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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2016 Ravensburger Verlag GmbH

Text © Gina Mayer
Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München
Cover- und Innenillustrationen: Joëlle Tourlonias

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH,
Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47768-5

www.ravensburger.de

Das Märchenhafte Mädesüß

„Nein“, sagte Tante Abigail. „Nein, nein, nein und nochmals nein.“

Violet schluckte. Fünfmal nein. Das war ihr bisheriger Rekord. So viele Neins hatte sie noch nie bekommen.

„Aber Katzenminzöl und destillierter Frauenschuh wirken doch gegen Lampenfieber“, sagte sie verunsichert.

„In dieser Mischung nicht!“, rief Tante Abigail aufgebracht. „Und auf die Mischung kommt es an.“

„Sieben Tropfen Katzenminzöl auf einen Esslöffel Frauenschuhdestillat“, sagte Violet. „Das ist doch …“

„Falsch!“, rief Tante Abigail. „Das ist total falsch. Es sind sechs Tropfen! Sechs!“

„Schade, schade, jammerschade!“ Lady Madonna, Tante Abigails sprechender Wellensittich, schlug in ihrem Käfig über der Ladenkasse aufgeregt mit den Flügeln.

Violet verdrehte die Augen. „Ich hab mich nur um einen einzigen Tropfen vertan“, verteidigte sie sich.

„Sieben Tropfen Katzenminzöl auf einen Esslöffel Frauenschuhdestillat wirken einschläfernd!“ Tante Abigails Stimme überschlug sich fast vor Erregung. „Und sechs Tropfen vertreiben das Lampenfieber. Das ist ja wohl ein entscheidender Unterschied. Stell dir vor, du stehst auf der Bühne und sollst etwas vorführen und dann schläfst du dabei ein.“

„Eine Katastrophe!“, zwitscherte Lady Madonna und Tante Abigail nickte.

„Also gut.“ Violet seufzte. „Beim nächsten Mal weiß ich es.“

„Genau dasselbe hast du gestern auch schon behauptet.“

„Es ist sooo schwer.“

„Das wusstest du von Anfang an“, sagte Tante Abigail.

Normalerweise war Abigail die netteste Tante der Welt. Sie backte mit Violet Kekse mit Puddingfüllung, verlor dreimal hintereinander gegen sie beim Mensch-ärgere-dich-nicht und schimpfte nie, auch wenn Violet mal wieder aus Versehen ihren Kakao auf Abigails geblümtes Sofa kippte. Doch wenn es um Violets magische Ausbildung ging, verstand sie überhaupt keinen Spaß.

Eigentlich hatte sie Violet ja auch gar nicht ausbilden wollen. Aber nachdem Violet das magische Blumenbuch zweimal heimlich und verbotenerweise benutzt hatte, hatte sie endlich nachgegeben. Beide Male war der Zauber nämlich leider gründlich schiefgegangen, weil Violet eine klitzekleine Winzigkeit übersehen hatte …

Deshalb marschierte Violet jetzt zweimal in der Woche zum Spezial-Unterricht in Tante Abigails Blumenladen. Sie setzten sich zwischen den Vasen, Eimern und Blumentöpfen an den Ladentisch und dann wurde gelernt, bis Violets Kopf zu rauchen begann. Das Ganze war so anstrengend, dass sie jedes Mal total froh war, wenn ein Kunde den Laden betrat und Tante Abigail den Unterricht unterbrechen musste, um Blumen zu verkaufen.

„Vielleicht hätten wir doch noch ein paar Jahre warten sollen“, murmelte Tante Abigail jetzt. „Du bist einfach noch zu jung für die Sache.“

Zu jung? Das wollte Violet nicht hören. „Ich bin doch schon fast zehn! Fang jetzt nicht wieder davon an, bitte!“

„Danke!“, plapperte Lady Madonna.

„Halt den Schnabel!“, riefen Tante Abigail und Violet im Duett. Mit ihren ständigen Kommentaren konnte einem Lady Madonna fürchterlich auf die Nerven gehen.

„Gern geschehen!“, zwitscherte der Wellensittich. „Nichts zu danken! Beehren Sie uns bald wieder!“

„Ich verstehe nicht, warum du die Rezepturen immer wieder vergisst“, sagte Tante Abigail. „Sechs Tropfen Katzenminzeöl auf einen Esslöffel Frauenschuhdestillat – das ist doch nun wirklich nicht schwer. Jedes Kind kann sich das merken.“

„Es ist so entsetzlich langweilig“, sagte Violet. „Deshalb kann ich es nicht behalten.“

„Langweilig?“ Abigail zog die Augenbrauen hoch. „Natürlich ist es langweilig. Was hast du denn gedacht? Dass wir hier die ganze Zeit zaubern?“

Ja, das hatte sie tatsächlich gedacht. Sie war überzeugt gewesen, dass ihre Ausbildung aus tollen magischen Experimenten und spannenden Versuchen bestehen würde. Aber jetzt büffelte sie nur Pflanzennamen und lernte Formeln und Rezepte auswendig.

„Ich fände es viel besser, wenn ich wenigstens hin und wieder was ausprobieren dürfte“, klagte sie.

„Schade, schade, schade“, jammerte nun auch noch Lady Madonna.

„Hm.“ Tante Abigail legte die Stirn in Falten, während sie nachdachte. „Also schön. Meinetwegen.“

„Also schön, was?“ Violets Herz schlug auf einmal schnell und aufgeregt.

„Also schön, machen wir einen kleinen Versuch.“ Tante Abigail lächelte, während sie sich eine feuerrote Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

Violet hatte genau die gleichen knallroten Haare. Als Tante Abigail vor drei Jahren plötzlich in Rivenhoe aufgetaucht war und ihren Blumenladen in der Stadt eröffnet hatte, hatte sie keinen Pass gebraucht, um zu beweisen, dass sie wirklich Violets Tante war. Man sah es auf den ersten Blick: nicht nur an den roten Haaren, sondern auch an den grünen Augen und an den unzähligen Sommersprossen, die auf ihrer Nase, ihren Wangen, Schultern, Armen, Händen und sogar auf den Zehen tanzten.

„Was soll ich machen?“

„Hm.“ Abigails Stirn wurde noch krauser.

„Vielleicht ein paar Rosen?“, schlug Lady Madonna vor. „Oder nehmen Sie von dem Jasmin. Der duftet so gut.“

Tante Abigail nickte finster. „Bring sie zum Schweigen“, sagte sie mit einem Blick auf den Vogelkäfig.

„Was?“, fragte Violet.

„Wie bitte?“, fragte Lady Madonna argwöhnisch und legte den Kopf schief.

„Nur vorübergehend natürlich“, sagte Abigail. „Eine halbe Stunde Ruhe im Laden. Das wäre wunderbar.“

„Das wäre ein Traum!“, jubilierte Lady Madonna, die nicht das hellste Licht unter den Vögeln war.

„Also gut.“ Violet holte tief Luft. Sie schloss einen Moment lang die Augen, um sich zu konzentrieren. Dann öffnete sie sie wieder und griff mit beiden Händen nach dem magischen Buch. Sobald ihre Fingerspitzen den zitronengelben Umschlag berührten, begannen sie zu kribbeln, als ob das Buch elektrisch aufgeladen wäre. Noch ein tiefer Atemzug, dann schlug sie das Buch auf.

„Unglaublich.“ Tante Abigail schüttelte fassungslos den Kopf. „Mädesüß.“

Violet fragte nicht nach, was ihre Tante so unglaublich fand. Das Buch beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Von der aufgeschlagenen Seite stieg ein lieblicher Duft nach Honig und Mandeln auf. Und über dem Buch schwebte eine Blume: ein roter Stängel, aus dem dunkelgrüne gefiederte Blätter wuchsen. Die Blüten waren winzig und zahlreich und wirkten wie Schaum. Jede einzelne Blüte bestand aus fünf hellgelben Kelchblättern, die wiederum von cremefarbenen Kronblättern umgeben waren. Aus einigen Blütenherzen ragten zarte weiße Griffel.

Die Blume sah so echt aus, als könnte man sie einfach aus der Luft pflücken. Aber das funktionierte nicht, das wusste Violet aus Erfahrung. So wie sie auch wusste, dass nur sie die Pflanze über der Seite schweben sah. Für Tante Abigail und alle anderen Menschen, die sie kannte, war es eine ganz gewöhnliche Abbildung in einem gewöhnlichen Pflanzenbuch. Auch den Duft nahm nur Violet wahr.

Weil sie die Gabe hatte, wie Tante Abigail es nannte. Wenn Violet das Buch aufschlug, öffnete es sich immer an der richtigen Stelle und zeigte ihr genau die magische Pflanze, die sie brauchte. Violets Mama hatte die Gabe ebenfalls besessen, aber sie hatte sie zurückgewiesen, weil sie mit ihrer Tochter ein ganz normales Leben führen wollte – ohne Magie und Zauberei. Doch dazu war es leider nicht gekommen, sie war nämlich bei einem Verkehrsunfall gestorben, als Violet noch ein kleines Kind gewesen war.

Märchenhaftes Mädesüß – das war die Überschrift, die neben der schwebenden Blume stand.

„Jetzt reicht’s aber. Runter von dem Buch, du Untier!“ Tante Abigail packte den Kater mit beiden Händen und setzte ihn auf den Boden. „Hast du das Mädesüß gefunden?“, wandte sie sich nun an Violet.

„Hier.“ Violet streckte ihr die Blüten hin. „Das sind doch die richtigen, oder?“

Abigail zog die Brauen hoch. „Ich dachte, du willst es allein versuchen. Aber wenn du meine Hilfe brauchst …“

„Nein danke!“, sagte Violet hastig. „Natürlich schaffe ich es allein.“

„Natürlich“, zwitscherte Lady Madonna. „Bitte schön! Danke schön! Und keine Umstände.“

„Ruhe!“, rief Tante Abigail.

„Kommt sofort“, sagte Violet. „Ich lauf nur rasch hoch in die Küche und mixe die Paste.“