DERHANK
Geschichten aus der Todeszelle
Ein Hirnstück in drei Akten
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Vorwort bzw.: Versuch einer Erklärung
1. Akt: Unsichtbar
1. Szene: Unsichtbar
2. Szene: Selbstmörder
3. Szene: Inspektion
4. Szene: Die zärtlichen Hände des Henkers
5. Szene: Kackmenschchen
6. Szene: Lichtmaschine
7. Szene: Teilung
8. Szene: Kaffeeölung
9. Szene: UnMittelbar
Jäger und Sammler
2. Akt: Unten da
1. Szene: Unten da
2. Szene: Im Grunde
3. Szene: Gefallen
4. Szene: Badunfall
5. Szene: a girls world
6. Szene: Die Spieluhr
7. Szene: Der Elektriker
Jäger und Sammler
3. Akt: Der elektrisch( rollend)e Stuhl
1. Szene: Urinflasche
2. Szene: Leichen, im Keller
3. Szene: WEGEN DER PSYCHE
4. Szene: Mit dem Rauchen
5. Szene: Putzfrau
6. Szene: fesselt mich ans Bett
7. Szene: Der Friedrich hat seine Tage
8. Szene: einen Antrag
9. Szene: Hall of shame
10. Szene: Totenaugenschließen
11. Szene: dem unendlich einsamen Wolfsmann
12. Szene: Die Mathematik des Glückunglücks
13. Szene: so Schicksale und so
14. Szene: Oder kommt sie nicht
15. Szene: Wegen dem sitze ich
16. Szene: »Zieh dich aus, du alte Hippe!«
17. Szene: Die Nymphalidendame
18. Szene: »Wärter ...!«
19. Szene: what for Helle
20. Szene: ich will ABSAGEN!
21. Szene: Nadel in meinen Unterarm
22. Szene: der tote Säugling bleibt
23. Szene: Erwachen in GUTEN GEDANKEN
24. Szene: zum Strand gegangen
25. Szene: nicht zu fassen!
26. Szene: »Du alter Affe!« (zärtlich)
27. Szene: windelweich
28. Szene: nicht an die Regeln halten
29. Szene: von Kunstlehrern bemalte Kalksandsteinmauern
30. Szene: leichte Brise aus Licht
31. Szene: Zelle. Keim
32. Szene: »Hör auf!«
33. Szene: Precor Crosstrainer EFX® 5.37
34. Szene: Docht des Lebens
35. Szene: Ei
36. Szene: der metamorphierte Mann
kurz vor Toreschluss
V
W
X
Y
Z
.
Danke! (Endlich ...)
DERHANK
Der LSD-Verlag
Leseprobe Am Ende der Zeit
Impressum neobooks
LSD - Verlag Literarische Sammlung DERHANK
www.LSD-Verlag.de
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Oder begraben Sie es in der Mördergrube Ihres Herzens!
»Ich bin unsichtbar.«
Ein Mann in einer Zelle, die der Leser anfangs noch in einem - vielleicht US-amerikanischen - Hinrichtungstrakt verortet, und eine allmorgendlich erscheinende Putzfrau, die mit proletarischer Laxheit seine Befindlichkeiten kommentiert (ohne je mit ihm wirklich zu kommunizieren) und damit die Beklemmnis seiner Gefangenschaft Lügen straft; das sind die beiden Gegenpole der Geschichten aus der Todeszelle, welche immer weniger als beschriebenes Abbild einer äußerlichen, realweltlichen Einrichtung erscheint, sondern sich Szene für Szene in etwas verwandelt, das man vage als das inneres Gefängnis der Seele umschreiben kann.
Der Mann trägt Schuld. Man ahnt die Tat, den Mord, den er begangen hat oder er zumindest glaubt, begangen zu haben, doch zugleich ist er selbst Opfer eines im wahrsten Sinne des Wortes ‚hingeschissenen’ Daseins, sein Körper ist die Hülle des Teufels Exkremente, welcher ihn damit geformt und zu seinem Ebenbild gemacht hat.
Während der Mann sich mit beängstigender Gleichgültigkeit auf seine Hinrichtung vorbereitet, er Abschied nimmt von seinen Mitgefangenen und dabei die (un-) vorstellbaren Arten des eigenen Todes durchspielt, abstrahiert sich des Lesers Blickwinkel auf seine Zelle unmerklich hin zu einem metaphorischen Blick auf alle möglichen endzeitlichen Zellen, profane wie metaphysische, in denen er oder der Mensch an sich gefangen ist oder aber in die er sich hineingeflüchtet hat vor Schule, Arbeit oder die ihn bis in den letzten Lebenswinkel dominierende Familie, sie ist trautes Heim, Zoo, Gotteshaus und Hort unerfüllter, wenn nicht unerfüllbarer Sexualität, und als der Mann unter traumhaft traumatischen Umständen seine untere Körperhälfte verliert, ist sie alsbald sein Alters- oder Sterbeheim. Zugleich ist die Zelle die wahre Heimat, in die es ihn, nachdem er ihr tatsächlich entfliehen kann und draußen nach der vermeintlich wahren sucht, zurücktreibt, um sich ihr und der Brutalität dessen, was ihn darin erwartet, mit Hingabe zu unterwerfen.
Die von 2008 bis 2011 für die Internetplattform www.unruhr.de aufgeschriebenen Geschichten aus der Todeszelle sind weder eine lose Textsammlung - dafür stehen sie zu sehr miteinander - auch (mehr oder weniger) chronologisch - in Verbindung -, noch sind sie zusammengenommen ein in sich konsistenter Text - dafür fehlt ihnen jegliche textuelle - in sich schlüssige, innere - Logik, geschweige denn so etwas wie eine auktoriale, also übergeordnete, rahmenbildende oder gar kategorische Wahrheit.
Die Geschichten aus der Todeszelle sind die Leichen in unseren Kellern, Albträume, die wir morgens vergessen haben wollen, abgründig verstörende Trips, die drei Akte, 53 Szenen und zwei Zwischenspiele lang nicht nur kein Ende finden, sondern sich tiefer und tiefer in das innere Todesgefängnis menschlichen Seins hineinschrauben, ein psychedelisch-halluzinogenes Stakkato immer absurder gerierender körperlicher, geistiger und seelischer Deformationen, das bestenfalls dem Namen des Verlags zu - wenn auch falscher - Ehre gereicht.
Und immer, wenn man meint, dass es nun schlimmer nicht kommen könne, kommt es doch.
Ich bin unsichtbar.
Ich glaube, ich könnte die Zelle verlassen, wenn ich wollte.
Die Leute nehmen mich nicht wahr.
Ich existiere nicht.
Wenn morgens die Putzfrau kommt, dann erschreckt sie jedes Mal, wenn ihr Wischmob gegen meine Füße klatscht.
Am Anfang bin ich immer auf die Pritsche gesprungen. Doch jetzt bleibe ich einfach stehen, stelle mich sogar so hin, dass sie mich schon beim Reinkommen sehen MÜSSTE. Aber sie blickt stur auf den Beton oder schwatzt mit ihrer Kollegin, die draußen vor der Zellentür eine raucht. Und wenn ich versuche, mitzureden, eine Lücke abpasse, eine WORTPAUSE, und ich einen Satz anfange, fängt auch sie wieder an. Redet einfach durch, trampelt meinen angefangenen Satz nieder wie Gras, latscht drüber weg, als wäre mein Satz nichts. Nichts, das man hören müsste.
Darum warte ich jetzt immer auf den Schlag ihres Schrubbers. Wenigstens dann schaut sie mich an: Ihre Augen sehen meine Augen, sehen IN meine Augen und ich habe das Gefühl, dass das etwas auslöst. Plötzliches Erkennen: »Hoppla, da steht ein Mann!«
Nichts Großartiges, kein Staunen, nur der kurze Schreck darüber, dass das Hindernis LEBT.
Sie denkt nicht darüber nach, was der Mann da soll. Dass der Mann der Grund ist, diese Zelle zu putzen. Dass es ZUSAMMENHÄNGE gibt. Sie denkt nicht an so etwas. Sie denkt bloß: ein Mann. Fertig. Kein Attribut, kein »Oha, ein gut aussehender Mann«, oder »was für ein hässlicher Mann!«, oder »Dank Dir, Mann, dass ich ARBEIT habe!« Nichts. Doch ich bin froh, wenn sie mich überhaupt ansieht. Dann weiß ich, dass ich da bin. Und nicht einfach durch die Gitter gehen könnte.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Komischer Typ. Die Zelle astrein. Geht am schnellsten. Kein Dreck, Bettzeug immer sauber, und die Klobrille erst: kann man von essen. Als wär' da keiner. Krieg ich ne Gänsehaut, ehrlich.«
»Dead man walking!«, wenn einer von uns geht. Gegangen wird. Wir strecken unsere Hände durch die Eisenstäbe und schütteln sie dem GEWEIHTEN, wir winken den Wärtern und applaudieren dem Henker, denn der Gang zwischen den Zellen ist der Gang der Gänge.
Neulich, der Selbstmörder. Unsanft hinauskomplimentiert. Seine Schreie ließen mich die Ohren zuhalten. Verurteilt wegen versuchten Selbstmords.
Denn GESETZ IST GESETZ!
Als Kind bin ich gerne am Feuer gesessen. Manchmal sprang eine Wurst vom Grill, direkt in die Glut. So erlebte das in die Wurst eingegangene Tier sein Sterben ein zweites Mal. Es, nein, sie krampfte, zuckte, bäumte sich auf und ihr anschwellendes Fleisch spannte die Pelle; Heulen und Zischen, bis sie zerriss, sich über die ganze Länge häutete und gelblicher Saft herausspritzte. Aus weißer Haut wurde schwarze Kruste, vom Fleisch blieb nur Kohle und endgültig konnte man von Tod sprechen.
Doch nein! Rechtzeitig stichst Du mit einer Gabel hinein und holst sie raus. Gerade noch. Ihre Erleichterung; natürlich nur, um zwischen Deinen Zähnen zermalmt zu werden.
Zu früh gefreut?
Und wenn sie sterben wollte? Absichtlich vom Rost gerutscht? In die Flammen? Und erst dort, unter unerträglichen Schmerzen schwach geworden und wieder einen Lebenswillen gefunden - unendlich froh, von Dir gerettet zu werden?
Und wenn ich mich selbst gleich mit verbrannt hätte? Mich mit Benzin übergossen und angezündet? Und man mich gerettet hätte, bevor es vorbei gewesen wäre? Dann LÄGE ich jetzt hier. Auf einem Krankenbett mit Brandblasen, nässenden Wunden und rohem Fleisch; Verbände, Infusionsflaschen und jeder Teil von mir BRENNT. Sie würden mich am Leben halten, mit der ganzen Gewalt des Hippokratischen Eids. Keinen Tag eher dürfte ich tot sein. Ich läge also auf dem Bett, und dann würde sie kommen. Sie - nicht Rosea, Rosea würde nicht kommen, aber: - meine Putzfrau. Und nun würde sie mich sehen, denn nun wäre ich UNÜBERSEHBAR! Ich könnte nicht sprechen, mein Gesicht ein bandagierter Klumpen, aber ich würde spüren, wie sie sich mir näherte und sich an mein Bett stellte, voller Mitgefühl, und auch ein bisschen Ekel dabei. Ich würde sie hören können, ein atemloses Seufzen. Ganz langsam, ganz vorsichtig würde ihre Hand über meinem Arm schweben, jenen, der allein noch unversehrt wäre. Es würde Minuten dauern, bis sie sich traute, ihre Hand zu senken.
Ich würde diesen Moment genießen, die Wärme ihres Körpers, und dann würden sich meine verbliebenen Härchen aufrichten, würden sie empfangen, ihre sorgenden Finger, würden sich sanft niederdrücken lassen, bis sich Haut auf Haut legte.
Von da an würde sie jeden Tag etwas länger bleiben, würde immer ihre Hand auf meinen Arm legen, würde mit mir sprechen; flüsternd, dass es die Anderen nicht hören, zärtlich, mitfühlend, liebevoll. Ich bliebe stumm, aber mit meinen restlichen Fingern würde ich ihr Zeichen geben. Trotz der Unerträglichkeit wäre ich glücklich.
Bis der Tag käme, der für jeden von uns kommt. Man würde mich mitsamt Bett hinunterschieben. Die Putzfrau würde heimlich weinen, niemand dürfte es wissen. Ein letzter Druck auf meinen Arm, ein letztes Zeichen meiner Hände, und dann: in meinem dunklen Kopf nur das dumpfe Rumpeln des schwer rollenden Bettes und die Stöße sich öffnender und schließender Eisentore.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Wassendas für’n nasser Fleck unterm Bett? Wie Eiter. Als hätt' der was. Der gehört in Behandlung. Meine Meinung.«
Heute ist Inspektion. Vertreter der Verwaltung wollen sich vom Zustand der Anlage überzeugen. An Tagen wie diesen sind die Gänge zwischen den Zellen voller Menschen. Sie bilden dichte Trauben um die Referenten, Gutachter und Berater, die sich wiederum um die Funktionäre drängen. Wegen der vorgeschriebenen Sauberkeit tragen sie alle weiße Gummihandschuhe, weiße Kittel, weiße Hauben und weiße, knautschige Überzieher an den Schuhen. An den Zellen diskutieren die Inspekteure miteinander und lassen sich über jeden Insassen aufklären, sprechen über die Tat, das Motiv der Tat, die Ursache des Motivs und die Entstehung der Ursache, bis sie das ganze Leben erfasst haben, auf dem die Tat wie die Spitze einer Pyramide thront.
Das ganze Volk ist da. Ein in den Ohren flirrendes Tuscheln, Flüstern und Kichern hallt von den hohen Gewölben wider. Und weil es so voll ist, können nur die wenigsten verstehen, was im Zentrum der Menge gesprochen wird. Darum bilden sich auch an anderen Stellen leise Gesprächszirkel, beflissen, ernsthaft, und alle wollen die tausend Augen der Behörde sein. Aber da sind auch die, die den Grund ihres Kommens vergessen haben. Sie sind stumm oder flüstern in hilfloser Ehrfurcht mit ihren Nachbarn.
Sehnsüchtig warte ich darauf, dass ich an die Reihe komme. Denn nur den Wichtigsten will ich mich öffnen. Die Vorstellung, vor ihnen bloß zu liegen, ist Scham und Lust zugleich. Während ich warte, schauen manche andere zu mir herein. Ihre Blicke sind seltsam strafend, obwohl sie doch kein Recht haben, meine Tat zu beurteilen. Doch es kann auch Neid sein, weil sie sich unbedeutend fühlen beim Anblick des Todes. Ihre Augen springen hin und her, vom Bett auf die Toilettenschüssel und von da auf den Tisch mit den Früchten, und es scheint, dass sie selbst den Anblick der Früchte nicht ertragen. Manche zeigen mit dem Finger auf mich und sehen sich wichtigtuerisch um. Ich sitze auf dem Bett und versuche beiläufig zu wirken. Ich lese in einer Zeitschrift und scheine sie nicht zu bemerken.
Das Warten dauert Stunden. Ich stehe auf und gehe unter den Blicken einer kleinen grauen Frau zur Obstschale. Auf ihrem papierglatten Gesicht kleben dünne Sommersprossen und ihre Augen sind in den Gläsern einer randlosen Brille zu winzigen, schwarzen Punkten zusammengeschrumpft. Ich spüre den stechenden Druck dieser Augen, auch wenn ich nicht hinsehe. Erst als ich einen Apfel greife, wird mir bewusst, dass ich sie nicht fürchten muss; die Gittertür ist verschlossen. Ich schaue hoch und sehe, wie sie von der in Bewegung geratenen Menschenmenge weggedrängt wird. Doch sie verzieht noch ihre fein geschminkten Lippen und zeigt mir die gebleckten Zähne, auf denen ein Tee- oder Kaffeeschleier liegt. Nein, sie lacht nicht, sondern sie spuckt in meine Richtung, was sie wohl nie geübt hat, denn aus ihrem Schlitzmund sprühen viele kleine Tropfen, die hineinregnen und den Boden befeuchten. Auch das Obst und sogar mein Apfel werden nass.
Ich lecke an ihrem Speichel und schäme mich dafür.
Als endlich, am späten Abend, die Inspektion bei mir ist, verberge ich mich noch immer unter meiner Decke - mit diesem Apfel, der nach ihr riecht. Ein Mann sitzt an der Bettkante, streichelt mir beruhigend über den Kopf und redet sanft auf mich ein. Doch ich weigere mich, ihm zu antworten. Als ich schließlich hervorkrieche, sehe ich: Es ist mein Henker, der mich präsentieren soll.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Heute lag der unterm Bett, wie tot, ehrlich! Aber mich fragt ja keiner.«
Man muss wissen: Die Exekution ist längst ihrer grausamen Vergangenheit entwachsen. EMANZIPIERT. Man begnügt sich nicht mehr mit Fallbeil, Tod und weg. Man sieht das jetzt ganzheitlicher. Mit individueller Betreuung, die sich an psychologischen Erkenntnissen orientiert. Sodass der Delinquent teilhat an dem Prozess - aktiv, er ist ja der Mittelpunkt, der, um den es geht. Auch das ganze Drumherum, die Vorbereitung, die Wahl der persönlichen Hinrichtungsmethode, das wird vorher kommuniziert. Du bist von Anfang an dabei, das ist der eigentlich wesentliche Teil des Vollzugs. Und dazu gehören auch regelmäßige Treffen mit dem Henker. Mit dem persönlichen Henker. Eben mit dem, der ...
Mein Henker: Dünne Stelzen tragen einen tonnenförmigen Rumpf, und obenauf klebt ein Gesicht, so falsch, als wäre der Kopf versehentlich unter das eigene Fallbeil geraten und hastig wieder angeklebt worden. Aus der Nahtstelle zum Brustkorb quillt eine Speckwulst wie Silikon heraus. Dieses Gesicht ist immer nach oben gerichtet und kaum fähig, einem Delinquenten in die Augen zu schauen. Wenn er es versucht, dann muss er sich vorbeugen, einen steifen Diener machen, um so von unten herauf den Blickkontakt herzustellen. Man sieht dann eine teigige Fläche mit wenigen, unscheinbaren Pickeln zwischen den winzigen Knopfaugen und dem hochgedrückten Nasenstummel. Ein Kinn gibt es nicht, nur eine Linie von links nach rechts als Begrenzung des Unterkiefers, und parallel darüber ein dünner, blutleerer Strich, der sich ständig zu einem Schnörkel zusammenzieht und dabei unentwegt seufzt.
So stand er vor mir und beugte sich über den Tisch, wollte diesen aber offensichtlich nicht berühren. Stattdessen hingen die strickdünnen Ärmchen an den Seiten herunter und schienen von den Gewichten zweier tellergroßer Pranken noch in die Länge gezogen zu werden.Sie schlugen mit jedem Seufzer vor das Möbel, prallten davon ab, tatschten aneinander und baumelten wie seine Delinquenten am Strang. Um nicht vornüber zu fallen, hatte er sein rechtes Bein angehoben, das Knie drückte von unten in den Bauch und der Fuß stützte sich stramm auf dem linken Oberschenkel ab, sodass die ganze Konstruktion nur von seinem zitternden linken Standbein gehalten wurde.
Nachdem wir - ganz geschäftsmäßig - die organisatorischen Fragen meines Vollzugs geklärt hatten, blieb er stehen, mit unbeteiligtem Gesicht, nur der Schnörkelmund seufzte still vor sich hin. Ich bot ihm meinen Stuhl an, stand dafür auf und ließ ihn hineinplumpsen, wobei er die Spannung wie ein geschwächtes Pferd aus seinen Beinen ließ.
Auch sitzend konnte oder wollte er mich nicht ansehen, denn er nahm sein Gesicht wie ein rohes Schnitzel zwischen die Würste, die seine Finger waren, sodass es zerknautschte und die kleinen Augen verschwanden. Doch nach einer Weile stummen Seufzens begann er zu sprechen, wobei die Hände selbst durch Öffnen und Schließen des Mundlochs die Worte zu formen schienen:
»Jeden Tag begleite ich einen Lebenden in den Tod. Das ist gerecht und von Gesetz wegen gewollt. Der Lehrer lehrt, der Bäcker bäckt und der Henker henkt. Ein jeder tue sein Ding nach bestem Wissen und Gewissen. Doch mir ist jede Hinrichtung wie ein Stein, der sich auf dieses meine Gewissen legt. Täglich ein Stein auf dem anderen, und mein Gewissen ist bereits so schwer, dass es mit mir im Boden versinken könnte.«
Er erzählte mir von seiner Arbeit.
Ich hockte mich zu ihm auf einen umgedrehten, von der Putzfrau vergessenen Eimer. Zur Erlösung seines gequälten Gesichts hatte ich ihm meine Hände gereicht, die er nun dankbar mit seinen knetete.
Diese Hände! Immer schienen sie im Weg zu sein, zu groß, zu ungeschickt, zu tollpatschig. Dabei waren diese unförmigen Pfoten überraschend weich und umschlossen meine Finger so zärtlich wie die Liebe einer Frau. Es war ja nicht die Bedienung der tödlichen Maschinen, die seinen Händen diese Größe aufgezwungen hatte. Sie waren ja nur darum so grob geworden, weil sie so selten ein dankbares Opfer fanden. Meist musste der Henker die Delinquenten holen, sie von den Gittern reißen, sie zerren, tragen und auf dem Bock befestigen - gegen ihr Strampeln, Schreien und Winden. Nicht selten geschah es dann, dass diese Hände den Kandidaten versehentlich zu Tode drückten, bevor die eigentliche Prozedur begann. Solche tragischen Unfälle verdoppelten dann seine ohnehin schwere Last. Erst gestern hatten diese Hände vergessen, die Lederriemen um Arme und Beine des Kandidaten zu schließen (er sprach von Chruszchow aus der Nachbarzelle, ich kannte ihn gut), sodass der, nachdem man seinen Kopf abgetrennt hatte und aus dem Loch zwischen den Schultern rote Tränen flossen, aufstand und zurück auf die Straße gelaufen ist. Tak-tak-tak-tak-tak ...
Und mein Henker ist hinter ihm her und hat ihn gehalten; hat dieses Weinen ertragen, das ohne Zwischenstück direkt von Herzen kam.
Wie nur kann einer, der selbst nie jemandem etwas getan hat, die Last aller fremden Taten auf sich nehmen? Springt nicht mit jedem Stein, der sein Gewissen beschwert, die Tat des Delinquenten selbst auf ihn über? Trägt dieser armen Mann nicht alle unsere Taten wie der Heiland sein Kreuz?
Ich stand auf, ging um den Tisch herum und nahm ihn in den Arm; versuchte ihn zu trösten für sein unermessliches Opfer. Ich versprach, wenn ich an der Reihe bin, mich ganz seinen fürsorglichen Händen hinzugeben und in ihnen einzuschlafen wie ein Kind.
>>> Kommentar der Putzfrau: »Was grinst der heute so blöde? Der soll die Finger von mir lassen und den Eimer zurückgeben. Kerl!«
Ich bin ein Kackmenschchen.
Als Gott den gottgleichen Adam aus Lehm formte, da hat der Teufel heimlich zugesehen und sich wie folgt notiert: Man nehme eine weiche, braune Masse, knete sie und forme daraus ein Ebenbild seiner selbst, hauche es an und fertig ist der Mensch.
Zurück in der Hölle hätte Luzifer auch gerne so ein Menschlein gehabt. Und weil er sich beim Baustoff nicht recht zu helfen wusste (und weil er seine Analphase ohnehin nie überwunden hatte), machte er einen großen Haufen mitten auf den nackten Fels und begann selbstvergessen wie ein Kind damit zu spielen. Er formte kleine Figürchen, die mehr oder minder wie jene Ebenbilder Gottes - oder auch wie Luzifer selbst aussahen. 'Humanoide' würde man heute sagen. Und wie Gott hauchte er jedem Einzelnen von ihnen seinen schwefeligen Atem ein und schickte sie zum Paradies, um Lehmadam und sein Rippenfräulein zu ärgern.
Leider waren seine Kreaturen aber so missraten, dass die wachhabenden Engel sie angewidert zurückschickten. Derart unvollkommene (und übelst stinkende) Wesen hatten im Paradies nichts zu suchen. Sie blieben also außen vor, und weil der Teufel sie auch nicht mehr brauchte, fristeten sie ihr kümmerliches Dasein fortan in Mühe, Sorge, Angst und Schmerz. Als es Luzifer endlich gelang, mit dem Schlange-Apfel-Trick auch Adam und Eva aus dem Paradies herauszuholen, da war die Welt schon bevölkert von menschlichen Wesen, die nichts Göttliches an sich hatten.
Den Rest der Geschichte kennen wir. Gottgleiche und Kackmenschchen vermischten sich und ergaben zusammen die heutige Menschheit. Doch die meisten Menschen sind entweder mehr von der einen oder mehr von der anderen Natur. Dadurch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Gottgleichen finden zurück ins Paradies, weil sie sich daran ERINNERN. Sie haben das Paradies noch in sich, sind also gefestigt in ihren WüÄ