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Regina Scheer

MACHANDEL

Roman

Alles ist wahr, aber so war es nicht.

Die Orte und Geschehnisse, bis auf historisch verbürgte,
sind fiktiv. Auch die Personen sind erfunden,
obwohl manche reale Namen tragen.

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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Umschlagmotive: © Getty Images / Neo Vision, amana images;
PhilipYb Studio, DutchScenery /Shutterstock
Satz aus der Stempel Garamond
von Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-14315-2
V004

www.knaus-verlag.de

Für Roger Nastoll

(1944–1990)

Inhalt

1 CLARA – Abschied

2 NATALJA – Die Seidenbluse

3 CLARA – Das Gedächtnis der Glockenblumen

4 HANS – Todesmarsch

5 CLARA – Das Fotoalbum

6 NATALJA – Die Fremde

7 CLARA – Das Schweigen

8 HERBERT – Kadetten

9 CLARA – Tanzende Mädchen

10 NATALJA – Als käme ein schweres Gewitter

11 CLARA – Kriechwacholder

12 EMMA – Das achte Kind

13 CLARA – Auch deine Wunde, Rosa

14 HANS – Verraten

15 CLARA – Ins Exil

16 NATALJA – Budj silnoi

17 CLARA – Eiserne Ringe

18 EMMA – Trauben und Salz

19 CLARA – Mit einem Spalt darin

20 HANS – Stummsein meine Verdammnis

21 CLARA – Grigoris Rückkehr

22 HERBERT – Das Erbe

23 CLARA – Die Auferstehung der Vogelmänner

24 HERBERT – Glühendes Holz

25 CLARA – Aufbruch

Die wichtigsten Personen

Danksagung

1

CLARA

Abschied

Heute Vormittag bin ich über die abgeernteten Felder zur Kirche von Klabow gelaufen, die Hotelbesitzer haben den alten Holzengel mit dem pausbäckigen Gesicht restaurieren lassen, und ich wollte ihn mir ansehen. Emma hat immer behauptet, so wie der Engel hätten ihre Kinder ausgesehen, als sie klein waren. Der abblätternde Goldanstrich ist entfernt worden, die Holzfigur hat ihre Bemalung mit Pflanzenfarben zurückbekommen. Die Wurmlöcher hat der Restaurator versiegelt, nun sieht der Engel aus, wie er vor zweihundert Jahren ausgesehen haben mag, dick und rotbäckig, vergnügt auf den ersten Blick, aber dann sieht man die aufgerissenen Augen, den wie zum Schrei geöffneten kleinen Mund und fragt sich: Was hat der Engel gesehen? Was ist ihm geschehen?

In der Kirche bin ich die Holztreppe mit dem brüchigen Geländer hochgestiegen, habe wie oft schon aus den winzigen Turmfenstern über das wellige Land geblickt. Die neuen Windräder an der Straße nach Güstrow verändern die Landschaft. Die waren noch nicht da, als wir hierherkamen, vor fünfundzwanzig Jahren.

Die Hügelgräber kann man von dort oben nicht sehen, aber auch wenn man vor ihnen steht, erkennt man sie nur, wenn man weiß, dass sie zu dieser Landschaft gehören. Sonst sieht man nur Steinhaufen. Von oben ahnt man sie unter den baumbewachsenen Inseln inmitten der Felder und Weiden, aber manchmal verdecken die Büsche und Bäume auch nur eines der Wasserlöcher, die sie hier Augen nennen. Manche der Hügelgräber liegen versteckt in den Wäldern, die es vielleicht noch nicht gab, als vor mehr als tausend Jahren in dieser Gegend die Obodriten gesiedelt haben, Slawen, die die Göttermutter Baba verehrten. Zwischen den Hügeln liegen wie von Riesen hingeworfene einzelne Steine, Findlinge, man weiß nicht, liegen sie schon seit der Eiszeit so da, sind sie Reste von Obodritengräbern oder haben die Germanen sie an ihre Plätze gerollt. Oder der Landschaftsgärtner der Gutsfamilie.

Auf dem Rückweg ins Dorf ging ich ein Stück über die Weiden, an Findlingen vorbei, die mir vertraut geworden sind wie so viele Zeichen in dieser Landschaft. Von oben sahen sie nicht besonders groß aus, aber manche sind größer als ich. Zu Hause habe ich ein Foto, da trägt Michael unsere kleine Tochter Caroline auf der Schulter, und sie berührt den glatt polierten Stein, vor dem ich jetzt stand. Die Kinder nannten ihn Alter Mann. Caroline war zwei oder drei damals, heute ist sie Mitte zwanzig, so alt, wie ich damals war. Bevor ich zur Wegscheide nach Mamerow kam, sah ich noch mehr solcher glatten Steine, auch zerklüftete und aufgesprungene, aus denen etwas wie erstarrte Lava quillt. Wenn man näher an sie herantritt, löst das Steingrau sich auf in unzählige Farbschattierungen, man erkennt bunte Einsprengsel, manche Findlinge sind wie aus bunten Streifen zusammengesetzt, die wieder grau wirken, wenn man weitergeht.

In einem Bogen lief ich über die Weiden zurück zur Kastanienallee, noch immer habe ich mich nicht daran gewöhnt, dass der alte Kirchweg nun asphaltiert ist und dass schnelle Autos mich überholen. Zum Glück haben sie den Parkplatz des Hotels außerhalb des Dorfes angelegt, gleich neben dem Golfplatz, der früher Schmökenwiese genannt wurde.

Früher. Ich bin schon wie die alten Frauen, die in dem Dorf wohnten, als wir hierherkamen; sie lebten mit Menschen, die nicht mehr da waren, das längst Vergangene gehörte zu ihrer Gegenwart. So geht es mir auch, wenn ich an meinen Katen denke, ein schönes Haus mit einem Badezimmer und großen grünen Kachelöfen, die geölten Fenster aus Lärchenholz, das Fachwerk innen und außen mit Lehm verputzt. Ich sehe noch immer das zugewachsene Haus, das mir vom ersten Moment an gefiel, in dem der Wind durch die Ritzen pfiff, dessen Fenster mit Brettern vernagelt waren. Für mich toben noch immer meine Töchter als kleine Mädchen durch den Garten, und wenn ich in der Abenddämmerung durchs Dorf gehe, sehe ich Natalja, die Russin, auf der Schlosstreppe stehen, die alte Auguste hinter den Fenstern des Inspektorhauses. Aber Auguste, außer ihrem Schwager Richard die Einzige von den Alten, die noch lebt, wohnt in Basedow in einem Pflegeheim, ich habe sie einmal besucht, aber sie erkannte mich nicht. Ihr Name ist schon auf dem Grabstein des alten Wilhelm eingraviert, nur das Sterbedatum fehlt noch.

Ich hätte statt zu den Findlingen auf den Waldfriedhof vor Klabow gehen können. Aber dort war ich oft, gleich im ersten Sommer habe ich das Grab meiner Großmutter gesucht, sie hat dort einen Stein, der war schon damals verwittert und von Efeu überwuchert. Immergrün wuchs lila blühend bis auf den Weg. Das Immergrün hatte Natalja gepflanzt, die pflegte auch die namenlosen Gräber an der Friedhofsmauer, die Russen und der erschlagene Pole sollen dort liegen. Und deutsche Flüchtlinge, die 1945 bald nach ihrer Ankunft im Schloss gestorben sind. Natalja hatte Feldsteine gesammelt und um die Gräber gelegt. Jetzt hat sie dicht daneben unter Sonnenblumen selbst ein Grab. Ihre Tochter Lena hat ihr einen schönen Granitstein setzen lassen, der seit Ewigkeiten im Düstersee im flachen Wasser lag. Natalja aus Smolensk liegt dort auf dem Waldfriedhof vor Klabow, als müsste das so sein, neben Wilhelm und Emma und all den anderen Nachbarn.

Und der alte Wilhelm liegt nur ein paar Meter entfernt von dem erschlagenen Polen, der ihn gehasst hat. Aber es gibt keinen mehr, der sich erinnern könnte, dass da ein Pole liegt und dass es der kleine Josef war. Die Namen der toten Russen kannte sowieso niemand, außer vielleicht Natalja, und das Grab wurde nicht einmal in den Friedhofsbüchern eingetragen, vor ein paar Jahren habe ich danach gesucht. Im Kirchenbuch gibt es eine Eintragung über drei unbekannte und zwei bekannte Kriegsopfer, Sowjetbürger, die im September 1949 auf den sowjetischen Ehrenfriedhof nach Lalenhagen überführt wurden. Aber der alte Pfarrer, der vor fünf Jahren zu Emmas Beerdigung aus Ratzeburg, wo er jetzt lebt, gekommen war, hatte mir beim Kaffeetrinken erzählt, er wisse, in Lalenhagen lägen nicht nur Soldaten der Roten Armee. Dort am Bahnhof wurden Deutsche begraben, Flüchtlinge, die im Barackenlager an Typhus starben, und Tote aus den überfüllten Zügen, die von Tieffliegern beschossen wurden. Auch Soldaten kamen in dieses Massengrab, russische und deutsche, man machte im Mai 1945 keinen Unterschied, es war plötzlich heiß geworden und die Toten mussten unter die Erde. Drei, vier Jahre nach Kriegsende sei dann der Befehl gekommen, die auf den Dörfern beigesetzten sowjetischen Soldaten und Ostarbeiter zu exhumieren und auf den zentralen Ehrenfriedhof nach Lalenhagen zu überführen. Man hat auch in Klabow die alten Gräber geöffnet, aber kein Friedhofsarbeiter war bereit, die Überreste anzurühren. Nur die beiden Russen, die im Mai 1945 im Buchenwald am Wieversbarg auf eine Tellermine getreten waren, hatten einen Sarg. Deren Namen kannte man noch. Der alte Pfarrer erzählte, er habe es damals auf sich genommen, für die anderen Toten mit Sand gefüllte Kisten nach Lalenhagen überführen zu lassen, wo ein Ehrenmal mit rotem Stern errichtet wurde, als lägen da nur Russen.

Sie sagen hier Russen zu allen sowjetischen Soldaten, obwohl, wie der Pfarrer sich erinnerte, bei den Einheiten, die 1945 in diese Gegend kamen, auch Georgier und Mongolen mit Schlitzaugen waren. Vielleicht waren es auch keine Mongolen, sie nennen hier alle Asiaten Mongolen. Oder Fidschis.

Es hat lange gedauert, bis ich verstand, was sich hinter der Sprache der Leute hier verbarg. Ihr Plattdeutsch konnte ich verstehen, das hatte ich im Seminar gelernt. Aber ich brauchte lange, bis ich ihr Schweigen entschlüsseln konnte. Für manches hatten sie hier keine Worte und für anderes so viele verschiedene. Sogar der Machandelstrauch, nach dem das Dorf benannt ist, hatte viele Namen. Sie nannten ihn Wacholder oder Knirkbusch, Kranewitter oder Quickholder. Auch Reckholder oder Wachandel habe ich gehört, Weckhalter oder Kronabit, der alte Pfarrer nannte ihn Jochandel. Die Flüchtlinge, die 1945 aus dem Osten ins Dorf kamen, brachten ihre eigenen Worte mit für das, was sie hier vorfanden. Die Wolhynier haben den Machandel Räucherstrauch genannt, manchmal auch Feuerbaum. Der alte Wilhelm nannte ihn Kaddig.

Die heute hier wohnen, reden anders. Die Geschäftsführer des Hotels, zu dem das Gutshaus geworden ist, sprechen bemüht Hochdeutsch, aber man hört den schwäbischen Klang sogar, wenn sie mit den Hotelgästen Englisch reden. Und die Direktrice habe ich einmal das Wort Machandel mit Betonung auf der letzten Silbe sprechen hören, als wäre es eine französische Bezeichnung: Machandelle.

Mir ging so vieles durch den Kopf, als ich heute Vormittag aus der Klabower Kirche kam. Ich weiß nicht, wie lange ich auf dem flachen Findling am Waldrand saß, dem meine Töchter den Namen Junger Mann gegeben haben, im Unterschied zum großen Alten Mann. Wenn ich da sitze, vergesse ich die Zeit und höre nur die Rufe der Vögel und den Wind, und je länger ich ihnen zuhöre, umso deutlicher werden auch die Stimmen von Menschen, die hier gelebt haben.

Seit fünfundzwanzig Jahren gehört Machandel, dieses abgelegene Dorf auf dem Malchiner Lobus der Endmoräne, zu meinem Leben. Vorher war ich nie hier gewesen. Dabei sind meine Eltern sich hier begegnet, und mein Bruder Jan, das wusste ich immer, wurde im Schloss von Machandel geboren. Aber Jan ist vierzehn Jahre älter als ich, und bei meiner Geburt im Jahr 1960 wohnte meine Familie schon lange in Berlin. Unsere Großmutter, die in Machandel geblieben war, starb kurz danach, es gab keinen Grund mehr für einen von uns, in dieses Dorf zu fahren. Dachte ich.

Wenn ich mich an meine Ankunft hier erinnere, spüre ich einen Schmerz, noch nach so vielen Jahren. Es war der letzte Ausflug mit meinem Bruder. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, als er mir und Michael vorschlug, gemeinsam in das Dorf seiner Kindheit zu fahren, es läge nur zwei Stunden von Berlin entfernt in nördlicher Richtung.

Da hatte Jan schon all seine Bücher, die selbst gebauten Regale und sein altes Ledersofa verschenkt, seine Stereoanlage stand schon bei uns, alle seine Laufzettel waren abgestempelt. Ein paar Tage nach diesem Ausflug verließ er das Land, mit zwei Koffern und all seinen Kameras. Den Ausreiseantrag hatte er erst wenige Wochen zuvor gestellt. In diesem Sommer gingen so viele, die meisten hatten jahrelang warten müssen. Dass es bei Jan so schnell ging, lag wohl an unserem Vater. Der war zwar längst Rentner, aber immer noch Volkskammerabgeordneter und Mitglied des Antifa-Komitees, und er kannte die Telefonnummern irgendwelcher Männer, die Kurt oder Karl hießen, und manchmal sagte er ihre Decknamen aus der Illegalität, die klangen so ähnlich. Die hatten die Macht, mit ein paar Anrufen alles zu regeln. Aber ich glaube, unser Vater wusste gar nichts von Jans Ausreiseantrag und er hätte ihn auch nicht unterstützt, doch die, die darüber entschieden, wussten, wessen Sohn mein Bruder war. In seinem Beruf hatte er schon lange nicht mehr arbeiten dürfen, den Presseausweis hatten sie ihm abgenommen, seine Fotos wurden nicht mehr gedruckt, ausstellen durfte er nicht. Auch da hätte mein Vater etwas für ihn tun können, aber das wollte er nicht und Jan hätte es auch nicht gewollt.

Auf der Fahrt in das Dorf war Jan noch schweigsamer gewesen als sonst. Er saß am Steuer, obwohl sein vierzehn Jahre alter Trabant schon mir gehörte.

Wir wussten nicht genau, was er in diesem Dorf suchte, dessen Name auf all seinen Ausreisepapieren als Geburtsort stand: Machandel. Er hatte dort bei unserer Großmutter gelebt, bis er zur Schule kam. Aber die war eine Zugezogene gewesen, sie war mit unserer Mutter von weiter her gekommen, aus Ostpreußen. Umsiedler wurden sie genannt, Flüchtlinge, Heimatvertriebene; sie haben im Schloss gewohnt, es waren viele. Ich hatte mir ein Gebäude mit Zinnen und Türmchen vorgestellt, aber dann standen wir vor einem schlichten Gutshaus mit Mittelrisalit und Freitreppe, sehr schön, aber erbärmlich heruntergekommen. Wasserflecken zogen sich über die bröckelnde Fassade. Ich war begeistert von den hohen Sonnenblumen mit großen Köpfen, die überall wuchsen, um das Schloss herum und an den Gartenzäunen, alles wirkte auf mich wie in einem dieser russischen Filme, die man im Studiokino sehen konnte, Abschied von Matjora, Kalina Krasnaja. Alte Frauen mit Kopftüchern machten sich in ihren Vorgärten zu schaffen. Eine schien uns hinter ihrer Gardine zu beobachten. Jan verschwand, ohne ein Wort zu sagen, hinterm Schloss in den Weiten des Parks, Michael und ich spürten, dass er allein sein wollte, und schlenderten Hand in Hand durch das wie verwunschen daliegende Dorf. Schwalben jagten einander über den niedrigen Dächern. Ein Hahn krähte.

Emma sagte später, sie hätte mich schon an diesem ersten Tag gesehen, als wir den grünen Trabant vor dem Schloss parkten und durch das Dorf liefen. Ich trug ein langes Kleid, wie ein Nachthemd, sagte sie. Mich und meinen Mann Michael hatte sie ja noch nie gesehen, aber meinen Bruder Jan erkannte sie sofort. Der sei ja im Dorf aufgewachsen und auch später oft gekommen.

Sie hat beobachtet, wie wir vor dem Katen stehen blieben. Da hatte sie ja selbst jahrelang gelebt, bevor sie in den Neubau gezogen war, ein nüchternes, zweistöckiges Haus, das in den 50er-Jahren mitten im Schlosspark für neun Flüchtlingsfamilien errichtet worden war. Aber das erfuhren wir erst später, wir kannten Emma ja noch nicht an diesem Sommertag im Jahre 1985, und der schäbige Neubau im Park interessierte uns nicht, uns interessierte der Katen. Das Haus schien lange schon unbewohnt, die Fenster waren ohne Glas, eine Tür knarrte bei jedem Luftzug, sie war nur mit einem Draht verschlossen wie ein altes Stalltor. Zwischen den Dielen einer Stube wuchs eine kleine Birke. Wilde Rosenbüsche drängten sich an die Hauswand, später erfuhr ich, wie Emma sie nannte: Kartoffelrosen. Schwere, duftende Zweige hingen durch die Fenster ins Haus. Wir gingen durch die verlassenen Zimmer wie verzaubert, sprangen durch die Fenster in den verwilderten Garten, gingen durch die pendelnde Tür in die nächste Wohnung, drei waren es insgesamt, und schon begannen wir uns vorzustellen, dass wir die Lehmwände einreißen, die Zimmer vergrößern könnten. Wir könnten hier wohnen, in den Sommern wenigstens und an den Wochenenden, wir hatten ja nun ein Auto. Wir wollten nicht wie Jan ausreisen, wir wollten im Land bleiben, aber dieses Haus, das spürten wir, würde unser Zufluchtsort werden, hier würde es das nicht geben, was uns in Berlin oft so wütend und ratlos machte. Ich stellte mir vor, wie unsere Kinder in dem verwilderten Garten spielen würden, und schon in diesen ersten Stunden in Machandel beschlossen wir, alles zu tun, damit das halb zerfallene Haus unseres würde.

Wir gingen Jan suchen und fanden ihn auf der Schlosstreppe neben einer sonderbaren Frau. Bisher hatten wir nur alte Menschen in diesem Dorf gesehen, aber die Frau neben Jan war etwa so alt wie er, noch nicht vierzig. Sie war groß und schlank und Jan schien sie zu kennen. Sie standen beieinander, an das rostige Geländer gelehnt, um das sich wilde Wicken rankten. Jan hielt etwas in der Hand, das ihm die Frau wohl gegeben hatte. Sie schwiegen, aber mir schien eine Vertrautheit in diesem Schweigen zu liegen, die mich erstaunte. Vielleicht hatten sie vorher miteinander geredet, aber als wir kamen, sprachen sie kein Wort. Jan kam uns entgegen, ich sah, wie er das Ding in die Jackentasche steckte. Die Frau warf den Kopf in den Nacken, es war, als würde sie ihren Blick von Jan abziehen, aber sie blieb stehen, ganz ruhig. »Kennst du sie von früher?«, fragte ich meinen Bruder, und er antwortete kurz: »Ja.« Ich war gewohnt, nicht nachzufragen, wenn er in diesem Ton antwortete. Auch mein Vater gibt manchmal solche kurzen Antworten, nach denen es unmöglich ist, weiterzufragen.

Wir zeigten Jan den Katen, unser Haus nannten wir ihn schon. Er sah sich genau um, holte seine kleine Kamera aus der Tasche und fotografierte. Mit einem Griff riss er verklumpte Tapetenschichten von der Wand, kratzte an der Lehmwand darunter und zeigte uns das Stück eines freiliegenden Balkens, die Kerben und Einschnitte. Er wusste, dass der Katen vor hundertfünfzig Jahren als Schafstall gedient hatte und dass Ziegel und Holz aus einem noch älteren Haus geholt worden waren. Aber das ernüchterte uns nicht, wir fanden alles gut, wie es war, und als wir später mit Jan am Waldrand an einem Platz lagen, den er als Kind geliebt hatte, als wir im sattgrünen Gras die Wacholderbüsche, die hier hoch wie Bäume waren, gegen den Mecklenburger Himmel stehen sahen, spürten wir: Hier wollen wir sein.

Wir liefen dann noch zu einem der Seen, doch vor der Abfahrt war Jan wieder verschwunden. Michael und ich gingen ein letztes Mal durch unser Haus, da stand ein alter grauer Mann mit Gehstock im Vorraum, als hätte er uns erwartet. Wo Jan sei, fragte er und gab sich selbst die Antwort: »Bei der Stummen.« Das war Wilhelm Stüwe, ich weiß nicht, ob wir seinen Namen schon an diesem ersten Tag in Machandel erfuhren. Mir fiel der schöne elfenbeinerne Knauf seines Stockes auf. »Wollt ihr das Haus kaufen?«, fragte er und beschrieb uns, wo wir den Bürgermeister Uwe Schaumack finden würden. Das hier sei das älteste Haus des Dorfes. Es sei noch älter als das Gutshaus. Ja, es sei ein Schafstall gewesen, fiel ihm mein Mann ins Wort. Michael hatte manchmal so eine Art, sein Halbwissen auszubreiten. Der Alte betrachtete ihn, wie mir schien, mit leichter Verachtung. Dann wies er auf mein langes helles Kleid und fragte spöttisch, ob ich die Weiße Frau sei, die aus der Sage von Mamerow. Er konnte nicht wissen, dass ich mich für meine Dissertation mit niederdeutschen Sagen beschäftigte. Für mich war das damals ein Forschungsgegenstand, der gehörte in die Räume der Staatsbibliothek, ins Institut, an meinen Arbeitstisch zu Hause, nicht in dieses Dorf. Ich war verwirrt. Mein Mann fragte nach und der Alte erzählte knapp:

In Mamerow, einem der Nachbardörfer, das seinen Namen wohl noch aus der slawischen Zeit habe, spuke eine Weiße Frau auf einem Hof, sie war im Kriege erschossen worden. »In welchem?«, unterbrach mein Mann, doch der Alte lachte nur. Ihre Seele wohne nun in einem Baum, der sei eines Tages gefällt und als Bauholz in einen Schafstall gekommen. Lauernd beobachtete er die Wirkung seiner Worte. »Wurde sie Mahrte genannt?«, fragte ich, denn ich kannte solche Sagen. Der Alte spuckte ein Stück Kautabak auf den mit Moos überwachsenen Dielenboden und wandte sich grinsend zum Gehen. »Mahrte, Spukgeist, Huckup, pottegal. Ik bin keen Spökenkieker.« In der Tür stieß er mit Jan zusammen, und obwohl er kurz zuvor nach ihm gefragt hatte, ging der Alte wortlos an ihm vorbei.

Jan drängte jetzt zum Aufbruch. Unsere Hochstimmung war verflogen, etwas Unheimliches hatte der alte Nachbar in den Räumen zurückgelassen. Am Trabant stand die hochgewachsene Frau, die Stumme, wie der Alte sie genannt hatte. Aber sie sagte leise ein paar Worte zu Jan, sie umarmten sich fest und lange. Ich sah, dass mein Bruder weinte, und bemühte mich, nicht hinzuschauen.

Es war zu spät, noch den Bürgermeister aufzusuchen. Aber wir beschlossen, ihn gleich am nächsten Tag wegen des Hauskaufs anzurufen. Jan hatte im Fahren seine Jacke ausgezogen und mir auf den Schoß gelegt, etwas fiel heraus, wohl das, was die Frau ihm gegeben hatte: Auf den ersten Blick ein gewöhnlicher kleiner Feldstein, aber dann sah ich, das beinahe herzförmige Ding war zur Hälfte überzogen mit einer Kruste aus blauem Glas, die in einem gläsernen Tropfen endete, in der anderen Hälfte gab es einen Riss, aus dem etwas Schwarzes quoll. Während ich den Stein noch betrachtete, griff Jan danach und schob ihn in die Jacke zurück. Er fuhr schweigend, in Gedanken versunken wie schon bei der Hinfahrt, aber als wir uns Berlin näherten, fragte er: »Was hat denn der Alte gewollt?« Ich erzählte ihm von der Sage. Jan kannte sie. »Jeder in den Dörfern um Machandel kennt diese alten Geschichten«, sagte er. »Aber die von der Weißen Frau aus Mamerow geht noch weiter. Die hockt längst nicht mehr in dem Schafstall. Ein paar Knechte mussten sie einfangen und auf den Kirchhof von Klabow tragen. Dort ist sie nun in einem Gewölbe eingemauert. Nach einer anderen Variante sitzt sie nun in einem Machandelbaum. Den Knechten aber war jedes Wort darüber verboten.«

Ich weiß noch, dass ich lange wach lag in der Nacht nach diesem Ausflug. Ich spürte, etwas war geschehen, das unser Leben verändern würde. War es der Abschied von Jan, war es das Haus, das wir gefunden hatten wie etwas, nach dem wir uns immer gesehnt hatten, ohne es zu wissen, oder war es die Sage von der Weißen Frau, die mich bis in den Traum verfolgte? Vielleicht war es auch der Name des Dorfes: Machandel. Das Märchen vom Machandelboom hatten wir in unseren niederdeutschen Seminaren analysiert und interpretiert, niemals war mir dabei das Dorf meines Bruders und meiner unbekannten Großmutter in den Sinn gekommen.

2

NATALJA

Die Seidenbluse

Nun liegt mein Grab in Mecklenburg bei den Machandelbäumen und ich bin nie wieder nach Hause gekommen. Ich habe länger in Mecklenburg gelebt als in Smolensk, aber bin doch eine Fremde geblieben unter den Deutschen. Aber ich wäre auch eine Fremde gewesen, wenn ich zurückgekehrt wäre an den Ort, an dem ich geboren bin. Smolensk war so eine schöne Stadt, wir haben Lieder über sie gesungen, sie liegt auf sieben Hügeln und an siebzehn Flüssen. Den Dnjepr hätte ich gern noch einmal gesehen. In der Gegend um Machandel gibt es keine richtigen Flüsse, die Warnow, der Peenestrom, die Nebel sind nur Rinnsale gegen den Dnjepr. Der ist so breit, fast wie ein Meer, und wenn ein Schiff vorbeifährt, schlagen die Wellen ans Ufer wie bei der Meeresbrandung. Man sieht kaum die Menschen auf der anderen Seite, nur die Hügelkette. Wenigstens ist das Land um Machandel hügelig. Manchmal, in den ersten Jahren, bin ich über die Weiden gegangen und habe mir einen Platz zwischen den Hecken gesucht, an dem mich keiner sehen konnte. Dann habe ich den Wolken nachgeschaut und geträumt, ich sei noch ein Kind, ich sei zu Hause, wir hätten einen Ausflug ins Hügelland gemacht und meine Mutter und mein Vater seien bei mir. Meine Mutter war Lehrerin, manchmal, wenn sie mit ihren Schülern einen Ausflug machte, durfte ich mitkommen, auch als ich noch ganz klein war. Einmal saßen wir alle am Rand eines Sonnenblumenfeldes, die Pflanzen waren größer als erwachsene Menschen, es war für mich wie ein Wald, ein Wald aus Sonnenblumen, in den ich hineinlaufen und mich verstecken konnte, aber ich wurde immer gefunden, und es war schön.

In Mecklenburg haben sie Die Russin gesagt, wenn sie über mich sprachen. Aber ich war keine Russin. Bevor ich geboren wurde, gehörte Smolensk eine Zeitlang zu Belarus, ich war Weißrussin wie meine Mutter. Das habe ich ihnen nie gesagt, sie hätten es nicht verstanden. Aber vielleicht irre ich mich, vielleicht war ich in meinen Papieren Russin.

1939 war ich vierzehn und mein Vater und meine Mutter wurden geholt, morgens um drei, sie seien Sowjetfeinde, hieß es. Aber ich weiß, dass sie keine Feinde waren und dass sie an den Kommunismus glaubten. Damals verschwanden viele – Lehrer, Nachbarn, der Vater meines Mitschülers Kolja. So viele Feinde konnte es gar nicht geben. Ich stand im Nachthemd auf dem Korridor, als die Männer meine Eltern wegführten. Was mein Vater gesagt hat, wie er aussah, habe ich vergessen. Ich habe es vergessen und es gibt auch keine Fotos mehr von ihm. Mama hat mich traurig angeschaut mit ihren schönen Augen, ihr Haar, das sie sonst hochgesteckt trug, hing herunter wie bei einem Mädchen. »Budj silnoi«, hat sie gesagt. Nur diese beiden Worte. Ich habe sie mir immer wieder gesagt, mein ganzes Leben lang. Wenn es schwer war, habe ich die Augen geschlossen und Mamas Gesicht gesehen: Sei stark.

Einer der Männer kam dann zurück, sie wollten die Wohnung versiegeln, ich sollte verschwinden. Nicht einmal angezogen habe ich mich, nur einen Mantel über das Nachthemd geworfen, ein paar Kleider zusammengerafft, meine Schultasche. So kam ich zu meinem Tantchen, andere Verwandte hatten wir nicht in Smolensk. Das Tantchen war alt, sie hatte nur ein ärmliches Zimmer in einer Kommunalka, aber sie besaß ein Klavier und spielte abends Stücke von Chopin, bis die Nachbarn an die Wände klopften. Sonntags lief sie in die Kirche und küsste dem Popen die Hand. Sie nahm mich mit, ich sollte beten und um Verzeihung bitten für meine Sünden und die meiner Eltern, dann kämen sie vielleicht zurück. Das Tantchen war nicht klug. Aber sie war ein guter Mensch, sie hat ihr Essen mit mir geteilt, sie hat mir aus ihren Vorhängen und alten Stoffen Kleider genäht, denn ich hatte ja nichts. Und an Feiertagen ging sie mit mir in die Mariä-Entschlafens-Kathedrale, die stand hoch über der Stadt am Steilufer des Dnjepr. Ich habe die goldenen Fresken betrachtet, die Gewölbe, den geschmückten Altar, die schönen Ikonen und gedacht: Das haben Menschen gemacht. Das alles hat sich ein Baumeister ausgedacht, und die Maurer haben die Steine herbeigeschleppt, dann haben andere auf Gerüsten gestanden und diese zarten Blütenblätter gemalt und das Gesicht der Maria, die eine junge Mutter war, die ihr Kind beschützen wollte. Das alles, habe ich gedacht, ist schon viel älter als jeder Mensch auf der Erde und wird noch sein, wenn ich nicht mehr bin.

Und jetzt bin ich tatsächlich nicht mehr und die Mariä-Entschlafens-Kathedrale gibt es wohl noch immer. Und die Sonnenblumenfelder bei Smolensk und die Hügel dort und um Machandel.

Vielleicht wird meine Tochter Lena einmal nach Smolensk fahren und in die Altstadt gehen, sie haben sie ja wieder aufgebaut. Das armselige Alltagskirchlein meiner Tante wird sie nicht mehr finden, aber die Mariä-Entschlafens-Kathedrale unserer Feiertage steht noch. Lange nach dem Krieg war die Zahnärztin aus Teterow mit einer Reisegruppe dort, sie hat mir einen Touristenprospekt mitgebracht, da habe ich die Bilder einer fremden Stadt mit fremden Menschen angeschaut, doch die Mariä-Entschlafens-Kathedrale sah aus wie in meiner Erinnerung. Wenn Lena dort sein wird, wenn sie unter dem goldenen Gewölbe steht, spürt sie vielleicht dasselbe wie ich damals, und unsere Gefühle treffen sich, denn sie haben nichts zu tun mit der Zeit; was man fühlt und denkt, ist in der Welt und vergeht nicht so schnell wie die Menschen. Ich habe auch immer meine Mutter gespürt, als sie längst nicht mehr da war.

Am Tag, als die Deutschen kamen, im Sommer 1941, war meine Abschlussfeier in der Schule. Tantchen hatte mir aus einem alten Seidenkleid eine hellblaue Bluse genäht. Am Nachmittag wollte ich mit meinen Freundinnen zum Flussufer gehen, aber am Nachmittag war schon Krieg.

Ich wollte zur Front, als Soldat oder Sanitäterin, aber ich war erst sechzehn, sie haben mich nicht genommen. Dann war die Front rings um Smolensk, sie war in den Straßen, sie war überall. Wir schliefen in fremden Kellern, in Höhlen am Flussufer. Unser Haus, unsere Straße waren zerschossen. Dann starb die Tante, eine herabstürzende Mauer hat sie erschlagen. Viele starben. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich trauern konnte. Im September feierten die Deutschen ihren Sieg in unserer Stadt, zwei Monate lang hatten die Unseren sie aufgehalten, obwohl die Deutschen dreimal so viele waren und modernere Waffen besaßen. Jetzt war der Weg nach Moskau frei.

Ich hatte die hellblaue Bluse an, als sie mich wegschleppten, es war warm, muss aber schon Anfang Oktober gewesen sein. Ich war unterwegs zum Glinka-Denkmal, zu einem Treffen mit einem Jungen, Kolja. Er war siebzehn, war in meine Schule gegangen. Er war noch kein Soldat, aber bei den Straßenschlachten hatte er gekämpft und war verwundet worden, seine Mutter hatte ihn versteckt und gesund gepflegt. Sie kannte mich, sie hat mich auf der Straße getroffen und mir gesagt, in welcher Ruine sie hausten, ich solle sie besuchen kommen. Das hatte ich ein paarmal getan, Kolja war der Einzige, mit dem ich reden konnte. Sein Vater war verhaftet worden wie meiner. Er hat es mir ganz offen erzählt, ich habe nie über meine Eltern gesprochen. Trotzdem, so bestärkten wir uns gegenseitig, war die Rote Armee unsere, die Deutschen waren unsere Feinde. Er schlug vor, wir sollten uns alleine treffen, ohne seine Mutter. Es war leichtsinnig, weil es kaum noch junge Männer in den Straßen gab. Die Deutschen nahmen sie gefangen, manche wurden gleich erschossen. Trotzdem verabredeten wir uns. Er hatte sich in mich verliebt. Ich war so allein. Ich habe Kolja nicht wiedergesehen, denn ich war es, die aufgegriffen wurde.

Für die Deutschen war ich nicht zu jung, sie haben mich eingefangen wie ein Tier und von der Straße weg in die Sammelstelle gebracht. Vielleicht haben andere sich freiwillig gemeldet, ich nicht.

Von der Sammelstelle mussten wir zum Güterbahnhof laufen, hundertfünfzig Mädchen, eine Herde Vieh mit Bewachern. Manche trugen Rucksäcke und Bündel, ich hatte nichts. Wir kamen an den zerstörten Gebäuden vorbei, am Opernhaus, am Pädagogischen Institut, es war so ein schöner, sonniger Tag im Oktober. Altweibersommer. Aber ich habe nicht aufgeblickt, ich ging neben den anderen und wäre gern unsichtbar gewesen. Meine Seidenbluse war schmutzig, in der Sammelstelle hatten wir auf dem blanken Boden gelegen und uns nicht waschen können. Ich schämte mich für mein Aussehen und hoffte, keiner würde mich sehen. Ich schämte mich auch, weil manche der Frauen neugierig auf Deutschland waren, weil sie sich freuten, im Ausland arbeiten zu können, und weil ich fürchtete, man könnte mich für eine von denen halten. Später habe ich oft an diesen letzten Gang durch Smolensk gedacht und gewünscht, ich wäre nicht so gebeugt gegangen, mit dem Blick nach unten. Ich hätte mich umsehen sollen, vielleicht hätte ich noch Bekannte gesehen, vielleicht Kolja, und oft habe ich im Halbschlaf gedacht, ich hätte den Kopf heben müssen, dann hätte ich am Straßenrand meine Mutter sehen können oder meinen Vater, die Sowjetfeinde, denn es hieß, die Gefängnisse seien geöffnet worden, als die wirklichen Feinde kamen. Aber ich wusste ja nicht einmal, wohin man sie gebracht hatte und ob sie noch lebten, und ich habe niemanden gesehen, als ich zum letzten Mal durch die Straßen meiner Kindheit lief.

Später konnte ich mich kaum an die Reise erinnern. Andere sagten mir, dass wir mit den Güterwagen bis Warschau fuhren und dort zwei Wochen in einem Lager waren. Da haben wir auch Männer gesehen, unsere Jungs, Kriegsgefangene. Sie sahen hungrig aus, verprügelt, sie wurden noch strenger bewacht als wir. Zu uns kamen dann noch Ukrainerinnen, die die Deutschen von den Feldern geholt hatten, die noch ihre Arbeitskittel und verschwitzte Kopftücher trugen. Im Lager bei Warschau konnte ich meine Bluse waschen, daran erinnere ich mich. Plötzlich war es kalt geworden. Mit den Ukrainerinnen und polnischen Frauen müssen wir dann weiter nach Berlin transportiert worden sein. Ich weiß es nicht mehr, vielleicht war ich krank. Aber ich sah später ein Bild vor mir, wie wir in Reihen frierend auf einem Berliner Bahnhof standen, russische Frauen, weißrussische, ukrainische, auch polnische, um weitertransportiert zu werden, in Viehwagen, die an einen gewöhnlichen Zug angehängt wurden. Auf diesem Bahnhof warteten deutsche Reisende auf ihre Abfahrt, Frauen, Männer, auch Kinder. Sie waren so schön, so sauber, die blonden Frauen trugen gewellte Frisuren, sie wirkten glücklich. Und ich sah, mit welchen Blicken sie uns musterten, voller Abscheu und Ekel. Eine Frau zeigte ihrer Tochter die Ukrainerinnen, mit dem Finger wies sie auf die Frauen in den geflickten Arbeitskitteln, auf die Holzschuhe. Das Schlimmste aber war, ich sah es plötzlich selbst, dass wir nicht wie Menschen blickten, sondern wie Tiere, wie gefangene Tiere voller Angst. Ich schaute an mir herunter, ich trug gute Lederschuhe, mein Rock war etwas zerrissen, aber die Bluse, meine hellblaue Bluse von der Abschlussfeier, war noch unversehrt, zwar zerknittert und angeschmutzt, aber es war eine schöne Bluse von elegantem Schnitt. Sie war nicht aus so billigem, dünnem Sommerstoff, der schnell zerreißt, sondern aus festem, gutem Seidenstoff, der Mann der Tante war Eisenbahner in Tschita gewesen und hatte solche Stoffe von der chinesischen Grenze mitgebracht.

Vielleicht war es diese Bluse, die mir das Leben rettete.

In Schwerin, wohin wir gebracht worden waren, wurden wir wieder in ein Durchgangslager getrieben, das war irgendein öffentliches Gebäude, eine Schule oder eine Kaserne mit großen Sälen. Da waren schon Russinnen, die den deutschen Aufsehern halfen. Sie sagten uns, wir sollten sehen, dass wir nicht in eine Munitionsfabrik kämen, das sei gefährlich, da würde man nicht überleben, es gäbe Explosionen und Unfälle. Ich habe mir den Namen der Stadt gemerkt, in die man sich nicht schicken lassen sollte: Torgelow. Besser sei, sagten die russischen Helferinnen, man würde in die Landwirtschaft geschickt, da hätte man genug zu essen. Und am besten sei es, wenn man eine Arbeit bei der Kirche bekäme, auf Friedhöfen.

Aber man hat uns ja nicht gefragt. Wir blieben nur wenige Tage in Schwerin, bekamen zu essen und es gab Waschräume, sogar etwas Seife. Wieder wusch ich meine Bluse und mein Haar. Die Deutschen siegten noch immer, die russischen Dolmetscherinnen erzählten es uns. Am dritten oder vierten Tag wurden wir auf einen Hof getrieben, mussten uns aufstellen wie Soldaten. Männer, manche in Uniform, schritten die Reihen ab, blieben stehen, forderten die Frauen auf, den Mund zu öffnen, ihr Gebiss zu zeigen. Wie bei Pferden, dachte ich. Das waren die Abgesandten der Munitionsfabriken und der Gutshöfe, vielleicht auch der Kirche, die sich ihre Arbeitskräfte aussuchten. Mir schauten sie nicht in den Mund, ich wurde gleich aufgefordert, einem der Männer zu folgen. Drei oder vier Mädchen und ich wurden in einen Raum geführt, in dem eine Frau wartete, eine Dame in Lederstiefeln, nicht mehr jung. Sie musterte uns, eine nach der anderen, an mir blieb ihr Blick hängen. »Das ist doch noch ein Kind«, sagte sie zu dem, der uns gebracht hatte. Sie sprach Deutsch, natürlich sprach sie Deutsch. Ich hatte Deutschunterricht in der Schule, bei uns zu Hause standen viele Bücher in deutscher Sprache, Heinrich Heines Gedicht von dem einsamen Fichtenbaum hatte mir meine Mama schon beigebracht, als ich noch in den Kindergarten ging. Er träumt von einer Palme, / die, fern im Morgenland, / einsam und schweigend trauert / auf brennender Felsenwand. In Smolensk und während der wochenlangen Fahrt in diese Stadt Schwerin hatte ich nicht gezeigt, dass ich die Deutschen verstand. Diese deutsche Sprache um mich herum klang so anders als die, die ich zu Hause gelernt hatte. Sie hatte ganz andere Worte: Todesgefahr. Lebensgefahr. Beides bedeutete dasselbe. Der Tod und das Leben sind gleich für sie, dachte ich. Mir gefiel diese Sprache nicht. Aber jetzt sagte ich wie von selbst: »Ich bin kein Kind, ich bin achtzehn Jahre alt.«

Wenn ich später an diesen Moment dachte, wusste ich nicht, warum ich gelogen hatte, vielleicht wegen der Warnungen der russischen Aufseherinnen, ich wollte versuchen, eine gute Arbeitsstelle zu bekommen. Die Frau kam bestimmt nicht von einer Munitionsfabrik voller Todesgefahr. Erstaunt fragte sie, woher ich Deutsch könne. »Aus der Schule«, antwortete ich. Plötzlich griff sie an meine Bluse, prüfte den Stoff zwischen den Fingern. »Crêpe de Chine«, sagte sie verblüfft, »woher hat die das?« Sie wandte sich an einen Mann in einer Art Jägeruniform, der Gutsverwalter, wie ich später erfuhr. »Sie wirkt sauber«, sagte sie. »Und intelligent. Versuchen wir es.« »Sie scheint nicht besonders kräftig zu sein«, wandte der Gutsverwalter ein, aber die Frau meinte, sie brauche keinen Trampel für die Feldarbeit, sondern ein Mädchen, das Gläser polieren könne und, sie wies auf meine Bluse, feine Wäsche waschen.

Die Blicke der anderen Mädchen, die einfach stehen gelassen wurden, verfolgten uns. Gepäck besaß ich ja nicht, ich wartete am Lagereingang, während die Frau und ihr Verwalter im Büro bei den Uniformierten etwas erledigten, wahrscheinlich unterschrieben sie eine Art Kaufvertrag, denn von nun an, sie haben es mir später oft gesagt, hatte ich nur zu tun, was sie mir sagten, ich sollte den Mund halten und arbeiten.

Ich hatte das schon verstanden, ich kannte ja das Wort dafür: Lebensgefahr. Eine Deutsche aus der Verwaltung des Durchgangslagers übergab mir zwei eckige Stoffstücke mit der Aufschrift OST, die musste ich in Zukunft fest an meiner Kleidung tragen. Und ein Papier auf Russisch gab sie mir, auf dem stand, was ich alles nicht durfte. Der Verwalter war in Zukunft mein Betriebsführer, dem musste ich gehorchen.

Es gab noch einen Wortwechsel meines Betriebsführers mit denen vom Durchgangslager, die wollten, dass ich im Lager bliebe und mit einem Ostarbeitertransport nachgeschickt würde, es ginge nicht, dass ich in einem Automobil mit meinen neuen Dienstherren fahren würde. Aber die Dame setzte sich durch und sie nahmen mich mit wie einen guten Einkauf.

Von den Mädchen im Lager habe ich mich nicht verabschiedet, mit keiner hatte ich mich angefreundet, die ganze Zeit über hatte ich still in der Ecke gehockt und gar nichts gefühlt. Sie zankten sich und weinten viel, manchmal sangen sie auch, dann tat mir das Herz weh. Eine war schon in Berlin verrückt geworden und wollte sich aus dem Fenster stürzen, die war so geschlagen worden, dass sie nicht mehr alleine gehen konnte. Es waren nur noch wenige Mädchen aus Smolensk dabei. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Doch Dunja und Anna, Zwillingsschwestern aus Minsk, waren mit mir in Schwerin in dem Durchgangslager. Eine von ihnen arbeitete später in der Mühle in einem Nachbardorf, in Kuhelmies.

So kam ich nach Machandel, auf dem Rücksitz eines Automobils. Die Frau saß vorn neben dem Betriebsführer, sie drehte sich unterwegs manchmal nach mir um, sagte aber nichts. Ich war noch nicht oft mit einem Auto gefahren, schon gar nicht in so einem schönen mit roten Ledersitzen. Wir fuhren etwa zwei Stunden durch flache Landschaften, erst am Schluss wurden sie wellig wie zu Hause. Wir kamen an kleinen Seen vorbei, an weidenden Kühen und Gärten. Die Dörfer sahen so aufgeräumt und sauber aus, so friedlich. Vor Häusern aus rotem Ziegelstein waren Zierbüsche gepflanzt wie in den Parkanlagen von Smolensk. Aber einmal sah ich ein Blumenbeet, das war angelegt wie ein Hakenkreuz. Sonnenblumen sah ich nicht. Die blühen ja nur bis in den Oktober und der war vorbei.