Vorbemerkung

»… der schönste Abend eines Kinderjahres«
Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war

Weihnachten ist die Zeit der Rituale, der unveränderlichen Familienbräuche. Auch bei Kästners in Dresden. Schon in der Adventszeit gab es den selbstgebackenen Stollen, Heiligabend nach der Bescherung Würstchen und Kartoffelsalat und am ersten Weihnachtstag kam mittags die gebratene Gans mit Rotkraut, Klößen und Selleriesalat auf den Tisch. Das musste so sein, sonst war es kein Weihnachten. So erzählt es Erich Kästner in Als ich ein kleiner Junge war, und als er 1945 das erste Mal nicht mit seinen Eltern feiern kann, denkt er sehnsuchtsvoll an frühere Feste zurück (Sechsundvierzig Heiligabende), bei denen er seiner Mutter Dinge geschenkt hat wie den topflosen Henkel oder die »sieben Sachen« – Begebenheiten, die zweifellos in den familiären Erinnerungsschatz eingegangen sind.

Dabei waren diese im Nachhinein leicht verklärten Heiligabende der Kinderzeit keine Stunden reinen Glücks gewesen. Im Gegenteil. In Ein Kind hat Kummer schildert Kästner, beklemmend, seine würgende Angst vor der Bescherung, bei der es allein von seinem diplomatischen Geschick abhing, die Rivalität zwischen den Eltern nicht offen zum Ausbruch kommen zu lassen. Wie gerne wäre der kleine Junge einfach nur selig gewesen über die vielen wunderbaren Geschenke.

Ob der kleine Erich wohl auch einmal heimlich im Geschenkversteck gestöbert hat und am Weihnachtsabend verstört war, weil er Freude und Überraschung heucheln musste – so wie der erwachsene Erich es in Von der Neugierde beschreibt?

Geschenke und die Vorfreude darauf sind für Kästner jedenfalls ein unerschöpfliches Thema: die möglichen Geschenke in den verlockend glitzernden Auslagen der weihnachtlich geschmückten Geschäftsstraßen (Ein König auf Weihnachtsbummel), imaginäre Geschenke (Modernes Märchen), unpraktische Geschenke oder solche aus Gedankenlosigkeit (Parade am Weihnachtstisch), unangenehm protzige (Eine nette Bescherung), rührend armselige (Auch das geht vorüber), ergaunerte (Feier mit Hindernissen) oder eben – gar keine Geschenke wie in Weihnachtslied, chemisch gereinigt mit der bösen, alle freudige Erwartung konterkarierenden Anfangszeile »Morgen, Kinder, wird’s nichts geben«.

In diesem Gedicht wie in anderen Texten dieser Auswahl (Modernes Märchen, Auch das geht vorüber, Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag, Eine nette Bescherung) spiegelt sich die prekäre wirtschaftliche Lage in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, die die ohnehin bestehende Kluft zwischen Arm und Reich noch vertieft hatte. Die Inflation war überstanden, die Weltwirtschaftskrise und mit ihr die Krise der Weimarer Republik sollten folgen. Aus Brief an den Weihnachtsmann, geschrieben 1930, spricht deutlich Kästners zunehmende Verzweiflung angesichts der herrschenden Verhältnisse.

Feier mit Hindernissen ist eine köstliche Groteske aus dem Berlin der Roaring Twenties, Weihnachtschor der Buchhändler mit seiner Werbung für »Bestselleriesalat« eine bei aller Zeitgebundenheit wundervoll zeitlos-freche Persiflage der ewigen Sorgen des Buchhandels.

Aber auch der menschenfreundliche Kinderbuchautor Kästner kommt in dieser Auswahl zu Wort – in Felix holt Senf, einem Weihnachtsmärchen vom verlorenen Sohn, und in der erstmals hier wieder abgedruckten Geschichte Erster Advent im Internat, deren Thema, die Trennung von Mutter und Sohn, auf Kästners eigene Internatserlebnisse zurückgeht und zugleich auf seltsam berührende Weise vorwegnimmt, was Kästner und seiner Mutter später selbst widerfuhr.

Auf Weihnachten folgen nur allzu bald Silvester und Neujahr. Und so schließt dieser Band mit dem bekannten kurzen Epigramm Zum Neuen Jahr und dem unbekannten und umso längeren Gedicht Wieder 1. Januar, in dem Kästner unser aller unausrottbare Neigung, gute Vorsätze zu fassen und sie nicht auszuführen, so freundlich wie unmissverständlich ironisiert.

München, September 2011

Sylvia List

Die regelrechte Weihnachtsgeschichte

Diesmal wird es eine regelrechte Weihnachtsgeschichte. Eigentlich wollte ich sie schon vor zwei Jahren schreiben; und dann, ganz bestimmt, im vorigen Jahr. Aber wie das so ist, es kam immer etwas dazwischen. Bis meine Mutter neulich sagte: »Wenn du sie heuer nicht schreibst, kriegst du nichts zu Weihnachten!«

Damit war alles entschieden. Ich packte schleunigst meinen Koffer, legte den Tennisschläger, den Badeanzug, den grünen Bleistift und furchtbar viel Schreibpapier hinein und fragte, als wir schwitzend und abgehetzt in der Bahnhofshalle standen: »Und wohin nun?« Denn es ist begreiflicherweise sehr schwierig, mitten im heißesten Hochsommer eine Weihnachtsgeschichte zu verfassen. Man kann sich doch nicht gut auf den Hosenboden setzen und schreiben: »Es war schneidend kalt, der Schnee fiel in Strömen, und Herrn Doktor Eisenmayer erfroren, als er aus dem Fenster sah, beide Ohrläppchen« – ich meine, dergleichen kann man doch beim besten Willen nicht im August hinschreiben, während man wie ein Schmorbraten im Familienbad liegt und auf den Hitzschlag wartet! Oder?

Frauen sind praktisch. Meine Mutter wusste Rat. Sie trat an den Fahrkartenschalter, nickte dem Beamten freundlich zu und fragte: »Entschuldigen Sie, wo liegt im August Schnee?«

»Am Nordpol«, wollte der Mann erst sagen, dann aber erkannte er meine Mutter, unterdrückte seine vorlaute Bemerkung und meinte höflich: »Auf der Zugspitze, Frau Kästner.«

Und so musste ich mir auf der Stelle ein Billett nach Oberbayern lösen. Meine Mutter sagte noch: »Komme mir ja nicht ohne die Weihnachtsgeschichte nach Hause! Wenn’s zu heiß wird, guckst du dir den Schnee auf der Zugspitze an! Verstanden?« Da fuhr der Zug los.

»Vergiss nicht, die Wäsche heimzuschicken«, rief meine Mutter hinterher.

Ich brüllte, um sie ein bisschen zu ärgern: »Und gieß die Blumen!« Dann winkten wir mit den Taschentüchern, bis wir einander entschwanden.

Und nun wohne ich seit vierzehn Tagen am Fuße der Zugspitze, an einem großen dunkelgrünen See, und wenn ich nicht gerade schwimme oder turne oder Tennis spiele oder mich von Karlinchen rudern lasse, sitz ich mitten in einer umfangreichen Wiese auf einer kleinen Holzbank, und vor mir steht ein Tisch, der in einem fort wackelt, und auf dem schreib ich nun also meine Weihnachtsgeschichte.

Rings um mich blühen die Blumen in allen Farben. Die Zittergräser verneigen sich respektvoll vor dem Winde. Die Schmetterlinge fliegen spazieren. Und einer von ihnen, ein großes Pfauenauge, besucht mich sogar manchmal. Ich hab ihn Gottfried getauft, und wir können uns gut leiden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht angeflattert kommt und sich zutraulich auf mein Schreibpapier setzt. »Wie geht’s, Gottfried?«, frage ich ihn dann, »ist das Leben noch frisch?« Er hebt und senkt, zur Antwort, leise seine Flügel und fliegt befriedigt seiner Wege.

Drüben am Rande des dunklen Tannenwaldes hat man einen großen Holzstoß gestapelt. Obendrauf kauert eine schwarz und weiß gefleckte Katze und starrt zu mir herüber. Ich habe sie stark im Verdacht, dass sie verhext ist, und wenn sie wollte, reden könnte. Sie will nur nicht. Jedes Mal, wenn ich mir eine Zigarette anzünde, macht sie einen Buckel.

Nachmittags reißt sie aus, denn dann wird es ihr zu heiß. Mir auch; ich bleib aber da. Trotzdem: So herumzuhocken, vor Hitze zu kochen und dabei zum Beispiel eine Schneeballschlacht zu beschreiben, das ist keine Kleinigkeit.

Da lehne ich mich dann weit auf meiner Holzbank zurück, schaue zur Zugspitze hinauf, in deren gewaltigen Felsklüften der kühle ewige Schnee schimmert – und schon kann ich weiterschreiben! An manchen Tagen freilich ziehen aus der Wetterecke des Sees Wolken herauf, schwimmen quer durch den Himmel auf die Zugspitze zu und türmen sich vor ihr auf, bis man nichts mehr von ihr sieht.

Da ist es natürlich mit dem Schildern von Schneeballschlachten und anderen ausgesprochen winterlichen Ereignissen vorbei. Aber das macht nichts. An solchen Tagen beschreib ich einfach Szenen, die im Zimmer spielen. Man muss sich zu helfen wissen!

Abends holt mich regelmäßig Eduard ab. Eduard ist ein bildhübsches braunes Kalb mit winzigen Hörnern. Man hört ihn schon von weitem, weil er eine Glocke umhängen hat. Erst läutet es ganz von ferne; denn das Kalb weidet oben auf einer Bergwiese. Dann dringt das Läuten immer näher und näher. Und schließlich ist Eduard zu sehen. Er tritt zwischen den hohen dunkelgrünen Tannen hervor, hat ein paar gelbe Margeriten im Maul, als hätte er sie extra für mich gepflückt, und trottet über die Wiese, bis zu meiner Bank.

»Nanu, Eduard, schon Feierabend?«, frag ich ihn. Er sieht mich groß an und nickt, und seine Kuhglocke läutet. Aber er frisst noch ein Weilchen, weil es hier herrliche Butterblumen und Anemonen gibt.

Und ich schreibe noch ein paar Zeilen. Und hoch oben in der Luft kreist ein Adler und schraubt sich in den Himmel hinauf.

Schließlich steck ich meinen grünen Bleistift weg und klopfe Eduard das warme glatte Kalbfell. Und er stupst mich mit den kleinen Hörnern, damit ich endlich aufstehe. Und dann bummeln wir gemeinsam über die schöne bunte Wiese nach Hause.

Vor dem Hotel verabschieden wir uns. Denn Eduard wohnt nicht im Hotel, sondern um die Ecke bei einem Bauern.

Neulich hab ich den Bauer gefragt. Und er hat gesagt, Eduard würde später sicher einmal ein großer Ochse werden.