Peter Köpf

WO IST
LIEUTENANT
ADKINS?

Peter Köpf

WO IST
LIEUTENANT
ADKINS?

Das Schicksal desertierter
Nato-Soldaten in der DDR

Editorische Notiz
Die Schreibweise in diesem Buch folgt den Regeln der reformierten Rechtschreibung; um der besseren Lesbarkeit willen wurden die Zitate ebenfalls diesen Regeln angepasst.

Die in den Anmerkungen aufgeführten Schriftstücke des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) befinden sich sämtlich in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Prolog

Kinder, »Commies«, Kriminelle: Weshalb Nato-Soldaten in der DDR um Asyl baten

Genosse Schenk: »Nicht aufs Wort glauben, aufs Strengste prüfen!«

William D. Adkins: »Ich widme mein Leben einer Sache, an die ich glaube«

Der jüdische Kommunist: »Nur ein Fluchtweg war möglich: ostwärts«

Die Afroamerikaner: »Auch ich bin Amerika«

William P. O’Ryan: »Amerika wird ein faschistischer Staat«

Fehltritt mit Folgen: William Smallwood stolpert in den Osten

Philip E. Morand: »Seit ich in der DDR lebe, ist mein Leben mit vollem Glück erfüllt«

»Should I stay or should I go?«: Leben im Bautzener »Märchenschloss«

»So tief war ich nie gesunken, als ich im Westen war«

Die »Internationale Solidarität«: »Jeder Freund, der bei uns eine neue Heimat findet, ist eine Waffe gegen die Kriegstreiber«

»Ein schönes Zuhause, eine gute Arbeit und genügend Freizeit«: Der propagandistische Nutzen der Deserteure

Jack Stuart macht sich in der DDR ein schönes Leben

Ostpropaganda: »Wir sind aus freiem Entschluss in die DDR übergetreten«

»Während es in den USA Rassendiskriminierung gibt, sind in der Sowjetunion alle Menschen gleich«

»Der verhätschelte Mörder«: Jack Stuarts schönes Leben ist zu Ende

Operation »Volkswagen«: Die Stasi sucht den Fluchthelfer

Der Fluchthelfer: Zehn Jahre Gefängnis für den Rothaarigen

Der Schleuser ist gefasst, aber die Fluchten hören nicht auf

André Labarthe verrät die Stasi, aber nicht seine Schwägerin

»Spring operation«: Ein Vogel will zurück ins Nest

Die Leiden des jungen Stasi-Spitzels

Operativer Vorgang »Lehrzeit«: Halbweltdamen für die Stasi

Schenks »U-Boot« bei den Amerikanern

William O’Ryan will nicht zurück nach Bautzen

Smallwood erfährt im »Gelben Elend« von einem Geheimnis

Der Fluchthelfer schnappt Schenks Köder

Die Doppelagentin: Charlotte Hillie in Bautzen

Smallwood vertraut Jack Forster: »Wenn wir zurückkehren, werden wir behandelt wie Helden«

Schenk stellt Smallwood eine Falle, und der begeht eine Dummheit

William O’Ryan: Ein Amerikaner verzweifelt an der Welt

Der Fluchthelfer sagt »die volle Wahrheit«

Aus William und Jack werden James und John: Die fantastische DDR-Karriere des Lieutenant Adkins

Philip Morands vierter Fehler: »Man muss ihn unter Kontrolle halten«

Coffmans letzte Reise

»Ein Sammelbecken verkrachter Existenzen«: Schenks Bilanz des Scheiterns

»Gute Auftragserfüllung«: Die Stasi und die leichten Mädchen

Streit unter Taxifahrern: »Du hast ihn nach Berlin gebracht«

Charles Lucas macht sich die Hände schmutzig

Schenk greift durch: »Es ist niemals zu spät, Gutes zu tun«

Philip Morands fünfter Fehler: Endlich im Spiel

Charles Lucas will nicht mehr

Zeit der Abrechnung: Wie Heimkehrer ihre Flucht erklärten

Philip Morand: Ein Deal mit dem Ankläger

William Smallwood: »Ich bin glücklich, wieder zurück zu sein«

Adelanis Amnesie

Mr. Adkins ist verschwunden: Wo ist John Reed?

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Angaben zum Autor

Vorwort

Als Ernie L. Fletchers Angehörige das Telegramm lasen, in dem dessen Commander mitteilte, der noch nicht einmal 20-jährige Soldat werde vermisst, rechneten sie nicht damit, Ernie je wiederzusehen. Aber Ernie aus Covington, Kentucky, war nicht tot. Für eine »anständige« amerikanische Familie war das, was geschehen war, viel schlimmer.

Ernie war weder in Korea stationiert gewesen noch kämpfte er in Vietnam für die Freiheit oder was die Vereinigten Staaten von Amerika damals dafür hielten, sondern er diente in Deutschland, wo der Krieg bereits seit 14 Jahren zu Ende war. Die USA hatten gemeinsam mit ihren Alliierten Deutschland und die Welt von den Nazis befreit, und nun ging es in Europa darum, den Frieden zu erhalten, vor allem aber zu beweisen, welches System das bessere war, das freiheitlichere, das menschlichere. In dieser Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Kommunismus, im Kampf der beiden Systeme, war Ernie Fletchers Verschwinden von nicht zu unterschätzender Bedeutung: Deshalb klopften Journalisten von Radio- und Fernsehstationen an die Haustür seiner Familie und baten um Interviews. Denn Ernie hatte getan, was ein Amerikaner nicht tun durfte: Es hieß, er sei zu den Kommunisten übergelaufen.

Die Männer, die ihm helfen sollten, in der »neuen Welt« zurechtzukommen, lobten seinen ordentlichen Lebensstil, dass er wenig trinke und rauche, gut arbeite und lerne. Eines Tages fragten sie ihn, ob er einverstanden wäre, wenn zwei Offiziere der U.S. Army kämen, um mit ihm zu reden. Ernie hatte dazu wenig Lust, aber noch funktionierten die Reflexe eines ausgebildeten Soldaten: Wenn Vorgesetzte ihn zum Gespräch baten, ach was: befahlen, dann hatte ein Soldat zu gehorchen. Seine Begleiter brachten ihn zunächst zur sowjetischen Kommandantur nach Potsdam, die beiden Abgesandten der Army traf er schließlich in einer nahegelegenen Villa. Sie fragten ihn, wie es ihm gehe und ob er sich frei bewegen könne. Ernie antwortete, er sei freiwillig in die DDR gekommen, er habe nicht die Absicht, wieder zurückzukehren, es gehe ihm besser als zuvor.

Da gaben sie ihm den Brief seines Bruders und seiner Schwägerin: »Wir hörten, dass Ostberliner Radiostationen behaupten, Du seist in der russischen Zone und möchtest dort bleiben«, schrieben sie. »Niemand hier glaubt das.« Den letzten Satz hatten sie unterstrichen. »All Deine und unsere Freunde sagen, das sei nicht wahr, auch Deine Freundin, die kleine, weiß, dass das ein Propagandatrick ist.« Und sein jüngerer Bruder, ebenfalls Soldat, lasse ausrichten: »Sie müssen Dich entführt haben und Dich gefangen halten.« Ernie Fletcher steckte die beigelegten Zeitungsausschnitte ein, die von seiner Flucht aus der Army erzählten, und beendete das Gespräch.

So jedenfalls steht es in den Akten, in denen die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS, Stasi) ihre Erkenntnisse über all jene sammelten, die aus westlichen Armeen desertiert waren und in der DDR Asyl gesucht und gefunden hatten. Selbstverständlich ist diesen Akten gegenüber Misstrauen angebracht. Aber zahlreiche Belege aus anderen Quellen lassen sie als authentisch erscheinen – und das nicht nur im Fall von Ernie.1

Jeder politisch Interessierte kennt das Foto, das den jungen NVA-Soldaten Conrad Schumann im Jahr 1961 an der Bernauer Straße in Berlin beim Sprung über den Stacheldrahtzaun und in die Freiheit zeigt. Die Männer, die den umgekehrten Weg wählten, sind unbekannt. Auf einen von ihnen, Charles Lucas, stieß ich zufällig. Er hat in seinem kurzen Leben wenige Spuren hinterlassen. Die erste fand ich während einer Recherche über afroamerikanische Soldaten in Westdeutschland. In einer Fußnote eines Buchs wurde eine Kurzmeldung der New York Times vom 9. Dezember 1952 erwähnt: Ostdeutsche Zeitungen hätten von einem afroamerikanischen Soldaten namens Karl (sic!) Lucas berichtet, der übergelaufen sei. Die Begründung, die er dafür nannte, war potenziell für viele Menschen Hoffnung und Versprechen zugleich: »Während es in den USA Rassendiskriminierung gibt«, zitierte ihn die New York Times, »sind in der Sowjetunion alle Menschen gleich.«

Ein schwarzer Soldat, der sich vor den Rassisten in seinem Land und seiner Armee zu den Sozialisten geflüchtet hatte? Dem wollte ich nachgehen, und ich notierte »Karl Lucas«, »New York Times« und »9.12.52«. Mit diesen Daten bat ich beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) um eine Archivrecherche und – bei Erfolg – um Akteneinsicht.

Ich hätte nicht erwartet, dass sich durch die Lektüre einer Fußnote ein derartiger Mikrokosmos öffnen könnte. Aber so war es. Es dauerte ein paar Wochen, dann hielt ich 220 Kopien mit vielen geschwärzten Stellen in den Händen: In diesen Stasi-Akten offenbart sich Charles Lucas’ Leben.2 Aber ich fand, zunächst im Bundesarchiv (Innenministerium der DDR) und weil mir danach die BStU-Sachbearbeiterin Birgit Limbach mit Ausdauer und zunehmender Begeisterung die Stasi-Unterlagen erschloss, noch viel mehr. Charles Lucas war nicht der einzige schwarze Soldat, der ostwärts ging, er war auch nicht der einzige US-Amerikaner. Mehr als zweihundert Männer der US-amerikanischen, der britischen, der französischen und manch anderer Nato-Armee beantragten allein bis zum Mauerbau im August 1961 politisches Asyl in der DDR.

Für den Westen war jeder Überläufer eine Niederlage, jedes Statement eines Deserteurs in den ostdeutschen Zeitungen und Radiosendern ein Stich gegen das Selbstbewusstsein des Westens und ein kleiner Sieg für die DDR. Diese Männer hatten sich »dem Friedenslager angeschlossen«, hieß es in der Propaganda, sie wollten ihren Kopf nicht mehr für die Interessen der Kapitalisten und »Kriegstreiber« hinhalten.

Und so gerieten diese Männer in den Fokus der Geheimdienste. Neben dem Staatssicherheitsdienst interessierten sich auch die Mitarbeiter des amerikanischen Counter Intelligence Corps (CIC), der französischen Sécurité des Forces Armées und des britischen Secret Intelligence Service (SIS) für sie.

Wie lange dieser Stachel schmerzte, wie lange sie ihre früheren Dienstherren beschäftigten, verrät die Tatsache, dass nach dem Mauerfall das National Defense Research Institute im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums nach den Deserteuren von damals fahndete.3 In dieser Zeit waren die BStU-Akten kaum erschlossen, die Ergebnisse dürftig. Erst jetzt, im Laufe von mehr als zwei Jahren Recherche, ergibt sich, Teil um Teil, das Bild eines Puzzles, das der Geschichte des Kalten Kriegs ein unbekanntes Kapitel hinzufügt.

So viel ist sicher: Irgendwie suchten die meisten dieser Überläufer Frieden und Freiheit, die sie in ihren Truppenteilen offenbar nicht (mehr) gefunden hatten, oder schlicht ein besseres Leben. Es stimmt aber auch: Die Überläufer landeten in einer Sackgasse. Viele dieser Deserteure mussten feststellen, dass sie sich geirrt hatten, dass die DDR ihre Hoffnungen nicht erfüllte. Einen Weg zurück gab es nicht, jedenfalls keinen straffreien.

Jeder dieser Männer erzählt eine außergewöhnliche Geschichte, eine private Geschichte des Kalten Kriegs. Es sind Geschichten von Hoffnung und Verzweiflung, von Kollaboration und Konfrontation, von Vertrauen und Verrat, von Liebe und Hass. Vor allem aber sind dies Geschichten eines grandiosen Scheiterns. Sie zeigen, wie ein totalitäres Regime, das versucht, alles Leben zu kontrollieren, das Leben selbst zerstört, Menschen zu Feinden macht, auch miteinander befreundete und sogar sich liebende. Sie zeigen, wie Menschen unerwartet ins Mahlwerk der Politik, der Ideologien, der Interessen geraten und darin zugrunde gehen, zumindest verkümmern, wie sie verraten werden, manipuliert und gedemütigt von ihren übermächtigen Widersachern. Der Druck des Regimes, seiner Nutznießer und willfährigen Helfer kehrte bei einigen von ihnen das Schlechteste nach außen, statt, wie es der Sozialismus und die DDR-Regierung versprachen, Menschen zu Brüdern zu machen, zu Freunden. Genau so aber, »Freunde«, nannten die Stasi-Aufseher und die DDR-Beamten die Deserteure, doch sie behandelten sie wie Feinde, wie eine Bedrohung. Lassen Sie mich von einigen dieser vergessenen Männer erzählen.

Prolog

An Richard Warren Coffman lag es nicht, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Vor siebeneinhalb Monaten hatte er es ihnen schriftlich gegeben: »Ich erkläre«, kritzelte er damals auf ein bräunliches Stück Papier, »ich werde niemals in die USA zurückkehren.« Er meinte das ernst, er wollte für immer in der DDR bleiben. Der Satz war Ergebnis eines langen Ringens mit sich selbst und den Resultaten seiner Erziehung.

Doch nun hatten andere für ihn entschieden: seine Vorgesetzten in der größten, der erfolgreichsten Armee der Welt, die er im vorigen Herbst ohne Erlaubnis verlassen hatte, weshalb die Fahnder des CIC mehr als ein halbes Jahr lang seiner Spur gefolgt waren, die Sowjets, die in der DDR noch immer das Sagen hatten und sich in dieser Angelegenheit durchaus gern den Wünschen der Amerikaner beugten, sowie seine Ehefrau in Aberdeen, USA. Deren Wille war es, dass an diesem kühlen Morgen des 25. Mai 1955 ein paar Sowjets und Amerikaner in Uniform rauchend auf dem Marienfriedhof in Bautzen standen, während vier deutsche Arbeiter ein Grab öffneten, Coffmans Grab.

Es dämmerte, niemand redete, höchstens ein Flüstern war hin und wieder zu hören. Schweigend sahen die amerikanischen Offiziere, Vertreter der sowjetischen Kommandantur, darunter ein Oberst, ein paar Volkspolizisten, der Kreisarzt, zwei Kollegen der örtlichen Hygieneinspektion, ein Klempner, ein Genosse aus dem Ost-Berliner Innenministerium und Heinz Schattel zu, wie die Männer Erde aus dem Loch nach oben warfen und dabei langsam im Boden versanken. Schließlich stießen sie auf den Sarg, den die Totengräber vor knapp hundert Tagen hinabgelassen hatten. Sie banden zwei Seile um die Kiste, zogen sie aus der Grube, öffneten sie. Streng hielten sich alle Beteiligten an die Verfügung, die der stellvertretende Kreisarzt vier Tage zuvor an Schattel geschickt hatte, der die »Internationale Solidarität« (IS) leitete, die Organisation, die in Bautzen die Überläufer betreute.

»1. Die Ausgrabung hat unter Hinzuziehung des zuständigen Totenbettmeisters und des Desinfektors (…) zu erfolgen.

2. Die Ausgrabung hat zu einer Zeit zu erfolgen, zu welcher die betreffende Stelle von unbefugten Personen nicht betreten wird (Morgengrauen).

3. Derjenige Teil der ausgegrabenen Erde, welcher den Sarg umgibt, ist mit 5 kg Chlorkal oder Kalkmilch zu vermischen.

4. Es ist ein genügend großer Sarg (Metallsarg) bereitzustellen, in welchem die Überreste wieder beigesetzt werden können.

5. Der Metallsarg ist nach der Schließung zu verlöten.

6. Der Sarg darf nicht mehr geöffnet werden.

7. Die Volkspolizeibehörde ist wegen polizeilicher Überwachung der Ausgrabung unter Angabe von Tag und Stunde der Vornahme der Arbeiten rechtzeitig in Kenntnis zu setzen, unter gleichzeitiger Benachrichtigung der zuständigen Hygiene-Inspektion des Kreises Bautzen.

8. Sie haben sämtliche Kosten der Ausgrabung und Durchführung zu tragen.

9. Die Hygiene-Inspektion ist von der vollzogenen Ausgrabung und Überfügung in Kenntnis zu setzen.«

Nach eineinhalb Stunden war die Geheimaktion beendet, die Bevölkerung hatte die Exhumierung verschlafen, auch dank der gewissenhaften Arbeit von Stasi und Volkspolizei, die den Ort weiträumig abgesperrt hatten. Der Kreisarzt bestätigte abschließend, dass die polizeilichen und gesundheitlichen Bestimmungen eingehalten worden seien. Die US-Offiziere übernahmen großzügig die Kosten für Arbeit, technisches Personal und Transport in Höhe von 266 Mark und 65 Pfennigen. Nach einem Frühstück im Nebenraum der Gaststätte »Weißes Ross« begleitete der Stadtkommandant die Amerikaner, die Sowjets und den Sarg bis zur Stadtgrenze. Dort nahm der sowjetische Oberst die Leiche in Empfang, die er nach einer gemeinsamen Fahrt an der Sektorengrenze endgültig den Amerikanern überließ. Der Deserteur Richard Warren Coffman, der seine in Bremerhaven stationierte Einheit am 3. Oktober 1954 illegal verlassen und in der darauffolgenden Nacht die Grenze nach Osten überschritten hatte, befand sich nun auf dem Weg in das Land, in das er nicht mehr hatte zurückkehren wollen.

Wenige Stunden später hielt der Mann, der in der Ost-Berliner Zentrale des Staatssekretariats für Staatssicherheit für die Bearbeitung der Überläufer aus Nato-Armeen verantwortlich war, das Protokoll der Bautzener Genossen in den Händen. Er war erleichtert, dass Coffman fort war, aber er wusste: Die Probleme, die dessen Tod offenbart hatte, waren geblieben. Sein ertragreichster Geheimer Informator (GI), »Taylor«, hatte sie bereits wenige Tage nach Coffmans Beerdigung benannt, indem er von den Gerüchten berichtete: »Der Tod dieses Jungen hatte eine seltsame Wirkung auf alle Boys. Die Franzosen glauben, es sei für sie nicht mehr sicher in Bautzen. Die Amerikaner (…) sagen, der Vorfall zeige, dass man den Deutschen nicht trauen könne.« Einer von ihnen habe gewarnt: »Sie werden uns einen nach dem anderen töten.«4

Kinder, »Commies«, Kriminelle

Weshalb Nato-Soldaten in der DDR um Asyl baten

Er nannte sich »Dr. Huber«. Die Wahl dieses Decknamens war ein bisschen verwegen, weil der Mann, von dem er sich jede seiner wichtigen Maßnahmen genehmigen lassen musste, der »Arbeiterführer« Erich Mielke, akademische Titel verabscheute; vor allem aber war sie sehr anmaßend, weil »Dr. Huber« nicht promoviert, sondern lediglich ein Germanistikstudium an der Karl-Marx-Universität in Leipzig abgeschlossen hatte. Aber wenn Karl Schenk,5 so sein richtiger Name, das Tor von »Objekt 4« passierte, im Fond eines BMW schräg hinter dem Chauffeur sitzend, und dann das Haus betrat, in dem wieder ein Deserteur wartete, wenn er den neuen Amerikaner, Briten oder Franzosen begrüßte, dann ahnte der: Dieser Mann ist wichtig, »Dr. Huber« würde über sein weiteres Schicksal entscheiden. Das muss auch Richard Warren Coffman bemerkt haben, als er ihn zum ersten Mal sah.

Wenn Schenk in Coffmans Akte blätterte – und das dürfte er zweifellos spätestens nach dessen Tod erneut getan haben, weil er Maßnahmen zu ergreifen hatte –, dann trat ihm ein fortschrittlicher 29-Jähriger aus einfachen Verhältnissen entgegen, der in einem Land wie der DDR seinen Weg hätte finden können. Coffman war ein anständiger Mensch gewesen, obwohl oder gerade weil er mit einer Prostituierten, einem »business girl«, wie er sie nannte, in die DDR gekommen war, die ihm gesagt hatte, dass sie von ihm schwanger sei; Coffman war ein anständiger Mensch, obwohl in den USA eine Ehefrau und zwei Kinder auf ihn warteten. Vor allem war er ein konsequenter Mensch gewesen.

Coffman hatte seine Einheit in Bremerhaven verlassen und war in die DDR desertiert, weil er einen klaren Verstand besaß. Er hatte seine Lektionen gelernt, bittere Lektionen, und daraus Konsequenzen gezogen. Zunächst hatte der Soldat Richard Warren Coffman lernen müssen, dass es gerechte Kriege gab und ungerechte. »Als die Japaner Pearl Harbour bombardierten, verließ ich die Schule, um mich bei der U.S. Navy einzuschreiben«, notierte er an einem seiner ersten Tage in »Objekt 4«, das »Dr. Huber« und seine Kollegen »Krankenhaus« nannten. Stolz erklärte Coffman während seiner Vernehmung, der sogenannten Filtration: »Ich half, den deutschen Faschismus zu bekämpfen.« Nach der Rückkehr in die Staaten fand er keinen Job, alles war teuer. Er schrieb sich erneut ein, bei der Kriegsmarine, und lernte schließlich die zweite Art von Krieg kennen, den »kriminellen Krieg gegen das koreanische Volk. Dieser Krieg öffnete mir meine Augen für den Terror und die Grausamkeiten gegen Menschen, die ihr Heimatland verteidigten.«

Die Lehrstunden in Korea veränderten offenbar sein Denken. »Die Kriege der Kapitalisten um Geld sind für mehr Konflikte der vergangenen hundert Jahre verantwortlich als jede andere Ursache«, schrieb er. Dabei hätten die Kapitalisten »uns, die Kommunisten, als Barbaren und Kriegstreiber bezeichnet. In Wahrheit ist die Geschichte des größten Verleumders von allen, der USA, mit Blut geschrieben.« Die Soldaten der USA hätten die Indianer vertrieben und getötet und ihnen wie den Menschen in Hawaii und Alaska eine »neue Kultur« übergestülpt, sie hätten jüngst »Tod, Schande, Vernichtung und die Krankheiten des weißen Mannes« nach Asien geschleppt, und wenn er sehe, was »geldgierige Kapitalisten« in Korea und Indochina getan hätten, dann sei es doch verständlich, dass sein Herz krank sei, das Herz eines Amerikaners, der an die Freiheit glaube. »Wundert sich da jemand, dass ich Kommunist geworden bin?«

Als Coffman am 8. Oktober 1954 Asyl beantragte, versprach er, für ein besseres Leben und den Frieden zu arbeiten und den Ideen der Arbeiterpartei zu folgen, der SED. So schrieb er es auf, einen stumpfen Bleistift in der Hand, und bevor er die Erklärung unterzeichnete, ergänzte er sie um das Versprechen, seine Heimat nicht mehr zu betreten.6

Dass Coffmans Wille geschehe, dafür hatte nicht einmal »Dr. Huber« sorgen können, schließlich war ein Asylantrag kein Testament und Schenks Beruf nicht der eines Testamentsvollstreckers. Selbstverständlich hatte eine Witwe das Recht, ihren toten Ehemann nach Hause zu holen. Es stand ja auch eine Menge auf dem Spiel: die Ehre des gestorbenen Soldaten und ebenso die der lebendigen Ehefrau. Davon zeugte der – aus Schenks Sicht ebenso lächerliche wie seine Berufsehre verletzende – Artikel in einer westdeutschen Zeitung, der nun in Coffmans Akte lag: »US-›Deserteur‹ mit Auftrag?« lautete die Überschrift. Darin behauptete die Witwe, ihr Mann sei mit einem »geheimen Auftrag« in die DDR gegangen. »Er war viel zu gern Soldat«, sagte sie. »Er wollte immer gern in den Geheimdienst, und ich denke, dass es ihm auch gelungen war und dass er im Zusammenhang damit hinter den Eisernen Vorhang geschickt wurde.«7

Die Heimkehr eines Mannes, der aus der großen, amerikanischen Armee desertiert und auch noch zu den Kommunisten übergelaufen war, wäre in jeglicher Hinsicht ein schwerer Tag für die Angehörigen geworden. Ein derart pflichtvergessener Soldat blieb als Rückkehrer ein Vaterlandsverräter, der alle finanziellen Ansprüche verwirkt hat. Das galt auch für die Hinterbliebenen. Zum Wohl des Vaterlands hinter den feindlichen Linien gefochten zu haben, damit wäre eine ehrenvolle Rückkehr freilich möglich; erschlagen von einem Kommunisten, war Coffman fast schon ein Märtyrer.

Genosse Schenk: »Nicht aufs Wort glauben, aufs Strengste prüfen!«

Schenk war absolut überzeugt davon, dass Coffman keiner von denen war, die mit einem »geheimen Auftrag« in die Deutsche Demokratische Republik gekommen waren. Er gehörte in die erste von drei Kategorien, in die Schenk die Deserteure aus Nato-Armeen sortierte: jene, die kamen und blieben, weil sie, wie sie glaubwürdig behaupteten, am großen Aufbauwerk des Sozialismus mitarbeiten und die Welt verändern wollten. Diese »Freunde« – so nannten Schenk und die Genossen von der Staatssicherheit und in den anderen involvierten Abteilungen des Innenministeriums die Überläufer aus »imperialistischen Armeen« – hatten sich entschieden, Uniform und Waffe an den Nagel zu hängen, und sie bemühten sich, ordentliche Glieder der sozialistischen Gesellschaft zu werden.

Und doch mussten Schenk und dessen Genossen auch diese Überläufer kontrollieren. Selbst wenn sie ihren Asylantrag antikapitalistisch begründet und ihre Loyalität bewiesen hatten, so blieben sie doch »deren« Zöglinge. Es wäre nicht klug, einem von imperialistischen Offizieren ausgebildeten Soldaten blind zu vertrauen, nur weil er den Kriegstreibern von der Fahne gegangen war. In Schenks Abteilung galt: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!

Auch einem Germanisten war bekannt, dass Lenin mit diesem populären Wort sehr frei, dafür umso einprägsamer übersetzt worden war. »Nicht aufs Wort glauben, aufs Strengste prüfen!«, hatte der russische Revolutionär als »Losung der marxistischen Arbeiter« ausgegeben. Für die Männer und Frauen, die den Arbeiter-und-Bauern-Staat gegen Angriffe des Feindes zu schützen hatten, war sie grundlegend. Einer wie Schenk hatte streng zu prüfen, er durfte nicht einmal denjenigen trauen, die sich in seiner Organisation als nützlich erwiesen hatten. Nicht aufs Wort zu glauben – eine Eigenschaft, die dem Naturell der Menschen entgegenstand – gehörte gewissermaßen zu seiner Stellenbeschreibung, in der unter »besondere Qualifikationen« stand: Misstrauen.

Es waren gerade zwei Winter und ein Sommer vergangen, seit Schenk nach Berlin gezogen war, um bei der Staatssicherheit für die »Filtration von Überläufern aus Armeen kapitalistischer Staaten« zu sorgen, sie also nach der Ankunft gründlich zu filzen und dauerhaft zu beobachten, damit sich nicht eine imperialistische Laus in den Pelz des jungen Staates setzen und dort ihr zerstörerisches Werk verrichten konnte. Vom ersten Arbeitstag an hatte er sich Akte für Akte vorgenommen, sein Büro in Berlin-Lichtenberg stets sehr früh betreten und erst spät abends verlassen. Er fraß sich durch die Ordner, in denen er handschriftlich ausgefüllte, manchmal kaum lesbare Aufnahmebögen mit Fotos und Personendaten der Deserteure sichtete, deren meist mit Bleistift verfasste Lebensläufe, die ein Genosse übersetzt und mit der Schreibmaschine abgetippt hatte. Schenk war entsetzt über die Unordnung, über die Lückenhaftigkeit der Unterlagen. Es schien, als hätten seine Vorgänger lediglich das zusammengetragen, was zur Verfügung stand oder der Befragte von sich aus preisgeben wollte.

Inzwischen gab es umfassende, lückenlose Akten über jeden Einzelnen der »Freunde«, darauf hatte Schenk, angeleitet von seinem sowjetischen Instrukteur, einem Polkovnik (Oberst) namens Pawelow, von Anfang an geachtet. In einer Arbeitsrichtlinie ordnete Schenk zu Beginn des Jahres 1954 an, dass jeder Überläufer nicht nur einen Fragenkatalog zu beantworten hatte, sondern er habe außerdem »eine Erklärung an die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik zu richten, in der er um politisches Asyl bittet und die politische Begründung seines Übertritts in die DDR gibt. (Diese Erklärung kann dann in der demokratischen Presse und im demokratischen Rundfunk ausgewertet werden.)« Ein ausführlicher Lebenslauf beinhaltete die Schilderung seines Lebens bis zum Eintritt in die Armee – »en detail«, wie Schenk mahnte –, genaue Angaben über sein Leben in der und alle Kenntnisse über die Armee sowie seine Absichten in der DDR.

Diese Informationen sollten Ost-Agenten in West-Berlin und Westdeutschland, die sich direkt mit der Aufklärung der Einheiten, Kasernen und so weiter beschäftigten, ebenso überprüfen wie die Hinweise auf Zivilpersonen. »Die Agentur in Westberlin bzw. in Westdeutschland hat auch noch eine besondere Aufgabe«, ordnete Schenk an. »Sie besteht darin, für uns wichtige Militärpersonen in die DDR abzuziehen.«

Selbstverständlich war der Überläufer am Ort der Ansiedlung durch die örtliche Kreisdienststelle (KD) zu bearbeiten, deren operative Mitarbeiter Englisch beziehungsweise Französisch sprechen sollten. Die Anleitung dieser Mitarbeiter war Aufgabe der HA II/5 im Ministerium, die die Bearbeitung an die Bezirksverwaltungen (BV) delegierte. Diese wiederum schalteten die Kreisdienststellen ein, die »Agenturen« führen mussten, welche überwachten, ob die Ankömmlinge »Verbindungen zum Gegner« unterhielten. Damit Schenk in Ost-Berlin stets unterrichtet war, mussten die KD regelmäßig Berichte schreiben.8

Fortan fand Schenk die Akten geordneter und die Informationen dichter. Neben den Lebensdaten und -läufen las er Aufsätze der Deserteure über politische Fragen – häufig Beschreibungen militärischer Einrichtungen, Codes, Rangabzeichen und andere für künftige Filtrationen nützliche Informationen – und schließlich Berichte über ihr neues Leben. Kopien über Kopien in Hunderten von Ordnern, Tausende von Blättern, auf denen Zehntausende von Einschlägen der Typenhebel fettschwarze, auf den Durchschlägen meist dünngraue, auf den letzten manchmal schwer lesbare Spuren hinterlassen hatten, die noch zwei Generationen später belegen sollten, welches Bild Schenk und die anderen sich von ihren Schützlingen gemacht hatten. Nach inzwischen eineinhalb Jahren kannte Schenk sie in- und auswendig, die Amerikaner, die Franzosen, die Briten, mehrere Dutzend Männer, die in der jungen DDR Asyl gesucht und – jeder Einzelne – damit dem Lager des Sozialismus einen kleinen Triumph verschafft hatten.

William D. Adkins: »Ich widme mein Leben einer Sache, an die ich glaube«

Hätte Pat ihn erhört, so wäre William D. Adkins und ein paar Männern, die zu ihrem Unglück Adkins’ Weg kreuzen sollten, viel erspart geblieben. »Wären Pat und ich ein Paar gewesen, keine Macht der Welt und kein Glaube hätte es vermocht, mich von ihr zu trennen«, schrieb er. »Aber es ist anders gekommen, und nun bin ich hier.« Statt auf ihn zu warten, hatte Patricia ihm einen Brief geschickt, der ihn in der Kaserne in Österreich erreichte. Seine Dienstzeit in Europa war fast abgelaufen, und während er ihn las, immer wieder las, erkannte er, dass er Patricia, obwohl sie sich so nah gewesen waren, endgültig verloren hatte. Er zog daraus Konsequenzen, die einzigen, die ihm plausibel erschienen, und trat damit seinerseits aus dem Leben jener, die ihn liebten. Und weil er das wusste, und weil er ein verantwortungsbewusster junger Mann war, schrieb er einen Brief an »Mom«, die nicht seine richtige Mutter war, sondern die Frau, die er gern zur Schwiegermutter gehabt hätte; »Mom« war Patricias Mutter.

»Liebe Mom«, hob er also eines Tages zu Beginn des Jahres 1954 an, »dies ist der schwierigste Brief, den ich jemals schreiben werde. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Ich glaube, ich sollte zuerst sagen, dass ich Dich und Pat mehr liebe als alles andere in meinem Leben.« Und obwohl Pat inzwischen einem anderen Mann eine Tochter geboren hatte, und obwohl sie sich, an die fünftausend Meilen entfernt, für ein Leben mit einem anderen entschieden hatte, war ihm Patricia so nah geblieben, dass William Adkins sich noch immer genau daran erinnerte, was sie bei ihrem ersten Date getragen hatte: ein rot-weiß gestreiftes Kleid mit Tellerrock, offenem Ausschnitt und einer kleinen Schleife. Es belustigte ihn, und er empfand es gleichzeitig als merkwürdig, dass sich ihm das so genau eingeprägt hatte. Es kam ihm auch vor, als blicke er noch immer in ihre Augen, »die allerschönsten braunen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Ich hatte noch nie eine Frau getroffen, die ich für schöner hielt.« So sehr übermannten ihn die Gefühle, als er »Mom« schrieb, dass er ihr seine intimsten Empfindungen offenbarte: »Mom, ich habe Pat immer geliebt, und ich glaube, ich werde sie immer lieben.«

Aber nach Patricias Brief sei ihm klar geworden, »dass all meine Bande mit der westlichen Welt getrennt waren. Ich konnte sie nicht haben, also konnte ich mit meinem Leben nur noch eines anfangen: Ich konnte mein Leben nur noch einer Sache widmen, an die ich glaube. Ich weiß, es klingt für Dich unvernünftig, aber hier habe ich eine Gruppe von Menschen gefunden, die meine Überzeugungen teilen. Hier in meiner neuen Heimat habe ich ein Volk gefunden, das Frieden wirklich herbeisehnt.«

Adkins wusste, dass die Armee und alle Menschen, die er kannte, seine Tat als kriminell verurteilten. Ihm war völlig klar, dass junge Männer, mit denen er befreundet oder gar verwandt war, in Korea genau das bekämpften, woran er jetzt glaubte. Und er ahnte auch, dass es verrückt klang, wenn er schrieb, dass er zwei wirkliche Freunde gefunden habe, die ihre Namen leider nicht genannt hätten. Aber genau deshalb, weil ein leiser Zweifel seinen Kopf kaum merklich bewegte, hätte er viel dafür gegeben, »Mom« so verständnisvoll wie kräftig nicken zu sehen.

»Tief in meinem Herzen weiß ich, dass ich richtig handle«, schrieb er, fast ein wenig trotzig. »Ich hoffe, Du kannst das verstehen. Ich bin kein Verräter«, insistierte er. »Ich glaube daran, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein großes Land sind«, räumte er ein, »aber ich denke, sie haben zurzeit die falschen Führer.« Und er, so muss sein Brief gelesen werden, war der Mann, der etwas dazu beitragen wollte, das zu ändern, damit sich eines Tages alles zum Guten wendet. Bis dahin hatte er einen letzten Wunsch: »Mom, kümmere Dich an meiner Stelle um Pat, Du bist die Einzige, die das kann. Gib Du ihr alle Liebe und Aufmerksamkeit, die ich ihr gegeben hätte. Vielleicht sehe ich sie eines Tages wieder.« Wie das geschehen sollte, davon hatte er immerhin eine Vorstellung: »Möge es mir eines Tages erlaubt sein, in die sowjetrussische Armee einzutreten, dann werde ich sie wiedersehen. Ich werde dann ein Offizier der Armee sein, welche die USA befreit.«

Am 12. Januar 1954, sieben Tage vor seinem 23. Geburtstag und 17 Tage vor seiner Entlassung aus der Armee, war der Oberleutnant der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika mit der Erkennungsnummer 01882212 zur sowjetischen Garnison in Amstetten, Österreich, marschiert, um einen Antrag auf politisches Asyl zu stellen. Vor den sowjetischen Offizieren begründete Militärpolizist Adkins diesen Schritt damit, dass er »nicht einverstanden ist mit der aggressiven Außenpolitik der USA, mit den Handlungen des Senators McCarthy in der amerikanischen Armee und mit der Rassendiskriminierung in den USA«.

Adkins wollte gegen Rassen- und Glaubensverfolgungen kämpfen, gegen die politischen Verfolgungen, aber auch gegen die Ausbeutung der Massen in den USA. Das waren ehrbare Ziele, aber in den USA während der Ära des Kommunisten jagenden Senators von Wisconsin, Joseph McCarthy, Hochverrat. Doch Adkins war bereit, so lange zu kämpfen, »bis die USA befreit von den heutigen Regenten und ein wirklich demokratischer Staat geworden sind«.

Ein wenig verrückt mag es schon gewesen sein, nicht nur in den Augen eines guten Amerikaners, dieses Ziel ausgerechnet von Moskau aus anzupeilen; denn da wollte er hin, zu den »Commies«, wie man in den USA abschätzig die Sowjets nannte, um dort zu lernen und zu arbeiten. »Auch wenn ich den Kommunismus noch nicht vollständig verstehe«, schrieb er in jenen Wochen an den sowjetischen Kommandanten in Österreich, »so fühle ich, dass diese Regierungsform der Welt Frieden bringen wird.« Er habe fünf Jahre in der Armee gedient und sei dabei nicht glücklich gewesen, aber während dieser Zeit habe sich das Gefühl entwickelt, »dass das kapitalistische System, bei dem ein paar mächtige Millionäre die Regierung völlig kontrollieren, falsch ist«. Selbst in der Armee sei alles von denen dominiert, die Geld besäßen. Deshalb sei er desertiert, deshalb beantrage er Asyl in der Sowjetunion. »Ich bitte darum, mich die Doktrinen der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion studieren zu lassen, damit ich die neue Art zu leben besser verstehen kann.« Sollte ihm das gestattet werden, so war Adkins zu Gegenleistungen bereit: »Ich biete Ihnen meine Dienste im sowjetischen Militärgeheimdienst an. Dort könnte ich am nützlichsten sein.« Am 22. Februar ergänzte er: Falls sein Wunsch, in die Sowjetunion zu gehen, abgelehnt werde, bitte er um die Erlaubnis, »in die Vietnamesische Volksarmee eintreten zu dürfen«, als Infanterist. Sollte auch das nicht möglich sein, wolle er in eine der Volksdemokratien geschickt werden, allerdings keinesfalls in die deutsche.

Nachdem er das alles zu Protokoll gegeben hatte, erlaubten die Sowjets zwei Vertretern des Hohen Kommissars der USA in Österreich, Adkins zu besuchen. Doch dieser beschied am 27. Februar unmissverständlich, dass er nicht zurückkehren werde; er halte sich freiwillig in der sowjetisch besetzten Zone auf; es gehe ihm gut. Danach berichtete AFN-Radio, Adkins sei nervenkrank.

Offenbar bezweifelten jedoch auch seine neuen Freunde im Osten, dass mit Adkins alles in Ordnung ist. Fast zwangsläufig mussten sie sich einige Fragen stellen: Weshalb desertiert ein Mann wenige Tage vor Ende seiner Dienstzeit? Wieso strebt ein Amerikaner in die UdSSR und dort in den Militärgeheimdienst? Weshalb wünscht er alternativ ausgerechnet, nach Vietnam gebracht zu werden? Und das alles wegen eines verlorenen Mädchens?

Adkins steckte fest. Die Brücken nach Hause hatte er abgebrochen, und vor ihm war noch keine neue zu erkennen. Niemand konnte oder wollte ihm sagen, wohin sein Weg ihn führen würde.

Am 9. März 1954 endlich hieß es, er solle sich für eine Reise an einen anderen Ort bereithalten. Schriftlich dankte er dem »Repräsentanten Ihres großen Landes«, dem sowjetischen Kommandanten in Österreich, »für die freundliche und sympathische Behandlung« in den vergangenen acht Wochen, nicht ahnend, was ihm bevorstand.

Drei Tage später fand er sich in einer mehrstöckigen, braungrau verputzten Villa an einem See wieder. Er war zwar nicht in einem Gefängnis, hatte aber auf dem Weg vom Auto zur Tür gesehen, dass eine hohe Mauer das Grundstück umfriedete und die unteren Fenster durch Eisengitter gesichert waren. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er war, weil die Sowjets ihm während der stundenlangen Fahrt die Augen verbunden und überdies die Gardinen vorgezogen hatten. Nach einer Weile kam ein kleiner Mann mit Brille herein und stellte sich in passablem Englisch mit deutlichem Akzent als »Dr. Huber« vor. Da wusste Adkins, wo er war. Seine russischen Freunde hatten ihn genau denen übergeben, in deren Obhut er keinesfalls hatte geraten wollen. Und sein Misstrauen sollte sich binnen weniger Tage bestätigen, denn Radio Moskau meldete, Adkins habe Asyl in der DDR beantragt.

Er wütete und zürnte Russen und Deutschen gleichermaßen wegen dieser eklatanten Missachtung seiner Ängste: Er habe Hochverrat begangen, erklärte er, schließlich habe er Militärgeheimnisse verraten; das könne in den Vereinigten Staaten die Todesstrafe bedeuten. Er müsse weg, weiter nach Osten, verlangte er, und er hatte eine gute Begründung für diesen Wunsch: »In (Ost-)Deutschland wäre ich US-Agenten ausgesetzt, die in dieses Land eindringen. Ich lebte hier in ständiger Gefahr, entführt zu werden. Und später, wenn Deutschland wieder vereinigt ist, wäre ich wieder der Kontrolle der USA ausgesetzt.« In Deutschland sehe er sich als »Ziel von US-Agenten« und anderen unfreundlichen nationalen Gruppen. Deshalb werde er in Deutschland allenfalls als Sowjetbürger bleiben, der hierzulande angestellt sei. Noch einmal erklärte er sich bereit, »an Aufklärungs- oder Propagandaaktionen teilzunehmen«, egal in welcher Volksdemokratie. »Dazu bin ich noch immer bereit, aber nicht, wenn ich gegen meinen Willen in Deutschland festgehalten werde.«

Natürlich wusste Schenk so gut wie seine sowjetischen Berater, dass die meisten Überläufer Adkins’ Angst teilten, während oder nach einem neuerlichen Krieg in Europa gefangen und als Deserteure erschossen zu werden. Aber die Radiomeldung hatte Druck auf Adkins ausgeübt, und als die erste Wut verraucht war, versuchte er wieder, seinem Ziel – Russland – durch Wohlverhalten näher zu kommen. Noch gab es Hoffnung. Vielleicht war diese Villa am See, in der immer wieder andere Überläufer ein- und auszogen, nur eine Übergangsstation. Und tatsächlich verlegten sie Adkins am 14. Mai erneut, jedoch noch immer nicht nach Russland.9

Adkins hatte – das war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar – sein Leben nicht mehr selbst in der Hand. Über seine Zukunft entschieden längst andere. Die Sowjets – auch das konnte er nicht wissen – waren nicht bereit, Adkins einreisen zu lassen. Nachdem der Amerikaner in dem Haus am See zwei Monate seines Lebens – wie er damals fand – verschwendet hatte, bot Schenk ihm eine attraktive Alternative zur Sowjetunion an, und der junge »Freund« war vernünftig genug, sie anzunehmen. Adkins standen nun alle Türen offen, sein Schicksal schien eine glückliche Wendung zu nehmen – sehr zum Schaden einiger anderer Deserteure, Adkins’ »Kameraden«, die ihren Schritt in den Osten längst bereuten.

Der jüdische Kommunist: »Nur ein Fluchtweg war möglich: ostwärts«

Als Victor Grossman in die DDR kam, stand noch der Name Stephen Wechsler im Ausweis des 24-jährigen Juden aus New York. Nachdem die Filtration abgeschlossen war, durfte er am 6. November 1952 nach Bautzen ziehen. Er wohnte zunächst auf Kosten des Kreisrats im früheren Hotel »Krone«, das nun Hotel »Stadt Bautzen« hieß, in dem er sich ein Zimmer mit einem der drei Waliser teilte, mit denen er in die Stadt gebracht worden war, dann mit dem ein Jahr älteren Kalifornier George Smith, der eine Woche nach Grossman nach Bautzen gekommen war. Die beiden wurden Freunde. Grossman verzieh Smith sogar, dass er ihm ein »dunkelhaariges, schönes, geschmackvoll gekleidetes, etwas geheimnisvolles Mädchen, eine Erscheinung aus einer anderen Welt«, wegschnappte, Hella Barthel, eine ehemalige Tänzerin des städtischen Theaters. »Ich kam darüber hinweg«, schrieb er später in einem Buch, »immerhin war er mein bester Freund.«10

Im Dezember nahm Grossman eine Stelle als Hilfsarbeiter beim VEB Waggonbau an, zog in ein privates Zimmer ohne Waschbecken in der Martin-Hoop-Straße 22, in dem er nachts unter einer zu kurzen Bettdecke bitterlich fror, weil er zu ungeduldig war, um den Ofen anzuheizen. Dennoch stellte er keine Ansprüche und fand bald Gefallen an dieser Stadt und ihren Menschen: Seine Vermieter waren überzeugte Antifaschisten, vor denen er nichts zu verstecken hatte, wie er meinte, sie teilten ja dieselben Ideale. Er wusste es zu schätzen, dass er in einer Fabrik arbeiteten konnte, in der es Mittagessen gab und die Ausländer sogar die größten Rationen erhielten; und er genoss die ruhigen Wochenenden. Auch wenn das Leben im Vergleich zu dem in seiner Heimat spartanisch zu nennen war, so sah er doch, dass niemand hungerte. Bei vielen Spaziergängen lernte er nach und nach die Stadt kennen, die Fabriken, deren Namen meistens mit den Buchstaben VEB begannen, bald auch eine Frau, die er schließlich heiraten sollte. Er lernte: »Ohne Volkseigentum gibt es auf die Dauer nur Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Hunger. Für das ›VEB‹ haben sehr viele gekämpft, Leiden und Folter widerstanden, und trotz aller Schwierigkeiten und Fehler bilden sie die ersten Buchstaben eines Alphabets wirklicher Zivilisation.«

Grossman gehörte zu jenen, die etwas aus ihrem Leben machen wollten, die Eigeninitiative zeigten und erkannten, wo Hand angelegt werden musste, die nicht darauf warteten, dass der Staat sie anleitete und ihnen sagte, was sie zu tun hatten. Er gehörte zu jenen, die nicht immerzu wegliefen, sondern die ein Ziel hatten, sich bewusst auf etwas zu bewegten, auch auf die Gefahr hin, es nicht zu erreichen. Bald kaufte er sich eine Schreibmaschine, auf der er so viel tippte, dass »Arno«, ein Nachbar, vermutete, Grossman würde Listen aller in Bautzen untergebrachten Ausländer erstellen. Der Verdacht war unbegründet. Grossman war lediglich bemüht, seinem Leben eine Zukunft zu geben. Er wollte Journalist werden. Deshalb schickte er Proben seines Könnens an Stefan Heym und an John Peet, einen britischen Journalisten, der in die DDR übergesiedelt war und dort eine englischsprachige Zeitschrift leitete, den Democratic German Report. Grossman bot sich an: »Ich möchte gern zu Ihren künftigen Ausgaben Artikel beisteuern.«11

Während die meisten der desertierten »Freunde« recht einfache Gesellen, bedauernswerte Existenzen, Opfer ihrer selbst oder der Verhältnisse in ihren Ländern waren, gehörte Grossman zu den gut ausgebildeten, intelligenten, wirklich sozialistisch denkenden Männern, kurz: zu den Ausnahmen. Er erwies sich bald als nützliches Mitglied der sozialistischen Gesellschaft, wie Schenk in den Berichten aus Bautzen lesen konnte, und stellte sich von Anfang an »auch für andere Arbeiten, hauptsächlich propagandistischer Natur«, zur Verfügung.

Ein halbes Jahr vorher war Grossman keine andere Wahl geblieben, als ostwärts zu flüchten. Selbst weitab von zu Hause, in einer Kaserne in Fürth, hatte er sich vor McCarthys Häschern gefürchtet. Im Sommer 1952 war es tatsächlich so weit: Gerade von einem Urlaub in Skandinavien zurückgekehrt, bekam er eine Vorladung des Militärgerichtshofs (Judge Advocat General) in Nürnberg. Seine Ängste hatten sich bestätigt.

Grossman hatte sich schon in seiner Jugend zum Kommunismus bekannt, er wusste, dass er gegen die »Loyalty Order« von Präsident Harry S. Truman (Executive Order 9835) verstoßen hatte, mit der die US-Regierung Kommunisten von einflussreichen Stellen fernhalten wollte. Grossman hatte sich während des Studiums in Harvard bei der Young Communist League beziehungsweise der American Youth for Democracy eingeschrieben, deren »Campus Chairman« er war. Auch am Gründungskongress der Young Progressives of America in Philadelphia hatte er teilgenommen. Später war er Mitglied in der Labor Youth League. All diese Organisationen standen auf der Liste der kommunistischen Tarnorganisationen,12 deren Veröffentlichung durch Justizminister Tom Clark der US-Präsident 1947 abgesegnet hatte. Die Folge einer Mitgliedschaft war klar: Entlassung bei Regierungsbeamten und in zahlreichen anderen Berufsgruppen.

Die hysterische Kommunistenhatz in den USA hatte schon lange vor der Amtszeit des Senators McCarthy begonnen; die Karrieren vieler Linker endeten abrupt, (vermeintlich) echte Kommunisten und Spione wie das Ehepaar Ethel und Julius Rosenberg, dem man Atomspionage für die Sowjetunion vorwarf, wurden hingerichtet. Wohl aufgrund dieser Stimmung und Ereignisse hatte Grossman beim Eintritt in die Armee »vergessen«, seine Mitgliedschaft in verschiedenen kommunistischen Verbänden zu offenbaren.

Nun holte ihn seine Vergangenheit ein, es drohte eine erhebliche Disziplinarstrafe, wahrscheinlich Gefängnis. Für Grossman stand sofort fest: »Ich muss abhauen.« Wohin? »Es war offensichtlich, dass nur ein Fluchtweg möglich war: ostwärts.«

Mit der Bahn fuhr er Mitte August 1952 über Nürnberg und Wien nach Linz, schwamm über die Donau und begab sich in die Obhut der Sowjetischen Militärkommission. Bald brachten die Sowjets ihn in eine Potsdamer Villa, in der er zweieinhalb Monate blieb. Bevor sie ihn nach Bautzen schickten, beantragte er einen neuen Namen, »um meine Verwandten zu Haus in jenen schwierigen Jahren nicht zu gefährden«. Weil ihm kein Pseudonym einfiel, wählte sein Gegenüber eines. »Ich mochte weder Victor noch Grossman«, schrieb er später. »Ich sagte aber nichts dagegen, weil mich meine Fantasie im Stich ließ.«

Die Stasi war offenbar überzeugt davon, dass Victor Grossman sich den Sowjets zur Verfügung gestellt hatte,13 deshalb glaubte bald auch Schenks Organisation, die Qualitäten des Überläufers, den die Bautzener zunächst als »Kleinbürger« eingestuft hatten, nutzen zu können. Im April 1954 sprach Udo Kretschmer von der KD Bautzen den Amerikaner auf dem Nachhauseweg an und zitierte ihn für den 23. ins Volkspolizeikreisamt (VPKA), Zimmer 43. Durch eine Nebentür gelangte Kretschmer aus der benachbarten Stasi-Zentrale herüber, stellte sich mit seinem Alias »Lippmann« vor und richtete Grüße von »George« aus, »worauf der Kandidat sofort sagte, dass ihm nun ungefähr bekannt sei, wohin sich unser Gespräch bewegen würde«. Kretschmer bat um einen Bericht über die Situation der ausländischen »Freunde« der »Internationalen Solidarität« in Bautzen, den Grossman mündlich gab. Er hatte für die Überläufer, die ihren Weg in die DDR gefunden hatten, ein anderes Raster als Schenk, für den es »gute« Deserteure gab und »schlechte« (die Rückkehrwilligen).

Grossman teilte die Ausländer in vier Kategorien ein:

»1. Die aus politischer Überzeugung nach der DDR gekommen sind.

2. Die politisch vollkommen Uninteressierten, welche aber nicht nach Korea oder Vietnam in den Krieg ziehen wollten.

3. Die wegen krimineller Vergehen aus der Armee geflüchtet sind.

4. Die vom Gegner in die DDR mit einem Auftrag geschickt wurden.«