Inhalt

Über das Buch

Kapitel – 1 –

Kapitel – 2 –

Kapitel – 3 –

Kapitel – 4 –

Kapitel – 5 –

Kapitel – 6 –

Kapitel – 7 –

Kapitel – 8 –

Kapitel – 9 –

Kapitel – 10 –

Kapitel – 11 –

Kapitel – 12 –

Kapitel – 13 –

Kapitel – 14 –

Kapitel – 15 –

Kapitel – 16 –

Kapitel – 17 –

Kapitel – 18 –

Kapitel – 19 –

Kapitel – 20 –

Kapitel – 21 –

Kapitel – 22 –

Kapitel – 23 –

Kapitel – 24 –

Epilog

Glossar

Oliver Schlick über DAS CRIME-ZERTIFIKAT

Der Autor

Über das Buch

Ein Krimi um kleine Gauner – mittelgroße Gauner – Betriebswirtschaftler Pius Nordberg liebt Zitronenschaumcreme, schwärmt für Lana Del Rey und führt ein entspanntes Ganoven-Dasein als Geldeintreiber für Gangsterboss Papa Ambros, einen klein gewachsenen Gangsterboss von sanftem Gemüt. Die Beschaulichkeit endet jäh, als Papa Ambros zu Tode kommt. Unfall oder Mord?

Die Frage lässt Pius nicht zur Ruhe kommen. Doch damit nicht genug. Gleichzeitig muss er grundlegende Änderungen in seinem Arbeitsalltag verkraften: Nach Papa Ambros’ Tod leitet dessen überambitionierter Sohn das kriminelle Geschäft und führt Controlling-Maßnahmen und Zertifizierungsprozesse ein.

Was Pius und seine Kollegen vor ganz neue Herausforderungen stellt: Wie bringt man jemanden, dem man gerade die Finger gebrochen hat, dazu, einen Kundenzufriedenheitsbogen auszufüllen? Und wo um alles in der Welt gibt es Fortbildungen zu Waterbording im Inkassowesen?Während Pius sich mit den absurden Zumutungen des Qualitätsmanagement herumplagt, ereignet sich ein zweiter mysteriöser Todesfall – und er findet sich in einem gefährlichen Katz- und Maus-Spiel mit einem Mörder wieder…

– 1 –

»Du bist wunderschön. Und dein Duft … Wie ein wilder Zitronenhain in einer Sommernacht. Was hältst du davon, wenn du es dir hier gemütlich machst und dich etwas ausruhst? Und nachher, wenn ich zurückkomme, werden wir eine aufregende sinnliche Erfahrung teilen. Bis später. Ich freue mich auf dich«, wispere ich der Zitronenschaumcreme zu, verziere sie mit einem Minzblättchen, öffne den Kühlschrank und schiebe die gelb glänzende Masse in das unterste Fach.

Als ich mich aufrichte, tut es einen gewaltigen Schlag. Für einen Moment bleibt mir die Luft weg, ich taumle zwei Schritte zurück, vor meinen Augen blinkt eine mittelgroße Sternengalaxie. »Fuck! Verdammtes, unnützes, überflüssiges Drecksding!« Ich werfe der lächerlich überdimensionierten Dunstabzugshaube, die wie ein feindliches Raumschiff über der Küchenzeile schwebt, einen vernichtenden Blick zu und reibe mir den Schädel. Die Abzugshaube und ich geraten ständig aneinander, und diese Art von plötzlich auftretendem Kopfschmerz befällt mich mit schöner Regelmäßigkeit.

Es gibt jede Menge Typen in meinem Alter – ich bin seit letzter Woche neununddreißig –, die schon eine blank polierte Murmel spazieren tragen. Ich neige glücklicherweise nicht zur Glatzenbildung, sondern bin stolzer Züchter und Träger einer schulterlangen Matte und bete fleißig, dass das noch möglichst lange so bleibt. Sollte ich irgendwann kahl werden, wird auf meinem Kopf eine mondähnliche Kraterlandschaft zum Vorschein kommen. Wenn man zwei Meter groß ist, führt man einen nie endenden Kampf gegen hinterlistige Hängelampen, bösartige Deckenbalken und aggressive Abzugshauben. Ich beschleunige den Genesungsprozess mittels ein paar nicht druckreifer Verwünschungen, atme tief durch, ziehe die Jeansjacke über, binde mir die Haare zu einem Zopf und verlasse die Wohnung.

Auf dem Flur riecht es wie drei Tage Blumenkohl. Gerade als ich den Lift rufen will, öffnet sich die Aufzugstür, und ich blicke auf ein Ungetüm von Kinderwagen. Dahinter steht eine blasse, übernächtigt wirkende Gestalt mit dunklen Augenringen. Anoushka wohnt erst seit ein paar Monaten hier. In der Wohnung gegenüber. Sie ist eine elfenhafte Erscheinung mit Dreadlocks und Einhorn-Tattoo auf dem Oberarm, die so dermaßen leise spricht, dass man ständig versucht ist, ihr ein Megafon in die Hand zu drücken.

»Hallo, Pius«, wispert sie piepsstimmig und schenkt mir ein etwas verzweifelt anmutendes Lächeln. Anoushka ist zweiundzwanzig, hat einen vierjährigen Sohn (Jonny-Lee), eine elf Monate alte Tochter (Bonny-Lee) und einen Käppchen tragenden, gewalttätigen Exfreund, der sie bedroht. Genauer gesagt – und um mal unnötige Dramatik rauszunehmen: der sie bedroht hat. Vor ein paar Wochen sah ich mich gezwungen, ihm die möglicherweise sehr drastischen Konsequenzen seines Verhaltens bildhaft zu verdeutlichen.

Seitdem herrscht Ruhe.

Ich helfe Anoushka, den Kinderwagen aus dem Aufzug zu bugsieren, und frage: »Alles gut? Was macht Bonny-Lee?«

»Zahnt noch immer«, haucht sie mit matter Stimme. »Ich weiß gar nicht mehr, wie es ist, durchzuschlafen.«

»Und sonst?« Ich blicke sie prüfend an. »Noch mal Probleme mit deinem Ex?«

»Nein.« Sie lächelt dankbar. »Nicht mehr, seit du … Danke, Pius! Ohne dich wäre ich diesen Irren nie losgeworden. Willst du auf einen Kaffee mit reinkommen?«

»Ist nett, Anoushka, aber ich muss arbeiten.«

»Dann vielleicht ein anderes Mal«, haucht sie, bevor sie stutzt und die Stirn in Falten legt. »Ist doch schon fast Mittag. Ziemlich ungewöhnliche Zeit, um zur Arbeit zu gehen, oder? Was genau machst du eigentlich, Pius?«

»Inkassowesen«, antworte ich lächelnd und trete in den Aufzug. Die Tür schließt sich mit einem durchdringenden Quietschen, und die Kabine rattert in Richtung Erdgeschoss. Ich taste die Innentasche meiner Jacke ab, um sicherzugehen, dass ich den Beutel mit dem Gras eingesteckt habe. Alles da, wo es sein soll.

Als ich aus dem Haus komme, beginnt es wie auf Kommando zu regnen. Es ist Mitte Juli, aber seit vier Wochen herrscht übelstes Dreckswetter. Zu allem Überfluss ist Bernward noch nicht da. In letzter Zeit kommt er dauernd zu spät: familiäre Probleme.

Hast du Familie, hast du Probleme! Davon kann ich ebenfalls ein Liedchen singen, auch wenn meine Familie nur aus mir und meiner Mutter besteht – die aber eine Unruhe stiftende Anarchistin und nicht weniger anstrengend ist als ein Stall voller Kinder.

Wenn Bernward noch unterwegs ist, kann ich mir eben schnell Tabak und Blättchen besorgen. In Cem’s Büdchen. Den Kiosk im Erdgeschoss gab es schon, als ich hier eingezogen bin. Damals hörte er noch auf den poetischen Namen Trinkhalle Süd und wurde von einer verhärmten Alten geführt, die mich bei jedem Einkauf so misstrauisch beäugte, als wollte ich ihr den Laden ausräumen. Dann ist sie krank geworden – ich tippe mal auf schlimmste Missgünsteritis –, und Cem hat den Laden übernommen, der seitdem folgerichtig Cem’s Büdchen heißt. Jedem Büdchen seinen Besitzer, und jedem Besitzer seinen Apostroph.

Normalerweise begrüßt mich Cem mit einem kumpeligen »Hey, Mister Quarterback! Wie läuft das Spiel?«, worauf ich entgegne: »Ich wünschte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.« Darauf er: »Kennst du einen, kennst du alle.« Und ich: »Besser Sonne im Herzen als Scheiße am Schuh.«

Aber heute gibt es kein freudiges »Hey, Mister Quarterback!«. Wortlos schiebt mir Cem ein Päckchen halbschwarzen Tabak und Blättchen über die Verkaufstheke.

»Was hat dir denn die Laune vergällt?«, frage ich. »Ordnungsamt oder Finanzamt?«

»Mennlein!«, knurrt er und deutet durch das Schaufenster zur Straße, wo eine Figur in kariertem Pullunder eifrig fotografierend um einen Lieferwagen schleicht, dessen rechtes Hinterrad knappe zwei Zentimeter auf dem Bordstein steht. Horst Mennlein nervt die armen Schweine auf der nahe gelegenen Polizeiwache tagtäglich mit Unmengen erdrückender Beweisfotos, die schockierende Parkvergehen dokumentieren. Ginge es nach ihm, würden solche und ähnliche Schwerstdelikte mit einer zünftigen Steinigung geahndet.

»Wieso hast du Stress mit ihm?«, frage ich Cem.

»Er hat gedroht, mir das Ordnungsamt auf den Hals zu hetzen. Weil meine Eis-Werbeschilder immer auf dem Bürgersteig stehen. Wo soll ich sie denn sonst aufstellen? Vielleicht da vorne, auf dem Zebrastreifen?«

»Ich dachte, Mennlein hätte es nach unserem letzten Gespräch verstanden«, seufze ich, bezahle und werfe Cem im Hinausgehen einen aufmunternden Blick zu. »Ich kümmere mich drum. Du weißt ja, mein Freund: Die Kuh ist nicht vom Eis, bevor es dem Esel nicht zu wohl wird.«

»Das ist wahr. Besser ’n heiler Krug im Brunnen als ’ne brechende Taube auf dem Dach. – Danke für deine Hilfe, Mister Quarterback!«

Einen wie Mennlein gibt es in jedem Haus, in dem mehr als zehn Mietparteien wohnen. Einen verhinderten Blockwart mit Denunziationsfetisch und reichlich Empörungspotenzial. Einen von den ganz, ganz doll besorgten Bürgern.

Drei Tage nach meinem Einzug hatte ich genug gehört und gesehen, um zu der abschließenden Analyse zu kommen, dass Horst Mennlein ein Riesenarschloch ist. Er schikanierte die Studenten-WG unter mir, hetzte gegen das schwule Paar aus dem ersten Stock und belästigte Heike Bonner, die Friseurin, die über mir wohnt, mit schmierigen Andeutungen.

Also habe ich mir Mennlein zur Brust genommen. Wenn ich mich mit was auskenne, dann damit, Leuten Angst zu machen. Schließlich verdiene ich so meine Brötchen.

Unsere schicksalhafte Begegnung fand im Müllkeller statt. Mennlein sah mich nicht kommen, weil er mit dem Oberkörper über einer Tonne hing, einen Joghurtbecher herausfischte und gollumartig vor sich hin zischte: »Noch halb voll. Die scheinen es ja zu haben, die Damen und Herren Studenten.«

Ich ließ die schwere Stahltür mit einem metallischen Klicken ins Schloss fallen. Mennlein fuhr herum und machte ein Gesicht wie ein schockgefrostetes Erdmännchen. Ihm war sofort klar, dass was ganz Ungutes im Anzug war.

Mennlein sieht so aus, wie er heißt – ich sehe aus wie Mister Quarterback. Dreißig Zentimeter größer und doppelt so schwer wie sein Gegenüber zu sein hilft, wenn man ein dringendes Anliegen vorbringen möchte – zwingend notwendig ist es aber nicht. Ich habe auch schon Typen zum Weinen gebracht, die kräftiger waren als ich. Alles nur eine Frage von Psychologie und richtigem Timing.

»Hallo Mennlein«, sagte ich leise und lächelte.

»Was … was wollen Sie von mir?«, stotterte er, und ich konnte sehen, dass seine Hände zu zittern begannen.

Was tun Sie hier? Was wollen Sie? Was soll das? So etwas ähnlich Unintelligentes fragen sie alle in diesem Moment, wenn man einfach so dasteht und sie anlächelt. Nur Amateure brüllen an dieser Stelle los oder fuchteln dem Fragesteller mit einem Messer vor der Nase rum. Profis wissen, dass es viel wirkungsvoller ist, zu schweigen. Ich nenne das aktives Schweigen. Nichts macht Menschen mehr Angst als die Vorstellung davon, was ihnen zustoßen könnte. Dazu sollte man ihnen hinreichend Zeit lassen.

Ich zog meinen Tabak aus der Tasche, drehte mir in aller Seelenruhe eine Zigarette, inhalierte, stieß den Rauch durch die Nase aus und nahm Mennlein ins Visier. Dann spazierte ich ganz gemächlich auf ihn zu. Mennlein krallte sich an der Mülltonne an und sah aus, als stünde er kurz vor einer spontanen Blasenentleerung. Ich baute mich breitschultrig vor ihm auf und schüttelte traurig den Kopf. »Mennlein, Mennlein, Mennlein …«

»Ähm, ja?«, piepte er und drückte sich noch ein bisschen dichter an die Tonne.

»Weißt du, Mennlein, die Sache ist die: Mir sind ein paar unschöne Dinge in deinem Verhalten aufgefallen. Und ich würde dir gerne einige Ratschläge geben, bezüglich der Richtung, in die sich dein Verhalten ändern sollte, damit du und ich und alle in diesem Haus in einem harmonischen Miteinander leben können. Möchtest du meine Ratschläge hören?« Den letzten Satz flüsterte ich mit heiserer Stimme und beugte mich dabei tief zu Mennlein hinab, um sicherzustellen, dass er meinen Atem auf der Wange spürte. Was ausgesprochen effektiv ist. Meinem Gegenüber wird mittels dieser unmittelbaren sensorischen Erfahrung schlagartig klar, dass es nichts mehr gibt, was zwischen ihm und mir steht. Keine Mauer, kein Zaun, kein Polizist, nicht mal mehr eine Menschenrechtserklärung. Die meisten Menschen beginnen sich ab diesem Moment kooperativ zu verhalten.

»Ratschläge? Ich, ähm … Ja, ja. Sicher«, murmelte Mennlein und quälte sich ein liebdienerisches Lächeln ab.

Ich runzelte die Stirn. »Und du bist dir da wirklich ganz sicher, Mennlein? Ich meine, es ist nicht so, dass du denkst: Der Herr Nordberg fällt mir jetzt aber sehr lästig, da werde ich einfach mal seine Ratschläge über mich ergehen lassen, damit ich möglichst schnell wieder Ruhe habe? Du willst sie wirklich hören? Ganz, ganz unbedingt?«

»Ja, ja, ja. Ganz unbedingt!«, beteuerte Mennlein und nickte mit dem Kopf wie ein Wackeldackel auf Speed.

»Du weiß gar nicht, was für eine Freude du mir damit machst«, sagte ich und patschte ihm meine Rechte auf die Schulter. Dann unterhielten wir uns. Wobei die Unterhaltung so aussah, dass ich redete, während Mennlein beflissen nickte.

Seit der kleinen Müllkeller-Episode herrscht im Haus himmlischer Friede. Mennlein konzentriert sich seither auf die Falschparker. Die hab ich ihm gelassen. Als so eine Art Methadon-Programm für Denunziations-Junkies. Aber so wie es aussieht, vermisst er den echten Stoff so sehr, dass er einen schlimmen Rückfall hatte.

Auf dem Bolzplatz gegenüber von Cem’s Büdchen dreschen zwei Jungs einen Ball gegen den Maschendrahtzaun. Mennlein hüpft derweil um den Lieferwagen herum und schießt Beweisfotos.

»Na, mal wieder im Auftrag der göttlichen Gerechtigkeit unterwegs?«

»Oh, Herr Nordberg.« Augenblicklich stellt er das Fotografieren ein, blinzelt nervös und deutet mit entschuldigendem Blick auf sein Smartphone und den Lieferwagen. »Korrekt ist das ja nicht, wie der Wagen geparkt ist. Und da dachte ich … Sie haben doch nichts dagegen, Herr Nordberg?«

»Nein, nein«, sage ich großmütig. »Was Recht ist, muss Recht bleiben. Und sonst? Alles in Ordnung?«

»Ähm, ja. Alles … alles bestens, Herr Nordberg.«

»Freut mich, zu hören. Dann noch einen schönen Tag.«

Mennlein guckt ungläubig und scheint sich zu fragen, ob es das tatsächlich schon war. »Ihnen auch, Herr Nordberg«, schleimt er in dem devoten Tonfall, den er sich seit unserer Müllkeller-Begegnung angeeignet hat, und sieht zu, dass er Land gewinnt.

Er glaubt, er wäre davongekommen. Die Anspannung, die seinen Körper eben noch unter Strom gesetzt hat, weicht gerade einer grenzenlosen Erleichterung. Er kann sein Glück kaum fassen, wähnt sich in Sicherheit, und sein System wechselt in den Relax-Modus. Das ist der Moment, in dem es richtig wehtut! Wenn man mit nichts Bösem mehr rechnet. Als hätte man sich entspannt zum Kacken niedergelassen – und dann springt urplötzlich eine Ratte aus dem Abflussrohr und hackt einem die Beißer in die Eier.

Ich warte, bis er zehn Schritte entfernt ist, und rufe: »Ach, Mennlein?«

Er fährt herum und sieht aus, als hätte sich eine ganze Sippe von Nagern in seinen Sack verbissen. Ein panisches Flackern tritt in seine Augen. »Ähm, ja, Herr Nordberg?«

»Wie ich höre, hast du ein kleines Problem mit Cem? Wegen der Eisschilder?«

Mennlein wird blass, ringt die Hände und windet sich wie ein Aal. »Ich, äh … Nein, nein, nein! Da muss er mich … Das ist nur ein Missverständnis.«

»Puh! Da bin ich aber froh«, sage ich lächelnd. »Am besten, du klärst das jetzt sofort mit ihm.«

»Sofort? Ähm, natürlich, Herr Nordberg. Ich …, ja.« Er hastet in den Kiosk, und ich beobachte, wie er katzbuckelnd mit Cem spricht – als Bernwards verbeulter blauer Opel um die Ecke biegt.

»Ich weiß, ich bin zu spät«, sagt er, während ich mich in den Beifahrersitz fallen lasse. »Tut mir leid. Hatte noch ’ne längere Diskussion mit meiner Frau. Ging mal wieder um Erziehungsfragen.«

Bernward sieht schlimm aus. Sein Anzug und sein Gesicht konkurrieren darum, wer von beiden verknautschter ist, seine Frisur erinnert an eine nur halb gelungene Schamhaarverpflanzung, und seine Gesichtsfarbe ist zwei Stufen gelblicher als gewöhnlich. Bernward hat ein chronisches Magenleiden und schleppt in seinen Taschen eine ganze Apotheke mit sich rum.

»Gestern war Elternabend in der Kita«, seufzt er mit traurigem Dackelblick, schüttet zwei Tabletten aus einem Röhrchen und beginnt sie zu zerkauen. Bernward Kniehase hat es nicht leicht. Wer seine Familiensituation kennt, kennt auch den Ursprung seiner Magengeschwüre: Bernwards Frau hat seit anderthalb Jahren Hitzewallungen und rasante Stimmungsschwankungen, seine sechzehnjährige Gothic-Tochter hat ihr Leben den Mächten des Bösen geweiht und wurde kürzlich dabei erwischt, wie sie ein Pentagramm auf den Wagen ihrer Klassenlehrerin gesprüht hat. Und Bernwards spätes Glück, sein Nesthäkchen Luisa, offenbart in ihrer Kita erhebliches kriminelles Potenzial. Bernward läuft ständig zu irgendwelchen Schulkonferenzen, Elternabenden, Lehrergesprächen und Familientherapien.

»Was gab es diesmal?«, frage ich, während er den Opel in den Verkehr einfädelt.

»Luisa hat in der Kita einen Schwarzmarkthandel mit Süßigkeiten aufgezogen«, stöhnt er. »Und sabotiert damit natürlich das ganze Konzept von wegen ›Gesunde Ernährung‹, das sie da haben. Die Erzieherinnen waren stinksauer, und die großen Kobolde haben meine Frau und mich total in die Mangel genommen.«

»Die was?«

»Die Kita heißt Kleine Kobolde. Die Kinder sind die kleinen Kobolde und die Eltern …«

»Verstehe«, sage ich und zünde mir eine Zigarette an.

»Du führst ein beneidenswertes Leben.« Nachdenklich stoße ich den Rauch aus. »Was sollen diese bescheuerten Namen eigentlich? Als ich ein Kind war, hießen die Dinger einfach nur Städtische Kindertagesstätte Hubbelsbach oder Evangelischer Kindergarten Freistedt. Was ich nicht so schlimm fand, dass es bei mir ein frühkindliches Trauma ausgelöst hätte. Und heute? Kita Milchzahn, Kita Wuschelhaar, Kita Waldwichtel … Mann, Mann, Mann!«

Bernward zuckt mit den Schultern. »Ist halt kindgerechter.«

»Kindgerechter? Die Kinder werden garantiert nicht gefragt. Die Namen denken sich doch irgendwelche minimalkreativen Erzieherinnen mit Bastelzwang aus.« Einen Moment lang stutze ich. »Würde mich aber auch nicht wundern, wenn es Menschen gäbe, die so was hauptberuflich machen.«

»Häh?«, grunzt Bernward, glotzt mich begriffsstutzig an und übersieht beinahe eine rote Ampel.

»So was wie eine Agentur für Kita-Namen, die sich sämtliche Namensrechte gesichert hat. Und wenn man Kommune oder Kirchengemeinde oder Wohlfahrtsverband ist, geht man da hin und sagt: ›Guten Tag. Ich möchte eine Kita eröffnen. Haben Sie vielleicht was mit Tieren im Sortiment?‹ – ›Sicher. Da hätten wir die Tapsigen Tiger oder die Witzigen Watschelentchen. Aber soll es nicht doch lieber ein Märchenwesen sein? Oder wie wäre es mit Obst? Ist in diesem Monat im Angebot. Kita Wilde Erdbeeren oder Kita Weiche Birne.‹ Und dann –«

»Hast du heute Morgen schon was geraucht?« Bernward bedenkt mich mit einem skeptischen Blick.

»Nö. Aber wo du es gerade erwähnst …«, nuschle ich und ziehe den Grasbeutel aus der Jacke.

»Nicht im Auto!«, faucht Bernward, während er auf den Südring auffährt. »Nicht im Auto! Das war die Abmachung! Oder willst du, dass ich das Armaturenbrett vollkotze?«

»Ja, ja. Schon gut«, murmle ich und stecke den Beutel wieder weg. »Was liegt heute an?«

Bernward fummelt einen Zettel aus seinem Jackett und liest halblaut: »Patrick Bommel. Hellerweg 31. Den nehmen wir uns als Erstes vor. Papa Ambros sagt, der Auftrag hat Vorrang. Ist eine interne Sache.«

Papa Ambros ist unser Arbeitgeber und außerdem eine Seele von Mensch. Er hat so einiges am Köcheln: ein bisschen Kredit zu Wucherzinsen, ein wenig offensives Inkassowesen (die Abteilung von Bernward und mir), Grasvertickerei und Handel mit geklauten Autoteilen, gelegentlich auch mal Wettbetrug, Dokumentenfälschung oder eine gepflegte Erpressung. Alles eher gemütlich und nicht in großem Stil. Der kleinkriminelle Gemischtwarenladen von Papa Ambros hat gerade mal zwanzig Angestellte, freie Mitarbeiter eingeschlossen.

Interner Auftrag heißt, dass sich jemand bei Papa Ambros persönlich Geld geliehen hat und es nicht zurückzahlt. Daneben gibt es noch die externen Aufträge, bei denen wir auf Provisionsbasis arbeiten. In den meisten Fällen sind die Auftraggeber Handwerker oder Kleinunternehmer, die sich an Papa Ambros wenden, weil irgendein Arschloch ihre Rechnungen und Mahnungen ignoriert. Ob nun intern oder extern – in beiden Fällen ist es Aufgabe von Bernward und mir, die Zahlungsmoral der säumigen Schuldner zu heben.

Bernward fährt vom Ring ab, an einem stillgelegten Güterbahnhof und einem Schlachthof vorbei, dann durch eine Unterführung – und schon sind wir in Sankt Trostlos, wie das Viertel im Volksmund heißt. Da, wo ich wohne, ist auch nicht gerade Bel Air, aber das ist nichts gegen den Hellerweg: ein Hochhausghetto mit Satellitenschüssel-Wald, Pseudogrünfläche und Müll auf dem Bürgersteig. Und überall die heilige Dreifaltigkeit des sozialen Brennpunkts: Kippe, Kampfhund, Kinderwagen.

– 2 –

Bernward parkt neben einem überquellenden Altglascontainer, nimmt den Schmerzenskoffer vom Rücksitz, und wir überqueren gemächlichen Schrittes die Straße. Bernward ist nicht Bernward ohne seinen Koffer. Ein abgeschabter weinroter Kunstleder-Aktenkoffer, der seine besten Tage in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatte. Das sich darin befindliche Werkzeugsortiment ist allerdings top gepflegt und setzt sich aus dem zusammen, was man in der Inkassobranche eben so braucht: ein paar Messer, Zangen und grobe Feilen, ein Lötkolben, eine Gartenschere, Kabelbinder, mehrere Rollen Gaffa-Tape und Bernwards persönlicher Favorit: ein akkubetriebener Dentalbohrer, den er für kleines Geld auf einem Trödel in Tschechien erstanden hat.

Wir sind ein eingespieltes Team. Ich gehe immer als Erster rein, rücke meine zwei Meter samt Muskelmasse ins richtige Licht und markiere den bösen Mann – was in neunzig Prozent aller Fälle ausreicht, um zu bekommen, was man möchte. Weitere fünf Prozent der Schuldner werden zahlungswillig, wenn Bernward den Koffer öffnet und sie einen Blick auf sein Equipment werfen lässt. Nur in Fällen ganz hartnäckiger Uneinsichtigkeit muss er wirklich aktiv werden. Ich kann das nicht gut sehen und ziehe es vor, den Raum bei diesen Gelegenheiten zu verlassen und eine rauchen zu gehen.

Vor der Haustür lungert eine Bande Achtjähriger rum. Einer von ihnen deutet auf Bernwards wirres Haupthaar, und der ganze Verein bricht in heilloses Gelächter aus.

P. Bommel steht in Krakelschrift auf dem obersten Klingelschild.

»Scheiße«, mault Bernward. »Er wohnt ganz oben. Ich hoffe, es gibt einen funktionierenden Aufzug in dieser Baracke.« Vor zwei Jahren hat er mit dem Rauchen aufgehört, ist aber nicht bedeutend weniger kurzatmig als vorher.

Ich drücke mehrere Klingeln gleichzeitig und brülle in die Sprechanlage: »Die Stadtwerke! Wir müssten mal an die Stromzähler.« Irgendeiner öffnet immer.

Wie sich rausstellt, ist der Aufzug defekt, und oberstes Stockwerk bedeutet in diesem Fall: vierzehnte Etage. Ab dem dritten Stock beginnt Bernward zu keuchen, auf der elften Etage sieht er aus wie kurz vor einem Schlaganfall. Was nicht dazu beiträgt, ihn bedrohlich erscheinen zu lassen. Wir müssen eine dreiminütige Pause einlegen, bis er sich halbwegs erholt hat.

Im vierzehnten Stock ist das Flurlicht defekt. Ich aktiviere die Taschenlampen-Funktion auf meinem Smartphone und richte den Strahl auf die Namensschilder an den Türen: Hücke, Yildirim, Kwiatkowski … und Bommel.

»Hier ist es«, flüstere ich und stecke das Handy wieder weg.

»Bist du sicher?« Bernward kichert kurzatmig.

»Ja«, antworte ich genervt. »Bommel mit zwei M. Und hör auf, so dämlich zu kichern. So was passiert mir nicht ein zweites Mal.«

Bei einem Auftrag im letzten Jahr ist mir ein kleiner Fauxpas unterlaufen. Zu meiner Verteidigung: Auch damals war es ein dunkler Flur, und ich hatte tatsächlich schon was geraucht. Und dass zwei Mietparteien, die einmal Schultze und einmal Schulze heißen, direkt nebeneinander wohnen, kommt schließlich auch nicht jeden Tag vor. Als ich bei den t-losen Schulzes die Bude stürmte, bin ich in eine Hausgeburt geplatzt – was für keinen der Beteiligten schön war. Ich konnte nur »Sorry! Ist ein Irrtum« stammeln, habe hastig ein paar Scheine für die Kosten der Türreparatur am Fußende des Bettes abgelegt (ich kam mir vor wie einer der Weisen aus dem Morgenland) und gemacht, dass ich rauskam.

Aber hier gibt es nur einen Bommel, die Sachlage ist eindeutig. »Geh mal zur Seite«, sage ich zu Bernward und begutachte die Wohnungstür. Das übliche Pressspanmodell, das in diese Wohnbunker verbaut wird. Kein Problem. So was drücke ich zur Not mit der flachen Hand ein. Wie gesagt, ich stehe eigentlich auf die leise, psychologische Tour. Zeug zu zerschlagen ist was für geistlose Vollidioten. Eine eingetretene Tür bildet da die Ausnahme. Das Geräusch von splitterndem Holz, verbunden mit der Tatsache, dass plötzlich ein 2-Meter-Mann in der Wohnung steht, versetzt den säumigen Schuldner in den meisten Fällen so in Schockstarre, dass er weder an Flucht noch Gegenwehr denken kann.

»Pst! Hörst du das?«, fragt Bernward und presst das Ohr gegen die Tür. »Ist das live oder läuft da ’n Porno?«

»Wir werden es gleich wissen.« Ich gehe zwei Schritte zurück und nehme Anlauf, als sich die Tür der Nachbarwohnung öffnet. Im Türspalt erscheint ein verkniffenes Frauengesicht, und mir ist sofort klar, dass wir das hiesige weibliche Pendant zu Mennlein vor uns haben. »Wer sind Sie? Ich habe Sie durch den Spion beobachtet.

Sie haben hier nichts verloren. Ich rufe die Polizei!«, geifert sie.

»Wir sind die Polizei«, sagt Bernward, zückt eine Payback-Karte und hält sie ihr für eine Zehntelsekunde vor die Nase, bevor er sie wieder in seinem Jackett verschwinden lässt. »Und Sie behindern unseren Einsatz.«

»Ach du lieber Gott!«, entfährt es der Frau. »Aber wurde ja auch Zeit, dass da endlich mal eingegriffen wird.« Sie deutet mit ihrem knochigen Hexenzeigefinger auf die Bommel-Tür. »Bei den komischen Geräuschen, die da immer zu hören sind. Ich möchte gar nicht wissen, was der Kerl da drin veranstaltet.«

»Hören Sie auf, sich selbst und andere durch Ihr Verhalten zu gefährden. Gehen Sie zurück in die Wohnung«, kommandiere ich. »Sonst nehmen wir Sie wegen Verbrechensbekämpfungs-Voyeurismus fest. Verstanden?«

»Natürlich, Herr Kommissar.« Sie schluckt und hat es plötzlich eilig, die Tür zu schließen.

»Dann wollen wir mal!« Ich werfe mich gegen die Bommel-Tür, die krachend aus den Angeln fliegt, sprinte durch die Diele ins nächstgelegene Zimmer – und gucke mindestens genauso verstört wie das nackte Paar mir gegenüber, das offensichtlich bis vor drei Sekunden damit beschäftigt war, einen sehr privaten Film zu drehen. Live und Porno! Erschrocken fahren die beiden von einer Matratze hoch, vor der eine Kamera und ein Scheinwerfer aufgebaut sind. Die Frau, ein dralles Persönchen mit Pausbacken und Nippel-Piercings, kreischt panisch, starrt mich entsetzt an und zieht ein Laken vor den Körper. Der Kerl – Stirnglatze und Oberlippenbart – ist wie gelähmt vor Schreck und glotzt mich fischäugig an.

»Ach du Heiliger«, entfährt es Bernward. Mit weit aufgerissenen Glubschern betrachtet er den Mann. »Gute Güte! Der ist ja gewaltig!«

»Im Namen der Menschlichkeit: Bedecke dich!«, sage ich zu dem Oberlippenbart. Er greift nach einem T-Shirt, das neben der Matratze liegt, und hält es sich vors Gemächt. Was bedauerlicherweise immer noch nicht ausreicht, um …

»Würde es dir sehr viel ausmachen, mal wieder in den Sinkflug überzugehen?«, frage ich und versuche nicht zu genau hinzusehen.

»Tut mir leid«, krächzt er, »das klappt nicht. War vor dem Dreh ’n bisschen aufgeregt und hab vorsichtshalber Viagra eingeworfen.«

Die Frau klammert sich verängstigt an ihn und wispert: »Was sind das für Leute, Patrick?«

Zeit für meine übliche Ansprache.

»Wir vertreten einen bedauernswerten, enttäuschten Mann«, beginne ich, nehme das schnurrbärtige Viagraopfer ins Visier und versuche mich dabei auf den Bereich oberhalb seines Bauchnabels zu konzentrieren. »Papa Ambros hat dir sein ganzes Vertrauen geschenkt. Und dir einen Teil seines hart erarbeiteten Geldes zu bemerkenswert günstigen Konditionen geliehen. Weil er ein Menschenfreund ist. Ja, Papa Ambros ist ein Mann mit viel Gefühl. Und jetzt zweifelt er an der Welt, weil du ihn enttäuscht und das Geld nicht wie vereinbart zurückgezahlt hast. Er fängt schon morgens an, Feigenlikör zu trinken, und grämt sich. Und wenn ich Papa Ambros traurig sehe, dann werde ich auch traurig. Und meinen unberechenbaren Freund hier«, ich deute auf Bernward, der mit gelangweilter Miene neben mir steht, »den macht es regelrecht rasend.«

»Ra-send-vor-Wut-oh-ja-so-wü-tend«, leiert er seinen Text runter. Familiäre Probleme hin oder her – ein bisschen mehr Engagement könnte er schon zeigen.

»Mein Freund hat gesagt, er nimmt sich den Kerl, der Papa Ambros so traurig macht, mal richtig vor. Aber ich habe entgegnet: ›Nicht doch. Vielleicht verdient dieser Mann deinen Zorn gar nicht. Vielleicht hat er nur vergessen, Papa Ambros das Geld zurückzugeben. Fahren wir doch einfach mal bei ihm vorbei und erinnern ihn daran.‹ Und da wären wir. Und hätten jetzt gerne das Geld. Damit Papa Ambros nicht mehr traurig sein muss.«

»Ich … ich hab das Geld nicht«, stammelt Patrick Bommel, woraufhin Bernward tief seufzt und den Koffer aufschnappen lässt. »Halt! Sekunde! Warten Sie!«, kreischt der Pornoheld. »Ich hab das Geld noch nicht. Aber in spätestens zwei Wochen zahle ich alles zurück. Mit Zinsen. Ich schwöre!«

»Ich würde dir so gerne glauben«, sage ich und mache einen Schritt auf ihn zu.

»Hören Sie! Es ist folgendermaßen«, wimmert er. »Ilona und ich« – er deutet auf die Pausbäckige –, »wir hatten die Idee, ähm, Erwachsenenfilme zu drehen und sie im Internet zu verticken.«

»Verstehe«, sage ich. »Und das Geld brauchtest du für die Kameraausrüstung?«

»Ja. Auch. Aber in erster Linie …« Er deutet in seine unteren Regionen. »Pornos gibt es wie Sand am Meer. Da muss man sich schon was Spezielles einfallen lassen. Ein Markenzeichen. Und da kam ich auf den Gedanken mit der Penisverlängerung. Nach der OP gab es ein paar Komplikationen, und wir konnten mit den Drehs erst vor drei Wochen beginnen. – Aber es läuft total gut an. Wir haben schon jede Menge Abonnenten. Wenn es so weitergeht, haben wir das Geld in zwei Wochen locker zusammen. Ich hatte immer vor, es zurückzuzahlen. Bitte, glauben Sie mir!«

»Hmmm …« Bernward und ich verständigen uns mit einem kurzen Blick, dann klappt er seinen Koffer zu, und ich verkünde: »Also schön. Wie es aussieht, seid ihr ja fleißig bemüht, Betriebskapital zu erwirtschaften. Zwei Wochen. Aber keinen Tag mehr.«

»Danke!« Patrick Bommel atmet auf. Die Frau entspannt sich ebenfalls, lächelt erleichtert und sagt: »Das ist jetzt so was von voll nett von Ihnen. Wenn Sie möchten, besuchen Sie doch mal unsere Seite: www.hornysueandmisterbig.com. Da gibt es einen kostenlosen Trailer.«

»Danke, aber … eher nicht«, entgegne ich. »Außerdem brauche ich eine kleine Anzahlung, um meinen Chef von eurem guten Willen zu überzeugen. Was habt ihr an Barem da?«

»Äh, hundert oder hundertzwanzig Euro.«

»Das wird Papa Ambros’ Tränen fürs Erste trocknen. Her damit!«

Patrick Bommel erhebt sich von der Matratze, nimmt ein Portemonnaie von einem Tisch und überreicht mir ein paar Scheine.

»Dann weiterhin frohes Schaffen«, wünsche ich. »Und Herrgott, halte dir das T-Shirt vor!«

Beim Hinausgehen nehme ich die Tür und lehne sie behutsam in den Rahmen. Auch ein exhibitionistisches Porno-Pärchen hat ein Recht auf ein bisschen Privatsphäre.

Nach einem kurzen Abstecher zum Holländer-Grill, wo ich mich mit einer Frikadelle und Pommes spezial versorge, machen wir uns auf den Weg zu unserem nächsten Einsatz. Diesmal ein externer Auftrag.

»Immer dieses unappetitliche Geschlinge im Auto. Muss das sein?«, meckert Bernward, während ich mir die Frikadelle einverleibe. »Wehe, du saust mir die Polster voll.«

Ich frage mich insgeheim, was es an dieser Schrottmühle zu versauen gibt. Jeder Mayonnaisefleck würde eine elementare Verschönerung darstellen, denke ich – sage es aber nicht, weil Bernward, was seinen Opel angeht, ein sensibles Seelchen ist. Stattdessen verkünde ich kauend: »Ich esse seit fünf Jahren in dem Wagen. Hab ich jemals einen Fleck hinterlassen? Nein.«

»So? Und was war vor sechs Wochen? Mit dem Preiselbeersaft?«

»Da war der Verschluss undicht. Nicht meine Schuld. Das zählt nicht.«

»Erzähl das meinen Polstern«, meckert er griesgrämig weiter und ist kurzzeitig so abgelenkt, dass er nicht mitbekommt, wie der Wagen vor uns abbremst.

»Bernward!«

Er steigt volle Möhre auf die Bremse, worauf die Pommes samt Mayo, Ketchup und Zwiebeln in einen rasanten Steigflug gehen, um dann wie ein knuspriger goldgelber Hagelschauer auf uns einzuprasseln. Der Opel kommt mit quietschenden Reifen zum Stehen.

»Was ist? War auch diesmal nicht meine Schuld! Hättest du auf den Verkehr … Hey! Hey! Langsam, Bernward. Ist ja schon gut. – Ich mach den Scheiß gleich weg.«

Die restliche Fahrt über schweigt Bernward beleidigt. Gelegentlich reißt die graue Wolkendecke auf und lässt eine Ahnung von Sonne durch. Wir müssen einmal quer durch die Stadt und dann raus nach Öhdefeld. Auch wenn der Name anderes vermuten lässt, ist Öhdefeld so ziemlich das Gegenteil von Sankt Trostlos: Lindenalleen, Grundstücke, auf denen man sich verlaufen kann, schicke kleine Läden und ein Golfplatz. Wer hier wohnt, knabbert nicht an trocken Brot.

Der Kerl, zu dem wir unterwegs sind, heißt Herwig Lindner. Mitte dreißig, aber schon stinkreich. Verschachert irgendwelche Ferienhäuser in Spanien und Frankreich. Das sind zumindest die Informationen, die Bernward von Papa Ambros bekommen hat. Mit Typen wie Herwig Lindner haben wir es häufig zu tun: Lassen sich von einer kleinen Schreinerei den gesamten Innenausbau ihres Hauses machen und weigern sich anschließend zu bezahlen. Stattdessen beklagen sie irgendwelche Mängel, die es nicht gibt. Das geht dann ewig hin und her, bis es schließlich vor Gericht kommt. Aber bis dahin müssen die betroffenen Handwerker meistens schon Konkurs anmelden. In den fünf Jahren, die ich diesen Job mache, ist mir eines klargeworden: je mehr Kohle desto geringer die Zahlungsmoral! So jemand wie der Porno-Patrick von heute Morgen ist nur eine arme Socke. Aber Ego-Assis wie Herwig Lindner haben es sich aufrichtig verdient, dass Bernward und ich sie besuchen. Und das Beste: Wenn man so einen Kotzbrocken vor sich hat, kann man sich selbst ein bisschen Robin-Hood-mäßig finden und wunderbar verdrängen, dass das eigene Verhalten ja auch nicht strikt gesetzeskonform ist.

Der Opel sorgt in Öhdefeld für ähnliche Reaktionen wie eine Kakerlake auf der Sahnetorte. Als wir vor einer roten Ampel, neben einem Straßencafé, halten, bedenkt uns eine Gruppe botoxverstärkter Milfs mit Blicken, als wären wir der Güllewagen. Verfügten sie noch über eine Restmimik, würden sie angeekelt die Gesichter verziehen.

»Hier ist es«, sagt Bernward, zeigt auf ein modernes Haus mit riesigen Fenstern, drosselt das Tempo und parkt den Wagen um die Ecke. »Aber erst mal beseitigst du die Pommes-Sauerei!«

»Die Haustür ist massiv. Da ist nix mit eintreten«, analysiere ich, während wir über einen breiten Kiesweg auf das Haus zu spazieren. In der Zufahrt ist ein flotter weißer Flitzer geparkt, die Hecke sieht aus wie mit der Pinzette gezupft, in einem kleinen Vorgartenteich schwimmen die sozialschichtadäquaten Karpfen.

»Wir machen die Jehova-Nummer«, entscheidet Bernward.

Bisher habe ich noch keinen erlebt, der Bernward den Zeugen Jehovas nicht abgekauft hat. Ich frage mich, ob es an seiner Frisur, dem Anzug oder an dem Koffer liegt.

Wir steigen die Stufen zur Haustür hoch; ich drücke mich seitlich neben der Tür gegen die Hauswand, während Bernward klingelt und sein Wachtturm-Gesicht auflegt.

Schritte im Hausflur, dann öffnet sich die Tür einen Spalt breit. Herwig Linder hat einen 3-Tage-Bart und die Art von künstlich zersauster Frisur, die man von pseudoverwegenen Grinsegesichtern aus der Bierwerbung kennt. Aber er grinst nicht, sondern taxiert Bernward mit einem genervten Blick. »Ja, bitte?«

»Guten Tag, Herr Lindner«, sagt Bernward. »Gott hat mich ausgesandt, Ihnen eine Botschaft zu überbringen.«

»Aha? Das ist … Nein, danke. Das ist gerade schlecht, ich habe zu tun«, wimmelt er den lästigen Besucher ab und will die Tür schließen, aber Bernward stellt blitzschnell den Fuß dazwischen und verkündet lächelnd: »Gott kann nicht warten!«

Mein Stichwort. Ich springe vor, schnappe mir den perplexen Hausherrn, halte ihm den Mund zu, dränge ihn durch den Flur in die Küche, drücke ihn auf einen Stuhl und fessle ihn mit Gaffa-Tape. Statt panisch loszuschreien, wie es jeder normale Mensch tun würde, zischt er: »Ich verklage Sie. Wegen Hausfriedensbruch und Nötigung.«

Ich seufze tief. Da dringen zwei Unbekannte mit Gewalt in sein Haus ein, und statt ängstlich winselnd um Gnade zu flehen oder wenigstens mit der Polizei zu drohen, will er uns verklagen! Fragt er, halb besinnungslos vor Angst, wer wir sind? Nein. Weil dieser Kerl wahrscheinlich so viele unbezahlte Rechnungen hat, dass er schon lange darauf spekuliert hat, Besuch zu bekommen – egal von welchem Verein. Und für den Fall hat er sich einen echten Superschachzug überlegt: Er droht, uns zu verklagen! Nicht etwa, weil er cool wie Sau oder irgendwie mutig oder wenigstens witzig wäre. Sondern einfach, weil das in seiner Welt so läuft. Erst mal klagen. Wenn so was kommt, weiß ich sofort, dass gutes Zureden nicht hilft. Das hier ist eindeutig ein Fall für Bernwards Koffer.

»Ist noch jemand im Haus? Was ist mit deiner Frau?«, zische ich in dem leicht übergeschnappten Kinski-Ton, den ich mir für Gelegenheiten wie diese zugelegt habe.

Erst da scheint er den wahren Charakter der Situation zu erkennen und wird blass.

»Martina ist … zum Yoga«, stammelt er. »Aber –«

»Papa? Was sind das für Männer?«, ertönt ein helles Stimmchen.

Bernward und ich fahren herum und tauschen einen bestürzten Blick aus: In der Tür steht ein vier oder fünf Jahre altes Mädchen und blickt verwirrt auf die Szenerie in der Küche.

»Shit. Ich kümmere mich um sie«, flüstere ich Bernward zu. »Du machst hier weiter. Aber versuch es möglichst leise über die Bühne zu bringen.«

Bernward lächelt Herwig Lindner zu, legt das Jackett ab und öffnet den Koffer.

»Hallo. Ich bin Pius«, sage ich und hocke mich vor das Mädchen hin. »Der Onkel Bernward und ich sind Freunde von deinem Papa. Wir sind zum Spielen vorbeigekommen. Aber jetzt möchten er und Onkel Bernward erst mal alleine spielen. Und dein Papa meint, es wäre eine gute Idee, wenn ich in der Zwischenzeit auf dich aufpasse. Was hältst du davon?«

Sie bohrt mit einem Finger in der Nase und betrachtet mich kritisch. »Na schön. Von mir aus.«

Während ich die Tür zur Küche schließe, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie Bernward den Bohrer aus dem Koffer nimmt und versonnen betrachtet.

»Und wie heißt du?«, versuche ich eine Konversation mit meinem fünfjährigen Gegenüber in Gang zu bringen.

»Ich darf einem Fremden meinen Namen nicht sagen.«

»Sehr vernünftig. Aber ich fände es unhöflich, dich mit Kleines namenloses Mädchen anzusprechen. Weißt du was? Ich nenne dich einfach Tabea. So heißt meine Mutter.«

»Tabea ist doof«, verkündet sie. »Ich will nicht Tabea heißen. Außerdem heiß ich Ann-Katrin.«

Aus der Küche ist ein Wimmern zu hören. Sie guckt irritiert und blickt mich fragend an. »Wie heißt das Spiel, das mein Papa spielt?«

»Es heißt: Der schmerzenreiche Weg zur Einsicht.«

»Häh? Hört sich voll langweilig an.«

»Ist es auch«, pflichte ich ihr bei. »Irgendeine Idee, was wir unternehmen könnten?«

»Magst du Tee?«, fragt sie und zieht die Nase kraus.

»Sehr gerne.«

»Dann komm!« Sie zieht mich an der Hand durch den Flur in ihr Kinderzimmer und nötigt mich, im Schneidersitz vor einem winzigen rosafarbenen Tischchen Platz zu nehmen, wo sie mir mit hochkonzentriertem Gesicht unsichtbaren Tee in einer unsichtbaren Tasse serviert.

»Selten so was Köstliches getrunken«, befinde ich nach ein paar imaginären Schlucken.

Sie setzt sich in einen roten Plastikstuhl, taxiert mich eingehend und kommt zu dem Schluss: »Du bist fett!«

»Ich bin nicht fett. Ich bin muskulös.«

»Trotzdem: Du bist fett!«

»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du bist auch nicht gerade ein Weidenästlein. – Nein! Nicht weinen! Tut mir leid, ich –« In diesem Moment ist ein Schrei aus der Küche zu hören, den ich durch ein künstliches Husten zu übertönen versuche. »Weiß du was, wir spielen auch ein Spiel«, schlage ich eilig vor.

»Und wie geht das Spiel?«

»Ich halte dir die Ohren zu, und du musst raten, warum.«

Das Spiel erweist sich nicht unbedingt als Renner. »Mir fällt nichts ein«, verkündet Ann-Katrin nach gefühlten dreißig Sekunden. »Ist voll langweilig. Ich will singen. Komm, wir hören Musik und singen mit.« Sie hüpft aus dem Plastikstühlchen, öffnet eine Schublade und präsentiert mir ein Smartphone.

Eine Fünfjährige mit Smartphone. Die Apokalypse muss unmittelbar bevorstehen.

»Wie wäre es mit einem Song von Lana Del Rey?«, schlage ich hoffnungsvoll vor. »Die kann ich alle auswendig.«

Ann-Katrin schüttelt den Kopf. »Lama kenn ich nicht!«

»Na gut. Dann was anderes. Was hört ihr jungen Leute denn so? Neo-Post-Crossover?«

»Nein. Die Verkehrskobolde!«, verkündet sie frohgemut, öffnet eine Audiodatei und stimmt lauthals in den Gesang eines Kinderchors ein. »Sing mit! Sonst macht es keinen Spaß«, kommandiert sie.

Und so schmettern Ann-Katrin und ich, während das Wimmern von Herwig Lindner und das Brummen von Bernwards Bohrer aus der Küche dringen, aus vollem Hals das Lied der Verkehrskobolde: Bei Rot bleiben Kobolde stehen, bei Grün können Kobolde gehen. Kobolde halten die Augen auf, im Straaaßen-ver-kehr!

– 3 –

»Du hast Blutspritzer auf dem Kragen«, lasse ich Bernward wissen, als wir eine Viertelstunde später aus der Haustür treten.

»Der Schwachkopf ist erst zur Vernunft gekommen, als ich ihm eine Wurzelbehandlung angedroht habe«, sagt Bernward mit säuerlicher Miene. »Warum nicht direkt so?«

»Hast du die Kohle?«

Bernward zieht eine hochpreisige Markenuhr aus der Jackentasche und hält sie mir vor die Nase. »Bares gab es nicht, aber das dürfte seine Schulden in etwa abdecken.«

»Tja, so ist das«, sinniere ich. »Wenn das Leben nur noch in einer schmerzvollen Gegenwart stattfindet und einem jeder Moment wie eine Ewigkeit vorkommt, dann spürt man, dass Zeit was Relatives ist – und kann sich plötzlich leichten Herzens von seinem Chronometer trennen.«

Den Rest des Freitagnachmittags verbringen wir damit, zwei weitere Aufträge abzuarbeiten, ohne dass Bernwards Bohrer noch mal zum Einsatz kommen muss. Bei dem ersten Kerl zieht meine »Kinski-goes-Hannibal-Lecter-Nummer«, der zweite wird schon grün im Gesicht, als ich ihn drohend anknurre, und öffnet postwendend seinen Safe.

Nach getanem Tagewerk treten wir den Rückweg an, der uns – welch unerwarteter Zufall – mal wieder an den Ruinen von Kniehases Wunderland vorbeiführt.

»Ach, wo wir gerade hier vorbeikommen …«, sagt Bernward, so als wäre ihm tatsächlich erst in diesem Moment aufgegangen, wo wir uns befinden. »Was dagegen, wenn ich mal eben nach dem Rechten schaue?«

»Nein«, seufze ich und schüttle den Kopf. »Auf die halbe Stunde kommt es nicht an.«

In Bernwards Augen ist ein feuchtes Schimmern zu erkennen. Wie immer, wenn wir uns Kniehases Wunderland nähern. Bernward kommt aus einer Schausteller-Familie, und sein Vater hat in den 60er-Jahren hier einen Vergnügungspark hochgezogen. Der war zwanzig Jahre lang eine Goldgrube, bis Bernwards Vater nicht mehr mithalten konnte mit den großen Parks und deren modernen Attraktionen. Die Besucher blieben aus und der Laden ging pleite. Der Großteil des Parks ist vor etlichen Jahren abgerissen worden, als man Parkplätze für ein nahe gelegenes Gewerbegebiet gebaut hat. Aber ein kleiner Teil steht noch und verrottet vor sich hin: die Westernstadt mit Saloon und Sheriffbüro, die Reste einer Wildwasserbahn, die Goldmine, durch die man früher in kleinen Loren fahren konnte, ein rostiges Kettenkarussell und die Fassade von Kniehases Haus des Schreckens.

Bernward hütet noch immer den Schlüssel zu einem Nebeneingang. Er parkt den Wagen, öffnet eine kleine Tür in dem hohen Metallzaun, der das Gelände umgibt, und zwei Minuten später wandern wir über die unkrautüberwucherte Hauptstraße von Westerntown. Hier gibt es nichts nach dem Rechten zu sehen. Alles ist baufällig und hinüber, die Westernfassaden sind mit amateurhaften Graffiti übersät. Aber Bernward ist ja auch gar nicht hier, weil er nach dem Rechten sehen will. Das behauptet er nur, weil er einen Vorwand braucht. Bernward ist quasi aufgewachsen in dem Vergnügungspark. Hat seine Kindheit und frühe Jugend hier verbracht. Und kommt gelegentlich hierher, um seinen Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit nachzuspüren. Und diese kleinen, sentimentalen Momente seien ihm, in Anbetracht seiner eher freudlosen Gegenwart, gegönnt. Ich habe die Vermutung, dass er manchmal auch alleine hierherkommt, sich in den Saloon setzt, ein paar Magentabletten zerkaut und sich den Gedanken an eine Zeit hingibt, in der sein Leben noch nicht von Lehrergesprächen und Therapieterminen bestimmt war. Aber Bernward ist nicht der Typ, der über sentimentale Anwandlungen redet. Stattdessen verkauft er die Sache als Kontrollgang – und ich spiele ihm zuliebe mit.

»Hmm, scheint alles in Ordnung zu sein«, murmelt er, während er so tut, als würde er das Schloss zum Eingang der Goldmine überprüfen. Als wir das Gelände nach dreißig Minuten verlassen, ist er wie üblich in rührseliger Stimmung.

»Alles okay?«, frage ich, während er den Wagen startet.

»Ja«, entgegnet er und weicht meinem Blick aus. »Nur die üblichen Malaisen mit dem Magen.« Hastig schmeißt er eine Tablette ein.

»Na gut. Dann mal los. Auf zur Schönen Amalia!«

Bei der Schönen Amalia handelt es sich nicht etwa um eine Dame mit dunklen Augen und bronzefarbenem Teint, sondern um eine heruntergekommene Spelunke im Erdgeschoss eines Eckhauses, das Papa Ambros gehört. Er wohnt über der Kneipe im ersten Stock, regelt aber alles Geschäftliche aus dem Hinterzimmer der Schönen Amalia heraus.

Das Haus liegt in einer kleinen Sackgasse, ein Stück hinter dem Bahndamm. Am Ende der Straße gibt es einen alten Bunker, in dem Amateurbands proben. Als wir aus dem Wagen steigen, sind die Töne eines zusammengestümperten Gitarrensolos zu hören.

Tassos Karoufakis, Wirt und Pächter der Schönen Amalia und außerdem ein alter Kumpel von Papa Ambros, steht hinter dem Tresen, spült Gläser und blickt nur kurz auf, als wir eintreten. Er hat kragenlange graue Haare, trägt sommers wie winters Rollkragenpullis und ist, außer wenn er in Rage gerät, eine wortkarge Erscheinung. »Ihr seid spät dran, Freunde«, murmelt er. »Die anderen sind schon alle hinten.«

Die Schöne Amalia verdankt ihren Namen einer Jugendliebe des Wirtes. Ein verblasstes Foto neben dem Spielautomaten erinnert an die Dame. Ihre Frisur sieht aus wie ein explodierter Otter, und sie verfügt über Hauer, die aussehen, als könnte sie damit ein Rehkitz reißen.

Das Positivste, was man über Tassos’ Kneipe sagen kann, ist, dass man garantiert nicht Gefahr läuft, auf irgendwelche Hipster zu treffen. Die Schöne Amalia ist auf ewig in einer 70er-Jahre-Zeitschleife gefangen: holzgetäfelte Wände, durchweichte Bierdeckel, Papiergirlanden, zwei Spielautomaten, ein Erdnuss-Spender, ein Spar-Kästchen, und über allem hängt ein durchdringender Geruch nach altem Frittierfett, der selbst einer Kernsanierung standhalten würde. Um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen: Es sieht hier nicht so aus, weil das nötige Geld für eine Renovierung fehlt, sondern weil sowohl Tassos als auch Papa Ambros mental fest in den 70ern, der goldenen Zeit von Käsewürfel, Trimm-dich-Pfad und Schlager, verankert sind.

»Wie immer? Pils und Sliwowitz?«, fragt Tassos, und ich nicke.

»Für mich ein Kännchen Kamillentee«, sagt Bernward mit gequältem Gesichtsausdruck und presst die Hand gegen den Magen.