schultern und Knie des Patienten. »Ich bin Dr. Singer, Sir. Ich übernehme jetzt.«

»Ich fand ihn auf der Straße.« Statt ihn loszulassen, packte der Gentleman meine Arme, und wir bildeten mit den Händen eine Art Trage zwischen uns. Er nickte mir über den Kopf des Patienten hinweg zu. »Mein Name ist Tristan Hunter.«

Er korrigierte seinen Griff an meinen Armen und lief los, als müssten wir vor einer Büchsengranate fliehen. Wo hatte er gelernt, wie man Verletzte transportierte?

Der Kranke tastete erneut nach mir.

»Sir? Können Sie mir Ihren Namen sagen?«

»Nick Elliot«, sagte der Kranke. »Helfen Sie mir, Gesternter. Ich werde ermordet.«

Ich stolperte. Der Gentleman blickte mich mit aufgerissenen Augen an.

»Er fiebert.« Meine Entschuldigung klang schwach.

Wir liefen eilig an der Menge vorbei, die sich um den Rundfunkapparat in der Eingangshalle drängte, Gesichter mit hervorquellenden Augen, die uns anstarrten. Eine Gruppe Schwestern trat aus dem Hörsaal A heraus. Robin – gedankt sei den Hütern – löste sich aus ihrer Mitte und folgte uns in einen leeren Behandlungsraum. Mr. Hunter führte das Wenden und Ablegen des Kranken in der Dunkelheit so fachkundig durch wie die geschulten Sanitäter, mit denen ich im Krieg zusammengearbeitet hatte.

Er trat zurück, um das Licht anzumachen. Der harsche, weiße Glanz des Aethers knisterte auf meiner Kopfhaut und beleuchtete Mr. Elliots blasse Miene und die dunkelvioletten Augenhöhlen.

Robin zog Gummihandschuhe an, doch ich sparte mir die Mühe. Sie fing meinen Überzieher auf, den ich abgestreift hatte, und streckte die andere Hand bereits nach meinem Bowlerhut aus.

»Gift«, keuchte er. »Im Tee. Bitte, Gesternter. Helft mir.«

Sagen Sie das nicht laut. Ich riss sein Hemd auf, das befleckt von Erbrochenem war. Knöpfe aus Abalonemuschel klimperten über den Fliesenboden. Ich legte meine bloßen Hände auf seine Brust und rang selbst ein Aufkeuchen nieder.

Mr. Elliots Aura war so grün wie frische Frühlingsblätter. Ein Fremder mit der Aura einer Hexe, der auf meinem Tisch starb? Ein Desaster!

Robin drückte mir ein Stethoskop in die Hand. Mr. Elliots Puls ließ meine Hoffnung darauf, ihn zu retten, schwinden, sein Atem ging mühsam und unregelmäßig in der knochigen Brust.

»Ist noch ein Infusionsset übrig?«

Robin riss die Schubladen auf. »Nein.«

»Such eins. Besser zwei. Los.«

Robin rannte aus dem Zimmer. Ich spreizte die Finger auf der Brust des Fremden. Das dunkelrote Licht seines Herzens stockte. Graue Teilchen sammelten sich in seinem Bauch und den Nieren: stumpf, auch wenn es sich nach Metall anfühlte. Er war vergiftet worden, und es kam nicht von verdorbenem Essen oder schmutzigem Wasser. Ich konnte diesen Mann nur mit Magie retten.

Die angespannten Muskeln in meinen Armen und Beinen zitterten. Ich konnte ihn retten. Er würde reden. Dann landete ich in einem Sanatorium … oder noch schlimmer, meine Familie rettete mich vor dem Sanatorium.

Mr. Elliot holte rasselnd Luft. »Ich war zu nahe dran. Sie brauchten Seelen. Der Krieg …«

Er würgte und rollte sich von mir weg, übergab sich. Ich hielt ihn fest. »Versuchen Sie, nicht zu sprechen.«

Er holte erneut mühsam Atem und sprach weiter. »Finden Sie meinen Mörder, Sir Christopher.«

Ich erstarrte. »Ich bin Dr. Singer.«

Er tastete nach meinem Arm. »Versprechen Sie es mir.«

Statisches Knistern raste über mich hinweg. Tentakel aus grünem Licht schossen aus seinen Fingern und wanden sich meinen Arm hinauf. Ich kämpfte gegen seinen Griff an, doch die Ranken hielten mich fest, ragten aus seinen Fingern, die mich gepackt hatten.

Ich stolperte rückwärts, versuchte, mich zu befreien. Er hielt mich fest und fiel von der Untersuchungsliege, landete schreiend auf den Fliesen. Die Lichtranken zogen sich zusammen und sanken unter meine Haut.

Nick Elliot hob den Kopf. Er klammerte sich an die letzten Fetzen seines Lebens, und sein Griff um meinen Arm zitterte.

»Nehmen Sie es«, sagte er. »Bitte. Nutzen Sie es, um sie zu retten.«

Es war keine Zeit, ihn zu fragen, wen ich retten sollte, oder vor was. Die Seelen, hatte er gesagt. Und er kannte meinen richtigen Namen.

»Bitte, Sir Christopher«, keuchte er. »Die Soldaten … sie verdienen die Wahrheit.«

Die Wahrheit über was? Den Krieg? Ich war nicht sicher, ob die Soldaten auf meiner Station noch mehr Wahrheiten vertragen konnten. Ich verstärkte meinen Griff um seine Hand. »Das werde ich.«

Nicks Macht schlang sich um mich, versuchte, sich mit meiner zu verbinden. Er brauchte hierfür meine Hilfe. Ich hörte einen Atemzug lang auf, gegen die Ranken anzukämpfen, und öffnete mich.

Ich hatte mich seit Jahren nicht mehr mit jemandem verbunden. Hatte geglaubt, ich würde es niemals mehr tun. Seine Qual fuhr durch mich hindurch, seine Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu und seine Macht erfüllte mich, als er jeden winzigen Rest hergab.

Das Behandlungszimmer verblasste, als eine Vision mich überkam. Ich wankte über einen abgewetzten Teppich mit hellrotem Rosenmuster, stolperte auf meinem Weg die Treppe hinab. Meine Innereien fühlten sich zerfetzt an, und ich schwankte über winzige schwarz-weiße Fliesen auf eine Haustür mit Glasfront zu. Ich musste Hilfe holen. Ich musste leben.

Die Lichtranken verblassten, und sein Körper wurde schlaff. Ich war nicht länger Nick Elliot. Seine letzte, eindrückliche Erinnerung verblasste mit seinem Leben. Ich tastete nach seinem Puls, nach seinem Atem, doch das nur noch der Form halber. Er war tot.

»Miles!«

Robin stand in der Tür und umklammerte ein Infusionsset. Sie ließ es auf den Utensilienschrank fallen und kniete sich neben mich. »Bist du verletzt?«

Robin musterte mich, ihre behandschuhte Hand schwebte neben meiner Schläfe, als wäre dort etwas. Hitze und Kälte rasten über meine Haut hinweg. Meine Finger kribbelten, und das Gefühl kroch meinen rechten Arm hinauf. »Blute ich?«

»Nein«. Ihre Augenbrauen waren besorgt zusammengezogen. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

»Ich bin in Ordnung«, sagte ich. »Hilf mir, ihn auf den Tisch zu legen.«

Seine Macht wallte in mir auf. Ich musste dringend nachsehen, ob ich nicht bei jeder Bewegung Licht versprühte. Was hatte er mit mir gemacht? Ich rappelte mich hoch und versuchte, Nick Elliot aufzuheben.

Robin blickte über meine Schulter. »Sir? Was tun Sie hier?«

Angst kroch über meinen Rücken.

Mr. Hunter stand hinter mir, in einer Ecke, er hatte alles gesehen und gehört.

Meine Hände wurden eiskalt. Er würde Robin alles erzählen, sobald er nicht mehr vor sich selbst leugnete, was er gesehen hatte. Er würde jedem erzählen, dass ein Hexer mich mit einem Zauber belegt hatte, dass der Hexer mich Gesternter genannt hatte, oder noch schlimmer, Sir Christopher. Wie hatte ich ihn vergessen können?

»Verzeihen Sie mir«, sagte er. »Ich wollte nicht im Weg stehen. Man weiß nie recht, was man in solchen Situationen tun soll.«

»Es tut mir leid, dass Sie das mit ansehen mussten«, sagte Robin. »Er hatte große Schmerzen. Möchten Sie vielleicht einen Moment im Foyer für sich sein? Ich kann Ihnen auch einen leeren Behandlungsraum suchen …«

Ja. Schaff ihn hier raus.

»Danke, mir geht es recht gut.« Er verneigte sich kurz vor mir, mit höflichem Lächeln, dann musterte er mich. »Doktor, wollen Sie sich setzen? Sie sehen erschüttert aus.«

Zur Hölle mit diesem Mann. Was hatte er vor? Er hatte alles gesehen, doch er blickte mich mit höflicher Besorgnis an. Ich richtete mich auf. »Mir geht es gut, danke. Ich hasse es, wenn ich jemanden nicht retten kann.«

Robin und ich legten Nick Elliot auf den Tisch, richteten seine Glieder und schlossen ihm die starr blickenden Augen.

Mr. Hunter stand am Fuß des Untersuchungstischs, die Hände hinter dem Rücken. »Er sagte, er wurde ermordet. Stimmt das?«

»Ich nehme eine Obduktion vor, um das herauszufinden«, sagte ich. »Die Polizei muss in jedem Fall verständigt werden.«

Im Schrank rechts unten waren die Laken. Ich breitete eines über Nick Elliots Körper, verhüllte ihn mit weißem Leinen. »Sie sagten, Sie fanden ihn auf der Straße.«

Mr. Hunter zupfte am Saum des Lakens, sodass es glatt herabhing. »14th West Ecke Wellston.«

»14th West? Das Wakefield-Cross-Hospital ist näher.« Robin beugte sich herab und hob die Knöpfe auf.

»Er bat mich, hierherzukommen.«

Mein Herz schlug fest – einmal, zweimal. Ein Hexer war absichtlich nicht in das beste Hospital in Kingston gegangen, sondern hierhergekommen. Um zu mir zu kommen. Ich ging langsam zum Steinwaschbecken des Behandlungsraums hinüber und drehte das heiße Wasser auf. Ich nahm ein Stück grellrote Seife und machte die vertrauten Bewegungen – erst die eine, dann die andere Hand mit kreisenden Bewegungen einseifen –, um mich zu beruhigen und nachzudenken. Mr. Hunter hatte alles gesehen. Und er hatte kein Wort gesagt.

»Wir müssen das melden«, sagte ich.

»Ich lasse ihn hinunterbringen.« Robin hatte eine Krankenakte auf den Tisch gelegt. »Kümmerst du dich um die Aufnahme?«

Der antiseptische Geruch der Karbolsäure stieg von meinen glitschigen Händen auf. »Ich mache es morgen.«

»Morgen ist der Benefiz-Lunch.«

»Hüter, bewahrt mich vor dieser Zeitverschwendung.«

Mr. Hunter richtete sich ein wenig auf und runzelte die Stirn angesichts meines Ausrufs, während ich die Hände mit einem Leinentuch trocknete. »Es tut mir leid, Sir, doch ich muss mich darum kümmern. Wenn ich nichts mehr für Sie tun kann?«

»Tatsächlich …« Mr. Hunter nahm meinen Dienstmantel und meinen zweitbesten Hut. Er hielt mir beides hin, als wäre er mein Kammerdiener. Ich legte den Mantel über meinen linken Arm, und packte die Krempe des Huts. In der Tasche knisterte Papier – das verdammte Memo.

»Ich würde mich gern unter vier Augen mit Ihnen unterhalten. Ich werde nicht viel Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.«

Und da waren sie. Die Drohungen. Erpressung. Was immer er für sein Schweigen verlangte.

»Wir können in meinem Büro reden.«

2

Verhandlung

Ich stieg die achtzig Stufen zu meinem Büro mit flatterndem Magen und Ärger auf den Fersen hinauf. Ich zwang meine Füße dazu, sich zu bewegen, hielt den Kopf hoch erhoben und versuchte, mir meine Ohnmacht nicht anmerken zu lassen. Mr. Hunter konnte zu Bericht geben, dass mich ein Hexer Gesternter genannt hatte, und allein dies würde eine Untersuchung nach sich ziehen. Da käme ich niemals mehr raus.

Mr. Hunter hielt die gesamten vier Treppen Schritt mit mir. »Steigen Sie diese Stufen jeden Tag?«

»Mehr als einmal«, sagte ich. »Treten Sie ein.«

Er erfasste alles mit einem Blick. Ich hatte kaum genug Platz für meinen Schreibtisch, und ein Gästestuhl lehnte zusammengeklappt am Fenstersims. Er würde seitwärts sitzen müssen, da der Platz zwischen meinem Schreibtisch und der Regalwand zu knapp war.

Er beugte sich nach unten, musterte meine broschierten Groschenromane und inspizierte dann meine kleine Sammlung medizinischer Notizbücher. Er maß mit einem weiteren Blick die Entfernung von Wand zu Wand und verzog das Gesicht.

»Winzig.«

Seine abschätzige Geste ließ mein Rückgrat steif werden. Ich hatte eine schöne Aussicht über den Südgarten. Viele Ärzte beneideten mich darum. »Sie wollten einen Ort, an dem wir ungestört sprechen können.«

»Ich vermute, dass Sie ebenso wenig wollen wie ich, dass jemand diese Unterhaltung mithört.«

Er legte seine Handschuhe und den Hut ab, und unter anderen Umständen wäre sein Anblick erfreulich gewesen. Sein Haar war so lang, dass er es zu einem goldenen Zopf geflochten trug. Dieser Zopf lag auf seiner Schulter und reichte bis über den Mantelkragen. Seine formelle Kleidung war rein, als hätte Nick Elliots Übelkeit sich gescheut, seine Erscheinung zu besudeln. Er war nach der neuesten Mode gekleidet, und sein Gesicht hätte auf jede Kinoleinwand gepasst – goldene Symmetrie der Gesichtszüge mit feinen Knochen und kühn blickenden blauen Augen. Die Linien um seinen Mund deuteten auf eine heitere Natur, und das Licht in seinen Augen ließ darauf schließen, dass ihn etwas amüsierte, ohne dass er dabei grausam erschien. Alles in allem machte ihn das zum anziehendsten Mann, den ich seit Jahren gesehen hatte. Es war furchtbar schade, dass hierzulande Gentlemen keine Schauspieler wurden.

Denn er war ein Gentleman. Sein Mantel war aus gutem Kaschmir, seine Handschuhe aus feinem Ziegenleder, doch nicht nur das Gutsituierte – sein ganzes Auftreten zeugte von Gelassenheit und Privilegien. Als er seine Hand ausstreckte, nahm ich sie, ohne zu zögern. Sein Gesicht verwandelte sich kurz, so als würde ich ihn durch altes, welliges Glas betrachten. Ich behielt dank jahrelanger Übung meine liebenswürdige Miene bei. Doch das Flackern, das seine Züge verzerrt hatte … Was war das gerade gewesen?

»Nun. Sie sahen alles mit an«, sagte ich.

»Ja.«

»Hörten alles.«

»Leider ja.«

»Und Sie schweigen, wenn …«

Er verzog ganz leicht den Mund, er war atemberaubend. »An dieser Stelle erwarten Sie, dass ich anfange, zu drohen und zu erpressen, richtig? Soll ich Sie um Geld bitten, oder irgendeine Freveltat fordern?«

Ich hob unwillkürlich den Kopf, blickte ihn direkt an und lockerte meine zu Fäusten geballten Hände. »Bringen Sie’s hinter sich, ja? Es ist spät.«

Sein Lächeln verblasste. »Vergeben Sie mir meinen Scherz, bitte. Ich möchte genauso wenig mit einer Hexe in Verbindung gebracht werden wie Sie, Doktor. Wenn jemand hört, dass er versuchte, Sie mit seiner Macht zu berühren …«

»Bin ich ruiniert«, seufzte ich. »Sagen Sie mir, was Sie wollen.«

»Ich suchte jemanden wie Sie.«

Er wusste es. Wusste er auch, was Sir Christopher bedeutete? Mein Magen zog sich zusammen, und ich versuchte, mich mit einem langsamen Atemzug zu beruhigen. Er kam gleich zur Sache, seine Ehrlichkeit ein gerade geführter Klingenstreich. Er suchte eine Hexe. Er würde sich in meine Verhältnisse einmischen und dann nicht mehr verschwinden. Ich musste ihn loswerden. Doch tief in meinem Inneren wusste ich bereits, dass diese attraktive Erscheinung nicht mehr gehen und mir Schwierigkeiten bereiten würde.

Ich sagte nichts weiter. Die Menschen sprechen gewöhnlich, um die Stille zu füllen, um die Verbindung nicht abreißen zu lassen. Ich stand geduldig da und wartete.

Er lächelte mich an. Nicht beschwichtigend, da war kein Anzeichen von Unsicherheit. »Ich möchte wissen, wer Nick Elliot ermordet hat.«

Wollte er das? Ich stellte mich so, dass der Schreibtisch zwischen uns stand, und ordnete die Berichte auf der Schreibtischunterlage. »Warum? Sie kannten ihn nicht.«

»Nennen Sie mich einen Menschenfreund.«

Wäre ich nicht so gut erzogen, ich hätte ihm ins Gesicht gelacht. Menschenfreund. Gewiss. »Es muss mehr daran sein. Warum wollen Sie wissen, wer Nick Elliot ermordet hat?«

Er neigte den Kopf, und mir gefiel, wie seine Augen das Lampenlicht reflektierten wie die Augen einer Katze. »Interessant. Sie leugnen nicht, dass er ermordet wurde, Doktor.«

Oh, verdammt. »Das werde ich erst nach der Untersuchung wissen.«

Er neigte sich zu mir. »Werden Sie diese jetzt vornehmen?«

»Ich muss nach Hause, bevor meine Hausherrin die Tür verriegelt.«

»Ah. Sie möchten, dass ich zum Punkt komme.« Mr. Hunter lehnte sich an meinen Aktenschrank. »Ich muss wissen, warum die Magie stirbt.«

Ich blieb stumm. Die Magie starb? Das stimmte nicht. Er lag falsch …

Verdammt! Er hatte mich mit dieser Äußerung schockiert. Ich beeilte mich, es wiedergutzumachen.

»Ich verstehe«, sagte ich. »Und woher sollte ich die Antwort kennen?«

»Ich möchte, dass Sie mir helfen, sie zu finden. Sie und Nick Elliot sind die einzigen Hexen, die ich in Aeland getroffen habe. Mr. Elliot ist tot. Doch Sie sind am Leben und frei.«

Und ich hatte es Nick versprochen, nicht wahr? Er hatte mir seine Macht gegeben, damit ich die … Wahrheit herausfand. Über den Krieg, vermutete ich. Den Krieg, den ich zu hassen gelernt hatte, den Krieg, der so viele Männer innerlich zerrüttet hatte. Mr. Hunter wollte helfen, er wusste bereits zu viel über mich, kannte zu viele meiner Geheimnisse. Ich hatte keine Wahl, als zu leugnen. »Sie möchten, dass ich Ihnen helfe, herauszufinden, wer Nick Elliot vergiftete, und das Wissen führt Sie … Nein, das ist verrückt. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Das können Sie, Sir Christopher. Und ich kann Ihnen dabei helfen.«

Mir blieb die Luft weg. Das war schlimmer als Erpressung.

Ich war aufgeflogen.

Lauf, befahl ich meinen nutzlosen Beinen. Lauf!

»Sie haben Angst«, sagte er. »Das brauchen Sie nicht. Ich bin genauso in Gefahr wie Sie.« Mr. Hunter hob eine Hand, die zur Faust geballt war. Die Ränder seiner Finger glühten rot, und er öffnete die Hand, um mir ein winziges Licht zu zeigen. Der Kern brannte heller als eine Kerze, heller als Gaslampen, beinahe so hell wie Aether.

Falls er die Wahrheit sagte, konnte das nur zwei Dinge bedeuten: Er war ein Hexer von niederer Geburt in feinen Kleidern, oder er war ein geflüchteter Magier wie ich. Er bot mir diese Zurschaustellung seiner Magie als Zeichen des Vertrauens an. Er konnte mich denunzieren, doch ich konnte ihn ebenso denunzieren.

Falls er nicht log. Außerdem sollte ich ihn in jedem Fall denunzieren. Ich versuchte es mit einem letzten Bluff. »Es tut mir leid. Wie erzeugen Sie dieses Licht?«

»So.« Er hob das Licht an und berührte damit meine Hand.

»Was …?«

Und wieder berührte ein anderes Ich das meine, angespannt und hoffnungsvoll in dem Augenblick, bevor diese Macht sich mit meiner verband. Ich riss meine Hand zurück. Das Licht haftete an meinen Fingern, flackerte ohne seine Berührung, die es festigte, verblasste und erstarb beinahe.

»Verbinden Sie sich damit«, sagte er. »Berühren Sie es, wie Sie es mit einem Herzen tun würden.«

Das Licht beruhigte sich, flackerte ein wenig schwächer als zuvor. Es tanzte auf meinen Fingerspitzen und mein Blut rauschte, als ich mich dank der Magie größer fühlte, scharfsichtig und mächtig.

Das hatte ich so sehr vermisst.

Er berührte mich wieder und leitete meine Bemühungen. »Sie leben. Sie sind frei. Doch Sie sind ungeschult.«

Das kleine Licht leuchtete. Ich hatte den Trick erkannt, wie ich es halten und mit kleinen Impulsen meiner Macht nähren musste, damit es brannte.

Ich hob den Blick von dem Licht und sah in Mr. Hunters Gesicht. Sein warmes Lächeln spiegelte das Staunen wider, das ich spürte. Ich konnte die Verbindung zwischen dem Licht und mir nicht sehen. Ich versuchte, es dazu zu bringen, heller zu leuchten …

Ein Windstoß, eine lose Glasscheibe klirrte. Ein Luftzug und meine Gaslampe flackerte, die Kälte sickerte in mein Bewusstsein: Konnte uns jemand sehen? Ich schloss die Faust. Meine Knochen schienen Schatten, gebadet in Rot, bevor schließlich das Licht erlosch und mich klein und frierend zurückließ. Ich befand mich voll und ganz in seiner Hand.

»Helfen Sie mir, herauszufinden, wer Nick Elliot ermordete, und alles, was ich Sie vor der Frostnacht lehren kann, gehört Ihnen.« Er stützte das Kinn auf seine Hand und musterte mich. »Wir beginnen damit, wie Sie Ihr wahres Wesen verbergen können, denke ich. Sie strahlen, Gesternter, für jeden sichtbar, der die Macht hat zu sehen.«

Hinter der Tür, die er da einen Spalt breit öffnete, lagen Möglichkeiten. Kingston würde wieder mir gehören, wenn ich für die hochgeborenen Magier, die magische Auren sahen, gewöhnlich erschien. »Was geschieht dann?«

Er zögerte. »Dann muss ich nach Hause zurück.«

Nur bis zur Frostnacht. Wie viel Ärger konnte er noch machen, wenn er in acht Tagen verschwunden wäre?

Zu viel Ärger, das wusste ich. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich muss mich um die Patienten kümmern.« Doch Nick Elliot hatte ein besseres Hospital verschmäht und versucht, mir etwas über den Krieg und die Soldaten zu sagen, bevor er starb. Was hatte er gemeint? Und wer wollte ihn deshalb töten?

»Nie würde ich einen Heiler bitten, seine Patienten im Stich zu lassen«, sagte er. »Doch wenn ich Ihnen etwas beibringe, mit dem Sie ihnen helfen könnten, wäre es das nicht wert?«

Wenn er mir half, etwas gegen die Dinge zu unternehmen, die ich sah, wenn ich sie berührte …

Nein. Keine Wunder mehr. Doch was auch immer Nick Elliot gewusst hatte, war mit ihm gestorben, außer jemand machte sich daran, es aufzudecken. Wenn Nick gewusst hatte, was meine Patienten plagte, warum sie litten, ob ihre schlimmsten Ängste vor Gräueltaten wahr würden …

Eine der Treppenstufen knarrte. Mr. Hunter riss alarmiert die Augen auf, ich nahm wieder meinen Platz ein, als hätten wir uns über den Schreibtisch hinweg unterhalten, und er klappte den Besucherstuhl auf und ließ sich lässig darauf nieder. Schritte näherten sich. Kreppgummisohlen. Eine Krankenschwester.

Ich entspannte mich wieder.

Die Silhouette vor dem Milchglasfenster der Tür war dunkel und klein, das Klopfen vertraut. Robin öffnete die Tür und schob sich seitlich hindurch. »Du kannst die Berichte bis morgen liegen lassen. Die Polizei kommt nicht.«

»Nicht? Warum?«

»Sie sind alle bei einem anderen Mord. Der Mörder ist ein Veteran, wie beim letzten Mal. Schrecklich, nach dem was ich gehört habe.«

Robin erblickte Mr. Hunter und senkte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich wollte nicht stören.«

Er stand auf. »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken, Mrs. …«

»Das ist Miss Robin Thorpe«, sagte ich. »Robin, Mr. Tristan Hunter.«

»Hocherfreut, Miss Thorpe.« Er streckte die Hand aus, verwandelte das aber in eine höfliche Verneigung, als Robin den Kopf zum Gruß neigte.

»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Hunter, aber ich habe gerade die Leiche berührt. Angenehm, Sie kennenzulernen«, sagte sie, dann wandte sie mir ihre Aufmerksamkeit zu. »Miles, hast du mich gehört? Du brauchst diesen Bericht nicht sofort zu schreiben.«

»Ich sollte jetzt Abschied nehmen, damit Sie nach Hause gehen können, Doktor. Ich hoffe, Sie werden über mein Angebot nachdenken. Darf ich Ihre Antwort morgen erwarten?«

Ich zögerte. Es war nicht klug, mich da hineinziehen zu lassen, doch was immer Nick gewusst hatte, wenn es meinen Patienten half … brauchte ich es. Verdammt.

»Kommen Sie am Nachmittag. Meine Schicht ist um vier Uhr vorbei.«

»Ich freue mich darauf.« Er tippte kurz an seinen Hut und ging. Meine Haut kribbelte, als ob er mich noch immer berührte, mich anleitete, das Licht am Leuchten zu halten.

Robin wartete, bis Mr. Hunters Schritte auf dem ersten Treppenabsatz verklangen, die Hände auf den Hüften. Sie wandte sich um und sah mich an.

»Welches Angebot?«

Meine Stifte lagen durcheinander auf der Schreibunterlage. Ich ordnete sie und die Berichte, die ich geschrieben hatte. »Er will wissen, ob Nick Elliot ermordet wurde. Bekomme ich eine zu rauchen?«

Sie grinste. »Nein. Nur an schlechten Tagen.«

»Ich habe einen Patienten verloren. Ist das schlecht genug?«

»Nein. Warum kümmert es diesen hochmütigen Kerl, ob es ein Mord war?«, fragte Robin mit zusammengekniffenen Augen. »Sagte er nicht, er fand Elliot auf der Straße?«

»Das tat er.«

»Was, wenn er selbst Nick Elliot getötet hat und nun die Ermittlung vereiteln will?«

Kluge Robin. Doch wenn er es gewesen war, warum hatte Mr. Elliot ihn dann nicht beschuldigt? »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Ich schätze, du kannst der Polizei sagen, dass er ein wenig zu interessiert ist«, sagte Robin. »Sie übernehmen immerhin die Ermittlungen.«

»Das kann ich.« Ich hatte nicht vor, das zu tun. Mr. Hunter musste mich nur denunzieren, und ich war erledigt. »Was machst du noch hier? Solltest du nicht deine Schicht wegen des Lunchs aufteilen?«

»Du musst auch nach Hause. Du musst morgen bei dem Lunch besonders reizend zu einer reichen Witwe sein. Das Budget für die Wäscherei wird noch einmal gekürzt. Wir brauchen dringend Spenden.«

Also hatten die gemeinen kleinen Sparmaßnahmen des Verwaltungsrats diesmal die Pflege getroffen. Beauregard brauchte Geld, doch das verschlang sich von selbst. »Ich bitte sie um fünftausend Noten.«

Ich hatte ein Lächeln erwartet angesichts einer solch ungeheuerlichen Summe, doch sie schob die Hände in die Taschen ihres dicken grauen Rocks. »Da ist noch etwas.«

»Was?«

»Ich habe meine Kündigung eingereicht. Ich gehe an die medizinische Fakultät.«

Mir blieb die Luft weg.

Robin war die beste Krankenschwester im Hospital. Sie war meine Freundin. Alles würde zusammenbrechen ohne sie. Die Patienten würden ein Jahr darauf warten, bis sie sie behandelte, wenn sie erst einmal Dr. Robin Thorpe wäre. Sie verließ das Hospital … verließ mich.

Ein guter Mann würde sich für sie freuen. »Hervorragend. Herzlichen Glückwunsch. Queen’s Universität?«

»Ja. Ich beginne zum Frostmonat.«

»Allgemeinmedizin?«

»Chirurgie.«

Die Warteliste in meinen Gedanken verdoppelte sich. »Deine kleinen Hände sind perfekt dafür. Du wirst auf einer Kiste stehen müssen.«

Sie lachte. »Ich könnte Stelzen nehmen.«

Mein Herz zog sich zusammen. Sie würde die Beste sein. »Ich werde dich vermissen.«

»Nein, wirst du nicht. Wir bleiben in Kontakt. Obwohl du auch von hier weggehen solltest.« Sie machte eine ausholende Geste, die das ganze Hospital einschloss. »Du bist so viel besser als das hier.«

»Sie brauchen mich.« Keiner der anderen Ärzte in der Abteilung für Psychische Leiden hatte den Krieg erlebt. Sie wussten nicht, wie die »hoffnungslos unterlegenen« Laneeri unter Zuhilfenahme von Überraschung, Lautlosigkeit und Brutalität zurückgeschlagen hatten. Die Männer hier brauchten mich. Nach all dem, was ich in Laneer erlebt hatte und tun hatte müssen, könnte ich sie niemals im Stich lassen.

Robin seufzte. »In Ordnung. Für heute lasse ich es gut sein. Doch du musst nach Hause gehen.«

»Ich sollte meine Berichte schreiben …«

»Die können warten, Miles. Geh nach Hause. Schlaf in deinem eigenen Bett, und lass uns morgen bei der Benefizveranstaltung Spaß haben.«

»Was würde ich ohne dich nur tun?« Das würde ich herausfinden müssen. Sie würde gleich nach der Frostnacht weg sein.

»Du kommst zurecht.« Robin gab mir den Hut, entschlossen, mich hinauszuscheuchen.

Ich war schon fast zu Hause, als ich das Feuer roch. Und kurz darauf sah ich es: Ein schmales Holzhaus brannte mitten im Viertel, die Giebel standen in Flammen. Eine rußverschmierte Frau starrte dumpf auf die Möbel, die ihre Familie aus dem Haus geschleppt und auf der Straße abgeladen hatte, während Nachbarn eilig Decken, Wasser und Gebete brachten.

Ich war in Nullkommanichts von meinem Fahrrad abgestiegen. »Ich bin Arzt«, rief ich. »Geht es allen gut?«

Ein großer Mann im Ledermantel eines Schweißers brachte ein kleines Mädchen zu mir, das blass war und weinte. »Sie hört nicht auf.«

»Sind Sie ihr Vater?«

»Ein Nachbar. Der Vater ist auf Schicht an den Druckerpressen. Alle haben es rausgeschafft, aber der nächste Feuerwehrwagen ist in der Trout Street.«

Von der Hitze der Flammen spannte die Haut in meinem Gesicht, doch die Nachtluft kroch mir kalt in den Nacken. Wolken bedeckten den Himmel, zu denen sich der schwarze Rauch gesellte, der von dem brennenden Haus aufstieg. »Sind alle aus den Nachbarhäusern draußen?«

Er gestikulierte in Richtung der Menschen, die Möbel, Werkzeugkisten, Uniformen und Lebensmittel aus ihren Häusern trugen. Der Wind war im Augenblick auf unserer Seite, doch die hohen, schmalen Häuser im neunzehnten Viertel auf der East Raven Street standen dicht aneinander. Eine Bö konnte das nächste Dach in Flammen setzen, und das nächste, und ein Feuerwehrwagen für ein ganzes brennendes Viertel wäre, als pisste man auf ein Lagerfeuer.

Die kalte Brise ließ meinen Nacken kribbeln, und ein hohes Heulen hallte in meinen Ohren, so wie Aether sich anfühlt, nur dass es immer näher kam. Die Menge teilte sich vor der langen Schnauze eines schnittigen, sagenhaft noblen schwarzen Automobils.

Ich wich mit dem weinenden kleinen Mädchen in den Armen zurück. Sie hatte ein wenig Rauch eingeatmet, doch die frische Luft würde ihr helfen. Ich verbarg mein Gesicht hinter ihr, als die schweren Türen des Autos sich öffneten und ein Mann ausstieg.

Er war wie für eine Opernpremiere gekleidet. Er umrundete den Wagen und öffnete die Beifahrerseite, verneigte sich dann vor der Frau, die in einer Wolke aus Lavendelzigarettenrauch aus dem Gefährt ausstieg. Ein glitzerndes schwarzes Abendkleid umhüllte ihre eleganten, blassen Glieder, und eine Schneefuchsstola lag um ihre Schultern. Ich erkannte die Familie, der sie angehörte, an dem patrizischen Schwung ihrer langen Nase und der eisigen Blässe ihres Haars. Sie war eine Carrigan, eine Sturmsängerin, und wenn sie jetzt zu mir herübersah, war alles vorbei.

Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. Sie blickte nicht zu mir oder zu sonst jemandem in der Menge auf der Straße, sondern zog es vor, sich auf die Wolkenbank über dem Feuer zu konzentrieren, während das bernsteinfarbene Licht auf ihrer Haut leuchtete. Der Mann wartete zwei Schritt hinter ihr. Sie stand mit zurückgeneigtem Kopf da, den Pelz um die Schultern geschlungen, und wirkte Magie direkt vor den Augen der Menschen, die auf der Straße standen.

Kein Anzeichen der Anstrengung war ihr anzumerken, doch die Knie ihres Sekundärs knickten ein, als sie so viel seiner Kraft nahm, wie es ihr beliebte. Ich schauderte. Das wäre ich gewesen, wenn ich nicht geflohen wäre. Nichts als der Speichellecker eines Sturmsängers, meine eigene Gabe als nutzlos abgetan.

Ich wandte mein Gesicht ab, als die Sturmsängerin und ihr Lakai zum Wagen zurückkehrten. Sie fuhren davon, während die Wolken über unseren Köpfen sich zusammenzogen, gewaltig und dunkel vor Wasser. Erste Tropfen landeten auf den Wangen der Zuschauer, die nach oben blickten. Das kleine Mädchen in meinen Armen hörte auf zu schluchzen, als der Regen auf ihre Stirn fiel, und sie wand sich mir vom Arm und rief dabei: »Regen! Regen!«

Bald klebten den evakuierten Nachbarn die Nachthemden an der Haut. Sie priesen den Regen als Wunder, umarmten einander erleichtert. Es war tatsächlich ein Wunder für sie. Sie hatten keine Ahnung, dass eine wohlhabende Frau mit glitzernden Perlen und einem Pelz ihre Mietshäuser mit Magie gerettet hatte. Wie konnten sie auch? Magie war selten, war ein gefährlicher Fluch. Sie brachte niemandem Glück. Ich stieg auf mein Fahrrad, und fuhr so schnell gen Osten, wie meine Beine es erlaubten.

Ich musste mich klein machen, um möglichst nicht aufzufallen. Falls Mr. Hunter mich lehren würde, wie ich meine Macht abschirmte, könnte ich aufhören, nur durch die Nebenstraßen von der Arbeit nach Hause zu fahren. Ich müsste zwar im East End bleiben, doch ich könnte in Restaurants gehen, ins Kino, außerhalb des Hospitals ohne Sorge, mitten unter die Leute. Und falls Nick verstanden hatte, was es mit den Albträumen und den Obsessionen meiner Patienten auf sich hatte, würde ich Mr. Hunters Hilfe nicht mehr ablehnen können.

Als ich über die Kreuzung 32nd East und Magpie Road fuhr, war das Pflaster vollkommen trocken. Von meiner Beinahe-Entdeckung und dem überschäumenden Gefühl von Nicks Macht war mir übel geworden. Ich war nur entkommen, weil ich keiner Beachtung wert war. Ich hatte nur überlebt, weil ich für tot gehalten wurde.

Ich packte den Lenker fester und trat härter in die Pedale.

3

Eine bescheidene Maus

Um halb sieben Uhr morgens schreckte ich die Spatzen von dem hohen Eisenzaun auf, der um die Gärten des Beauregard-Veteranen-Hospitals stand. Ich hantierte an meinem Fahrradschloss, noch mit Handschuhen, und meine Finger kribbelten weiterhin von Nicks Macht und dem Drang, diese einzusetzen.

Die Absätze meiner besten Schuhe hallten durch die Eingangshalle. Die Plätze um den stummen, drahtlosen Radioapparat waren nicht besetzt. Ich wünschte einem Paar Chirurgen in roten Offiziersuniformjacken einen guten Morgen. Ihre Medaillen schwangen, während sie meinen grauen Flanellanzug missbilligend musterten. Missbilligung, nicht Entsetzen oder Abscheu. Hätte jemand davon erfahren, wäre mein Geheimnis längst im ganzen Hospital bekannt gewesen. Mit einem Mal fiel mir das Atmen wieder leichter.

Die Hälfte der Aetherlichter auf der Station für Psychische Leiden waren noch ausgeschaltet. Die Abteilungsschwestern grüßten mich mit einem Lächeln, arbeiteten aber weiter, unbeeindruckt von meiner Anwesenheit.

Niemand wusste also etwas.

Ich fröstelte, nahm meinen weißen Arztkittel vom Haken und wünschte mir, eine Strickjacke darunter zu haben. Eine Krankenschwester legte Zeitungen für mich auf den am besten beleuchteten Schreibtisch der Station, während der Kaffee gurgelnd fertig brühte.

»Danke, Kate.«

Sie nickte. »Werden Sie später Ihre Uniform anziehen, Doktor?«

»Ich habe Sie nicht dabei.« Würde sie es verstehen? »Ich fände es nicht richtig.«

Sie musterte mich. »Sie waren in Kalloo.«

Ich hatte meine ganze Zeit dort verbracht. »Mobiles Hospital 361«, gab ich zu. »Beauregard Bataillon.«

Der Zweifel, den ihre Mundwinkel ausdrückten, löste sich. »Ich hatte drei Brüder im Princess Anna’s.«

Hatte. »Kam einer von ihnen nach Hause?«

»Albert ist gerade auf dem Weg.«

»Das freut mich.«

Ihr Lächeln sank in sich zusammen.

Ich bot ihr mein Taschentuch, doch sie hatte selbst eines. Alle ihre Brüder waren gegangen, um in Sir Percys Krieg zu sterben. Gestorbene Geschwister hinterließen eine Lücke, die bei jeder Berührung schmerzte, und ich dachte an meine eigene Schwester, während ich Kate Smalls Hand streichelte.

Sie sammelte sich und ging, um den Bericht des Nachtdiensts zu holen, und ließ mich mit den Zeitungen zurück, die Kingstons zwei Seiten widerspiegelten.

Die Titelseite des Herald zierte eine Fotografie von Dame Grace Hensley, die das Band zu Kingstons neuestem aetherbetriebenem Batterieaustauschdepot durchschnitt. Ein Hensley Triumph, verkündete die Schlagzeile, und darunter 300 neue Stellen rechtzeitig für die Heimkehr der Soldaten.

Ich strich mit den Fingern über Dame Graces Gesicht und schob dann den Herald zur Seite.

Der Star hatte die Druckerpressen zugunsten einer Riesenschlagzeile gestoppt. Fett stand dort ein einziges Wort: Grauen!

Ein mutiger Fotograf hatte das Risiko, eingesperrt zu werden, auf sich genommen, um das Bild zu machen, das sich über die Titelseite zog. Man musste sicher eiserne Nerven haben, um sich in dieses Schlachthaus zu wagen. Ich erkannte die schwarzen Streifen auf der Tapete. Die Gestalten unter den weißen Laken darunter waren klein und reglos.

Ich las die Geschichte von Korporal James Badger, der seine Frau und Kinder mit einem Küchenmesser erstochen hatte, bevor er die Klinge gegen sich selbst richtete. Die Nachbarn hatten berichtet, dass er nach seiner Rückkehr aus dem Krieg seltsam still und zurückgezogen gewesen war. Ein Giftmord kam nicht dagegen an. Nicks Geschichte würde bloß eine Lücke zwischen konkurrierenden Anzeigen für aetherbetriebene drahtlose Empfänger und Telefondienste füllen.

»Wie schrecklich.« Kate legte die Dienstberichte ab und las über meine Schulter mit. »Glauben Sie …?«

Ich fing ihren Blick auf und keiner von uns wagte, auszusprechen, was wir dachten. Ich schob den Star von der Stationsschreibtischunterlage. »Möchten Sie die Zeitung?«

Sie faltete sie zusammen. »Die Patienten sollten das nicht sehen.«

»Sie könnten versuchen, es zurückzuhalten.« Die Männer würden die Geschichte dennoch über den Radioempfänger hören. Sie würden es einander erzählen, und die Geschichte würde bei jeder Erzählung weiter ausgeschmückt.

Die Kaffeemaschine verstummte. Ich schob den Stuhl zurück, doch sie fragte: »Sie nehmen ihn schwarz?«

»Ja, danke.«

Eine Kopie des Memos vom Vortag lag auf der Theke und erinnerte mich daran, dass ich ein Drittel meiner Patienten würde entlassen müssen. Bei all der Aufregung gestern hatte ich kaum mehr daran gedacht.

»Hat jemand Dr. Matheson gesehen?«

»Nicht um diese Zeit. Das Memo?« Kate gab mir eine dampfende Tasse, die ich mit beiden Händen entgegennahm.

»Natürlich.«

»Niemand möchte so viele nach Hause schicken, Doktor.«

Nicht ohne Heilung, oder auch nur die Diagnose, die ich mir kaum vorzustellen wagte: dass die Veteranen in meiner Hospitaleinheit mit Korporal James Badger mehr gemeinsam hatten als ihren bloßen Kriegseinsatz. Schickte ich einen Mann nach Hause, und es käme zu einer Bluttat, würde ich mir das selbst nie verzeihen können. Ich musste Nick Elliots Geheimnis aufdecken. Ich hoffte, dass es mir verriet, was ich tun sollte. »Ich weiß. Doch sie sind nicht bereit.«

Kate tätschelte meine Schulter und ließ mich allein, damit ich den Papierkram des vergangenen Abends lesen konnte. Die Dienstprotokolle waren eine Chronik der Frustration: Patienten wollten nicht schlafen. Patienten wollten ihre Medikamente nicht nehmen. Patienten leisteten Widerstand.