Über Edgar Rai

Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller. Bisher erschienen u. a. die Romane »Vaterliebe« und »Nächsten Sommer«. Zuletzt kam der Roman »Sonnenwende« bei Rütten & Loening heraus. Edgar Rai hat drei Kinder und lebt in Berlin.

www.edgarrai.de

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Das ist kein normaler Urlaub. Das ist eine letzte Chance!

Jan Bechstein ist in der Midlife-Crisis. Als Vater einer sechzehnjährigen Tochter ist er ein Versager und als Ehemann eine Vollniete. Das liegt weder an seiner Intelligenz noch an seinem Charme, das liegt einzig und allein daran, dass er die Frau, die er bis heute liebt, vor fünfzehn Jahren hat sitzen lassen: Sergeja. Musikerin (zweites Waldhorn) und Mutter der gemeinsamen Tochter Mia. So richtig hat Jan nie begriffen, was ihn damals geritten hat, und jetzt will Sergeja wieder heiraten. Einen anderen. Und zwar in dem kleinen slowenischen Dorf, in dem damals auch sie sich das Jawort gegeben haben. Ist es zu spät? Auf nach Süden! Dorthin, wo alles begann. – Ein liebevoll chaotischer Beziehungsroman mit viel Witz, Herz und Himmelsbläue.

Nach dem Bestseller »Nächsten Sommer« Edgar Rais neue wunderbar romantische Sommerkomödie – auf nach Süden!

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Edgar Rai

Wenn nicht, dann jetzt

Roman

Inhaltsübersicht

Über Edgar Rai

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I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

II

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

III

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Impressum

I

1

Mit geschlossenen Augen wartete Jan, bis der letzte Akkord verklungen war. Was erstaunlich lange dauerte. Wann immer er glaubte, die Stimmen der Instrumente hätten sich verflüchtigt, kreisten doch jedesmal noch Reste von ihnen um die Kronleuchter. Er versuchte, Sergeja herauszuhören – Waldhorn –, doch darin war er nie besonders gut gewesen.

Stille. Wie in einem Sarg.

Dann klickte der Taktstock auf die Oberkante des Notenpults. Der Zauber war verflogen. Jan öffnete die Augen. Außer ihm und den beiden Technikern vorn im Parkett saß niemand im Zuschauerraum.

»Ladies and Gentlemen«, hörte er ein heiseres Krächzen, »I think we will have a short intermission.«

Jan hatte sich in die vorletzte Reihe gesetzt, dritter Platz von links. Das hatte den unbestreitbaren Vorteil, dass Sergeja den gesamten Mittelgang entlangschweben musste, um zu ihm zu gelangen. Ein großartiges Schauspiel. Wie damals. Dieses Schwebeding hatte sie echt drauf. Unter Tausenden hätte Jan diesen Gang erkannt. Die Bühnenbeleuchtung malte einen Strahlenkranz um ihren Kopf wie ihn Bernini nicht besser hinbekommen hätte, und ihre Bluse hing nicht an ihr, sie umgab Sergeja. An Jan schwebte schon lange nichts mehr. Falls ihn etwas umgab, dann war es Wehmut. Und die zog nach unten, ordentlich.

Sergeja setzte sich neben ihn, vielmehr faltete sie elegant ihr linkes Bein und ließ sich darauf nieder, bettete ihre Handtasche in den Schoß, stützte den Ellenbogen auf die Rücklehne und drehte Jan ihren Oberkörper zu. Bis zu diesem Moment hatte er noch geglaubt, Herr der Situation zu sein. Doch dann streifte ihn Sergejas Duft und katapultierte ihn fünf Monate in die Vergangenheit zurück. An diesem Tag, dem 14. Februar, hatte sie mit ihrem Orchester in Frankfurt gastiert. Anschließend waren Jan und sie essen gegangen. Und bei dieser Gelegenheit hatte Jan sich unsterblich in die Frau verliebt, die er fünfzehn Jahre zuvor hatte sitzenlassen.

»Ich dachte, wir hätten uns drüben im Café verabredet?«, sagte sie jetzt.

»Ich wollte dich spielen hören.«

»Seit wann magst du Mozart?«

Mozart. Hätte er sich denken können. Wann immer Jan etwas nicht kannte, aber sicher war, es schon tausendmal gehört zu haben, war es Mozart. »Mozart nervt«, sagte er. »Um auf den zu stehen, muss man zumindest in Österreich geboren sein. Und selbst das ist keine Garantie.«

Sergeja schenkte ihm ein Lächeln: »Ich mag Mozart, und ich bin in Slowenien geboren.«

»Hat ja auch lange genug zu Österreich gehört.«

»Bis 1918«, erwiderte sie.

Sie wollte recht haben. Jan hätte vor Glück am liebsten irgendetwas Blödes gemacht. Er liebte es, wenn sie rechthaberisch war. Es fühlte sich an, als wären sie seit hundert Jahren ein Paar und hätten sich noch immer etwas zu sagen. »Einmal k. u. k., immer k. u. k.«, entgegnete er.

Sie blickte ihn an und bereitete den Todestoß vor. »Und trotzdem wolltest du mich spielen hören.«

Er antwortete nicht. Sergeja wusste es sowieso, alles. Dass er hier saß war bereits eine Kapitulationserklärung.

Sie war barmherzig genug, das Thema zu wechseln: »Sind die etwa für mich?«

Der Blumenstrauß, der den Stuhl neben Jan einnahm, war so groß, dass es eigentlich keine Erklärung dafür gab, weshalb Sergeja ihn erst jetzt bemerkte.

Umständlich entfernte Jan die Folie. Das Geknister war bis auf den zweiten Rang zu hören. Auf der Bühne drehten sich ihnen Köpfe zu. »Ich dachte, du magst weiße Rosen …«

»Du weißt genau, dass weiße Rosen meine Lieblingsblumen sind.«

Sergeja warf einen schnellen Blick zur Bühne und legte eilig den Strauß auf den benachbarten Stuhl. Die Blüten ragten über die Sitzfläche und ließen ermattet die Köpfe hängen. »Du solltest mir keine Blumen schenken«, erklärte sie.

»Nicht der Rede wert«, wehrte Jan ab.

»Wirklich«, ihre Stimme spannte sich wie eine Violinsaite, »du solltest mir keine Blumen schenken.«

Jan wusste nichts zu erwidern. Schließlich sagte er: »Zu spät.«

»Und was soll ich mit denen machen während der Probe?«

Ihnen die Herzen rausreißen und darauf herumtrampeln, dachte Jan, sagte aber: »Ins Wasser stellen?«

Sergejas so kunstvoll gefaltetes Bein glitt lautlos vom Stuhl, ihr Oberkörper drehte sich zur Bühne, ihr Blick folgte. »Du hättest nicht kommen sollen.«

Natürlich hätte er nicht kommen sollen. Das wusste er so gut wie sie. Zumal Sergeja ihm diesen Satz neulich erst vorgesetzt hatte, nach dem Konzert in Frankfurt. Aber dass sie ihn dennoch aussprach, konnte nur eins bedeuten: Sie war sich ihrer Gefühle nicht sicher. Das Rennen war noch nicht gelaufen. Ihr Schweigen wog ebenso schicksalsschwer wie die Stille nach Mozarts Schlussakkord. Geistesabwesend nahm Jan die Klarsichtfolie, faltete sie auf ein Viertel ihrer Größe, zog mit dem Daumennagel die Falzlinie nach und trennte ein Rechteck ab. Dann begannen seine Finger, es zu falten.

Jan nickte in Richtung der Bühne. »Was wird denn heute Abend gespielt?«

In Wahrheit interessierte ihn das Programm nicht mehr als die Pollenflugvorhersage. Doch erstens wollte er Sergejas Schweigen brechen, und zweitens wusste er, dass sie für nichts mehr zu begeistern war als für ihre Musik.

»Mozart, Beethoven, Schumann.« Ihre Mundwinkel verzogen sich zu etwas, das er als Ermüdungszeichen deutete. »Das einzig Spannende an dem Programm ist unser Gastdirigent. Niemand weiß, ob er einen Einsatz gibt, ob er nur mit dem Taktstock wedelt, oder ob er gerade einen Herzinfarkt hat.«

Beide schmunzelten. Ein Aufatmen, ein Anflug von Leichtigkeit. Wie Mozart, wenn er sich ausnahmsweise sein Tutu auszog und wirklich mal Musik machte. Jan blickte auf seine Hände. Die untere Hälfte der Folie hatte sich in etwas verwandelt, das Ähnlichkeit mit einem gebauschten Rock hatte. Nicht uninteressant.

»Magst du kommen und es dir anhören?«, fragte Sergeja plötzlich. »Eine Karte hab ich noch.«

Ihr Blick schwang sich zu den gülden verzierten Brüstungen der oberen Ränge empor. Logen der Eitelkeit. Jan musste hier kein Konzert erlebt haben, um das zu wissen.

»Heute Abend?«, fragte er.

»Vielleicht erlebst du das Konzert, bei dem der große Rosenegger endlich seinen Herzinfarkt erleidet«, überlegte sie. »Das ist der Grund, weshalb seine Konzerte auf Monate ausgebucht sind: Jeder will dabei sein, wenn es passiert.«

»Leicht morbide, findest du nicht?«

»Ich glaube, er will es so.«

Selbstverständlich würde er kommen. Was konnte es Schöneres geben, als einem alten Mann mit Taktstock dabei zuzusehen, wie er seinen eigenen Herzinfarkt dirigierte, untermalt von Mozart, Beethoven und Schumann?

Doch da war etwas, das Jan zurückhielt. Eine Karte hab ich noch, hatte Sergeja gesagt, Betonung auf eine. »Wer hat denn die andere Karte?«

Jan musste sehr genau hinsehen, um die Veränderung in ihrem Gesicht zu bemerken. Sie vollzog sich subkutan.

Dann sagte sie es: »Einar.«

Einar: Ein Name wie ein Wespenstich in die Halsschlagader.

Sergeja bemühte sich, so zu tun, als sei alles wie fünf Sekunden zuvor. »Er hatte diese Woche beruflich in Berlin zu tun«, erklärte sie. »Da passte das natürlich ganz gut.«

»Natürlich«, wiederholte Jan.

Sie sah ihm offen ins Gesicht. »Das wäre doch eine gute Gelegenheit, dass ihr euch mal kennenlernt.«

Jan konnte es nicht glauben: Sie meinte das tatsächlich ernst. Ironie war noch nie ihre Stärke gewesen. Er suchte nach einer Antwort, doch für diese Situation war sein Wortschatz nicht gerüstet. Es konnte keine »gute« Gelegenheit geben, Einar kennenzulernen.

»Du weißt doch«, brachte er hervor, »ich stehe nicht auf Mozart.«

Sergeja legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Ein Gefühl, als würde jemand den Stecker ziehen. Innerhalb von Sekunden erstarb jede Gegenwehr. »Gib dir einen Schubs, ja?«, bat sie.

Wenn ich hier jemandem einen Schubs gebe, überlegte Jan, dann Einar. Er blickte zu den Musikern hinüber. Zweiter Rang wäre passend – der Schubs –, möglichst weit vorn, neben den Kontrabässen.

»Früher oder später werdet ihr euch sowieso über den Weg laufen«, warf Sergeja ein.

Ach ja? Ginge es nach Jan, hätten sie geschmeidig die nächste Eiszeit abwarten können, bevor Einar und er sich früher oder später über den Weg liefen. Noch immer verweigerte er eine Antwort.

Sergejas Hand verstärkte liebevoll ihren Druck: »Dann weiß Einar auch endlich, wer Mias leiblicher Vater ist.«

Jan hätte den Rosen am liebsten die Köpfe abgebissen. Hektisch friemelten seine Finger an der Folie herum. Dem gebauschten Rock von vorhin waren inzwischen Flügel gewachsen. Und offenbar war es kein Rock, sondern ein Kleid. Wenn Sergeja wenigstens nicht ständig seinen Namen aussprechen würde: Einar! Und was, bitte, sollte »leiblicher« Vater bedeuten? Dass es noch einen anderen gab? Dass fucking Einar neuerdings die Rolle des nicht-leiblichen Vaters übernahm?

Und wie kam sie auf »endlich«? Sergeja hörte sich an, als seien Einar und sie bereits seit Jahren ein Paar. Dabei konnten sie noch nicht lange zusammen sein. Jan hatte ihn gegoogelt: Dr. Einar Schmähling, Richter am Bundesgerichtshof, Mitglied des Großen Senats für Zivilsachen – was immer das bedeutete –, Honorarprofessor an der Universität Bonn, Vorsitzender der juristischen Studiengesellschaft und offenbar immer ein sympathieheischendes Lächeln im Gesicht. Jedenfalls auf den Fotos, die Jan von ihm gefunden hatte. Da blickte Doktor Einar dem Betrachter mit seinen wässrigen Schlaumeieraugen durch eine schmalrandige Brille entgegen, obenrum eine graue Igelfrisur, untenrum das väterliche Lächeln, und unter Garantie immer einen gutgemeinten Rat für jeden denkbaren Lebenspart auf Lager. Achtundfünfzig war der Typ, zwölf Jahre älter als Jan! Ein Kind aus erster Ehe hatte er auch. Und die war vor noch nicht einmal drei Monaten geschieden worden. Von »endlich« konnte also keine Rede sein.

Jan sah Sergeja an, und dann hörte er sich sagen: »Mit deinem Lächeln könnte man mühelos die Welt retten.«

»Heißt das, du kommst?«

»Schätze schon.«

»Prima!«

Wenigstens kein Bruckner, dachte Jan. Bruckner war noch schlimmer als Mozart. Am 14. Februar, bei Sergejas Gastspiel in Frankfurt, hatte Jan sich gefühlte achtzehn Stunden von musikalischen Felsblöcken steinigen lassen, nur um sie anschließend zum Essen ausführen zu können.

Sergejas Hand löste sich von seinem Arm. Sie lehnte sich zurück, zog eine Eintrittskarte aus ihrer Handtasche und legte sie auf die Armlehne. »Erster Rang, Mitte.« Sie deutete über ihre Köpfe. »Die besten Plätze.«

Von wegen, Sergeja konnte nichts mit Ironie anfangen: Da sagte sie ihm doch tatsächlich ins Gesicht, der beste Platz im großen Saal des Berliner Konzerthauses sei ausgerechnet der neben Einar.

»Danke.«

Auf der Bühne setzte Betriebsamkeit ein: Violinen wurden gestimmt, Kontrabässe formten dunkle Töne, die wie Säulen zur Decke emporwuchsen. Gleich wäre die Pause zu Ende und Jans Audienz beendet. Mit Verwunderung registrierte er, dass dem Folienkleid mit den transparenten Flügeln ein Kopf entsprungen war.

»Ich habe noch etwas für dich«, sagte Sergeja im Flüsterton. Sie badete ihn in einem Blick ihrer smaragdgrünen Augen. Dann hielt sie plötzlich einen Briefumschlag in der Hand. »Ich habe lange überlegt, ob ich dir den wirklich geben soll«, sagte sie. »Ob du es nicht falsch verstehen würdest.«

Jans erster Gedanke war eine Zahlungsaufforderung. 99 Prozent aller Briefe, die durch seine Hände gingen, waren Zahlungsaufforderungen. »Was ist das?«

Sie hielt ihm den Umschlag hin. Teures Papier. »Jan Bechstein« stand darauf, in geschwungenen Buchstaben, geschrieben mit Füller, von Sergeja. »Mach ihn auf.«

Jan betrachtete den Origami-Engel in seinem Schoß, fragil wie Glas, die Hände zum Gebet erhoben.

»Ich werde nie begreifen, wie du diese Kunstwerke faltest«, sagte Sergeja.

»Ich auch nicht«, antwortete Jan, setzte den Engel neben sich ab, nahm den Umschlag, riss ihn auf und hielt plötzlich eine Einladung in der Hand.

Eine Hochzeitseinladung. Sergeja Bechstein und Dr. Einar Schmähling gaben ihre Hochzeit bekannt. Eine Handvoll zähe, tonnenschwere Sekunden lang war Jan der festen Überzeugung, er heiße Dr. Einar Schmähling. Dann war es eingesickert.

»Glückwunsch«, sagte jemand, dessen Stimme der von Jan ähnelte.

»Ich hätte auch nicht gedacht, dass mir das noch einmal passieren würde«, überlegte Sergeja, den Blick zur Bühne gerichtet.

Von einem Moment auf den anderen hatte Jan einen galligen Geschmack auf der Zunge, der ihm die Kehle zusammenschnürte.

»Wir heiraten übrigens in Brevicka«, sagte sie.

Jan starrte sie an.

»In Slowenien«, ergänzte sie.

Ohne dass er es unterdrücken konnte, begann in seinem Kopf alles mögliche hervorzusprudeln: Jan sah das kleine Würfelhäuschen ihres Großvaters am Ende der Straße, hatte den abgestandenen Geruch der Kammer unter dem Dach in der Nase, schmeckte den Regen, der auf das kleine Fenster prasselte, fühlte das Klappsofa, das viel zu eng für sie hätte sein müssen und auf dem doch so viel mehr Platz gewesen war, als sie gebraucht hätten.

»In unserem Dorf, meinst du.«

»Ich bitte dich, Jan«, erwiderte Sergeja. »Das war nie unser Dorf.«

Und ob es das war, dachte Jan. Und es ist noch immer unser Dorf. Und wird es immer bleiben. »In unserer Kapelle?«, fragte er.

»Wie du dich vielleicht erinnerst, gibt es nur eine Kapelle im Ort. Und es ist nicht unsere

Jan erinnerte sich an die Beerdigung ihres Großvaters. Dafür war Sergeja aus Deutschland angereist, aus Heidelberg, wo sie Musik studierte. An den winzigen Friedhof neben der Kapelle, den Geruch von Waldpilzen und lehmiger Erde. Er sah Sergeja am Grab stehen, durchscheinend wie Alabaster. Eine erstarrte Melodie. Bereits in diesem Moment hatte er geahnt, dass es kein Zurück für ihn geben würde. Etwas in ihm hatte es geahnt.

»Einar fand, es wäre eine schöne … Geste«, unterbrach Sergeja seine Gedanken. »Außerdem, du weißt doch, was man bei uns sagt: Eine Frau muss da heiraten, wo sie getauft wurde, sonst bringt es Unglück.«

»Zurück auf Los«, murmelte Jan.

»Wenn du so willst …«

Verlogener Drecksack, dachte er. Einar. Aber schlau. Er gab vor, mit Sergeja noch einmal von vorn anfangen zu wollen, in Wirklichkeit wollte er natürlich Jans Platz einnehmen, den alten Baum neu anpinkeln, die Vergangenheit überschreiben. Und wenn Sergeja ehrlich zu sich selbst war, dann wusste sie das. Musste es wissen.

Jan hatte noch geraucht, damals, und nachdem der Sarg in der Erde verschwunden war, hatte sich, ohne dass er hätte sagen können, wann, seine Marlboroschachtel in einen Schmetterling verwandelt, der auf seiner Handfläche saß. Er hätte gern die passenden Worte für Sergeja gehabt. So Typen gab es ja: die in jeder Lebenslage immer genau das Richtige sagten. Kein Mensch wusste, wo die das hernahmen. Und Jan schon gar nicht. Also trat er an sie heran und gab ihr den Schmetterling, und zum Dank krönte Sergeja ihre Tränen mit einem Lächeln und setzte den Schmetterling behutsam auf dem Erdhaufen neben dem Grab ab, als könne sich die Seele ihres Großvaters auf diesen Flügeln in den Himmel schwingen.

Vorn schob sich der große Rosenegger zentimeterweise auf die Bühne zurück. Die Stimmen der Instrumente fanden zueinander.

Sergeja stand auf, beugte sich herab und gab Jan einen Kuss auf die Wange. »Ich muss …«

Wieder wurde er von ihrem Geruch gestreift. Melancholie der gravitätischsten Abart.

Sie strich ihren Rock glatt. »Sei mir nicht böse, Jan, aber ich möchte die Blumen lieber nicht nehmen. Bis nach dem Konzert sind sie ohnehin nichts mehr, außerdem sind einige meiner Kolleginnen echte Klatschbasen. Da wird sofort getuschelt.«

Jan nickte stumm. Dann nahm er den Engel, den er aus der Folie gefaltet hatte. »Willst du den hier? Bringt Glück.«

Sergeja nahm ihn. Mit ihrem Lächeln hätte sich tatsächlich die Welt retten lassen. Nicht aber Jan, der war verloren.

»Danke.« Sie war im Begriff, sich abzuwenden, als ihr noch etwas einfiel. »Du denkst an morgen?«

Jan dachte an Selbstmord.

»Mia«, erklärte sie.

Jan dachte noch immer an Selbstmord. Oder Freitod. Klang irgendwie bedeutsamer.

»Unsere Tochter wird morgen sechzehn.«

Kaum zu glauben, aber Jan bekam tatsächlich ein Lächeln zustande. »Ich denke an nichts anderes.«

Und dann saß er im Zuschauerraum, zwei Sitze neben sich einen Strauß weißer Rosen, auf der Armlehne die Eintrittskarte fürs Fegefeuer.

2

»Eines Tages wird das alles auf dich zurückfallen, mein lieber Sohn«, hatte Doreen damals gesagt.

Berichtigung: Sie hatte es prophezeit. Mit dem ihr eigenen Anspruch natürlicher Überlegenheit. Dabei hatte sie Jan den Rücken zugewandt, mit dem Zeigefinger die Gardine des Küchenfensters zur Seite geschoben und hinausgeblickt. So, wie sie es immer tat. Als ziehe unten auf der Straße die Zukunft vorbei.

»Eine wie Sergeja findet man nur einmal im Leben«, murmelte sie noch, dann fiel die Gardine wie der Vorhang nach einer Theateraufführung. Das letzte Wort war gesprochen.

Lange hatte Jan gehofft, seine Mutter eines Besseren belehren zu können, einmal am längeren Hebel zu sitzen. Schließlich aber hatte sich auch diesmal ihre Prophezeiung bewahrheitet: Es war alles auf ihn zurückgefallen. Das war ja generell das Schlimmste an Müttern: dass sie am Ende immer recht behielten. Auf der anderen Seite hatten all ihre Prophezeiungen nicht verhindern können, dass auch ihr Mann entflohen war, Reinhard, und sie mit ihren Kindern hatte sitzenlassen, Söhnen noch dazu. Ein Makel, der für immer an ihr haften würde. Selbstredend hatte Doreen auch vorhergesehen, dass auf Reinhard alles zurückfallen würde, eines Tages, dass er seine Entscheidung bitter bereuen würde. Doch dazu war es nicht gekommen. Jans Vater starb früh in den Armen einer unsittlich jungen Frau. Gehirntumor. Zu früh, um zu bereuen. Insgeheim würde Doreen ihm das niemals verzeihen.

Natürlich hatte Doreen auch für Reinhards Gehirntumor eine Erklärung parat, die mit ihrem Selbstbild in Einklang zu bringen war: »So was kommt von so was«, hatte sie nach seiner Beerdigung orakelt.

Jan verstand sofort. »Du meinst, unser Vater hat Krebs bekommen, weil er dich verlassen hat?«

Doreen wusste, sie würde sich lächerlich machen, wenn sie jetzt »natürlich« sagte, aber im Grunde ihres Herzens war das ihre Überzeugung. »Wer weiß das schon …«, erwiderte sie.

Jan war noch immer in Berlin, als ihm all das durch den Kopf ging, unterwegs irgendwo in Tiergarten, auf einem nächtlichen Spaziergang entlang der Spree. Den Tag über hatte sich die Stadt aufgeheizt, jetzt strich vom Wasser her ein kühlender Luftzug über das Ufer. Berlin befreite sich vom Schmutz des Tages. Sich den Weg zum Hotel zu merken hatte Jan längst aufgegeben. Solange er die Spree nicht aus den Augen verlor, würde ihn der Fluss zwangsläufig früher oder später an den Ausgangsort zurückführen.

Nein, das Konzert mit Rosenegger am Dirigentenpult, Sergeja auf der Bühne und Einar auf dem Nachbarsitz hatte Jan sich nicht aufgebürdet. Er blickte auf die Uhr: Inzwischen waren sie wahrscheinlich bei Schumann angelangt. Sofern dieser Rosenegger noch lebte. Bei dem Gedanken: Mozart und Einar war eindeutig Einar zu viel gewesen. Jan hatte die Rosen auf dem Stuhl liegenlassen und die Karte einer gepuderten, parfumgetränkten Dame geschenkt, die wahrscheinlich in den frühen Dreißigern mal ein Verhältnis mit dem damals noch nicht ganz so großen Rosenegger gehabt hatte und nun ganz aufgelöst im Foyer herumstand, weil sie keine Karte mehr hatte ergattern können. Die Vorstellung, dass Einar vier Stunden lang in ihrer Duftwolke würde ausharren müssen, war zugegeben ein schwacher Trost, doch es war einer.

Dennoch war Jan in Berlin geblieben, hatte sich eine Galgenfrist zugesprochen. Nach seinem Treffen mit Sergeja hatte er sich außerstande gefühlt, nach Frankfurt zurückzufahren, Stefanie gegenüberzutreten, die am Abend aus London zurückkommen würde. Stefanie. Noch etwas, das nicht so lief, wie Jan sich das vorstellte. Außerdem hatte Mia morgen Geburtstag. Ihren sechzehnten. Jan kannte seine Tochter zwar kaum, dennoch war sie seine Tochter, und er wollte sie sehen. Hoppla, wie war das? Er wollte sie sehen? Das klang neu.

Er hatte Stefanie erklärt, dass er geschäftlich nach Berlin müsse. Musste er auch. Gestern. Natürlich hätte er ihr auch sagen können, dass er vorhatte, sich mit Sergeja zu treffen. War doch nichts dabei. Schließlich waren er und Sergeja seit fünfzehn Jahren getrennt, und sie hatte einen neuen Freund, Schlaumeier Einar. Doch das hätte Fragen nach sich gezogen, und Jan mochte es nicht, wenn Dinge Fragen nach sich zogen.

Er wollte die Seite wechseln, den Rückweg antreten. Auf einer Brücke, die von steinernen Löwen bewacht wurde, blieb er stehen. Von irgendwo war ein rhythmisches Stampfen zu hören. Eine Weile betrachtete er den schwarzglänzenden Fluss, dann erschien, in Gestalt über dem Wasser schwebender Lichter und umherzuckender Leuchtflecken, ein Ausflugsdampfer. Als der sich näherte, wurde aus dem rhythmischen Stampfen Musik, und Jan erkannte eine wogende Menschenmenge auf dem Oberdeck. Schließlich tauchte der Dampfer in den Brückenbogen ein, die Musik wurde hin und her geworfen, bis sich alles zu einem infernalischen Brei vermengte, und die Menschenmenge grölte unisono den Refrain mit: It’s raining men. Hallelujah!

Jan konnte den Zeitpunkt, an dem sich die Prophezeiung seiner Mutter erfüllt hatte, relativ exakt bestimmen. Es war der Abend des 14. Februar gewesen, etwa neunzig Minuten, nachdem Bruckners Vierter Sinfonie endlich die Luft ausgegangen war. Er saß mit Sergeja im Restaurant, und sie erwähnte zum ersten Mal den Namen Einar. Es gäbe da jemanden, sagte sie, Einar.

»Wer ist Einar?«, wollte Jan wissen.

Sergeja drehte ihr Gesicht so, dass die auf dem Tisch stehende Kerze den perfekten Schatten auf ihre Wange malte. »Einar ist Einar«, bekam er zur Antwort.

Seitdem lief Jan mit einer offenen Wunde durchs Leben. Genaugenommen seit dem Morgen nach dem Konzert. Doch das ist eine andere Geschichte.

Er blickte dem Boot nach, bis es hinter der nächsten Flussbiegung verschwand. Für einen Moment war noch der Widerschein der Lichter zu sehen – Rot, Blau und Violett –, zuletzt erstarb die Musik, und das Wasser erstarrte in undurchdringlicher Dunkelheit.

Jan wollte den Weg fortsetzen, als sein Handy klingelte: »Schatzi, wo steckst du?«

Stefanie. Er hätte sie vom Flughafen abholen sollen. Shit.

»Ich hab’s vergessen«, gab er ohne Umschweife zu.

Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Niemand ließ sich gerne sagen, dass er vergessen worden war. »Hättest du nicht wenigstens sagen können, dass du einen Unfall hattest oder so?«

Hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, überlegte Jan, hätte ich das wahrscheinlich getan. »Kannst du nicht noch mal anrufen?«, schlug er vor. »Dann lass ich mir was einfallen.«

»Das ist nicht witzig, Jan.«

»Nein, ist es nicht.«

»Ist was passiert?«

»Wieso?«

»Du klingst so komisch.«

Und ob etwas passiert war. Er hatte Sergeja getroffen. Und morgen hatte Mia Geburtstag, ihre gemeinsame Tochter. Von der Stefanie noch gar nichts wusste, obwohl sie und Jan jetzt seit acht Monaten … zusammen waren, irgendwie. Die Wahrheit war ein hartes Geschäft.

»Ich bin noch in Berlin«, gestand Jan, und bevor Stefanie nachfragen konnte, erklärte er: »War ein ziemliches Durcheinander – heute. Bin irgendwie ganz schön geschafft.«

Es folgten zähe Sekunden, in denen keiner etwas zu sagen wusste. »Wann kommst du denn?«

»Morgen«, antwortete Jan, »morgen Abend. Ich dachte, ich seh mir noch ein bisschen was an, wo ich schon mal hier bin.«

Die Sekunden stapelten sich. Offenbar erwartete Stefanie etwas von ihm. Doch was? Mit jeder verstreichenden Sekunde spürte Jan es deutlicher.

»Bei mir lief es übrigens auch nicht gut«, sagte sie schließlich.

Doppel-Shit. Ihr Casting. Der Grund, weshalb sie in London gewesen war. Und er hatte vergessen, danach zu fragen.

Sie hatte den Auftrag bekommen, das neue Gesicht zu finden für – was war es noch? Lezard? Chloe? Jedenfalls irgendetwas, das man schon mal gehört hatte. Der dickste Fisch seit Bestehen ihrer Agentur. Und Jan hatte es vergessen.

»Das ist ja dumm«, sagte Jan, was so ziemlich das Dümmste war, was einem in dieser Situation einfallen konnte. Immerhin kam er diesmal von selbst darauf, was er als Nächstes sagen sollte: »Was ist denn passiert?«

»Nichts. Wir haben in zwei Tagen 120 Leute durchgeschleust, aber das richtige Gesicht war einfach nicht dabei.«

»Und jetzt?«

»Weiß ich auch noch nicht.« Mit jedem neuen Wort schien Stefanie vor Müdigkeit tiefer in ihr Sofa zu sinken. Jan konnte es praktisch vor sich sehen. »Lass uns morgen reden, ja, Schatzi? Ich hatte ein anstrengendes Wochenende, mein Freund hat vergessen, mich vom Flughafen abzuholen, und dieses Telefonat trägt auch nicht dazu …«

»Okay«, entgegnete Jan.

Sie war ihm in den Schoß gefallen, letztes Jahr im Oktober. Es hatte in Strömen geregnet, und der Wind hatte die Blätter scharenweise den Bürgersteig entlanggetrieben. Einer von diesen Tagen, an denen man stundenlang einfach nur aus dem Fenster starren und an nichts denken mochte. Doch dann hatte ein weißer Mini mit schwarzem Verdeck in der zweiten Reihe vor Jans Showroom gehalten, eine eins achtzig große Blondine mit einem Kaschmircardigan von unbestimmter Farbe war ausgestiegen, hatte sich unter dem Regen wegzuducken versucht und war lachend auf den Laden zugelaufen.

Sie habe eine kleine Agentur und benötige ein Leihklavier für ein Fotoshooting, erklärte Stefanie. Eines, das edel aussehe, aber nicht zu viele Kosten verursache, falls etwas Unvorhergesehenes passiere. Geld könne sie Jan keins anbieten, dafür werde sein Klavier später werbewirksam auf dem Plakat zu sehen sein. Sie schüttelte sich den Regen aus den Haaren. Ob er sich so etwas vorstellen könne?

Jan ließ seine Hand über die Kante des nächstgelegenen Klavierdeckels fahren und tat, als müsse er überlegen: »Suchen Sie sich eins aus.«

Als sie es zurückbrachten, schien die Sonne. Es war Freitagabend, fünf Minuten vor Ladenschluss. Ein Kleintransporter hielt vor dem Schaufenster, dahinter der weiße Mini. Aus dem Transporter kletterten der Fahrer sowie ein Kabelträger, der Hulk Hogan hätte doubeln können. Dem Mini entstieg Stefanie. Offenbar hielt sie es für angezeigt, den Rücktransport persönlich zu überwachen. Kurz darauf war das Klavier wieder an Ort und Stelle, und der Lkw samt Fahrer und Hulk Hogan dieselte von dannen. Nur Stefanie stand noch im Laden.

Diesmal war sie es, die ihre Finger über den Klavierdeckel gleiten ließ. »Ich hab Hunger«, stellte sie fest. »Gehen wir was essen? Ich lade Sie ein – als kleines Dankeschön.«

Jan war ehrlich überrascht. Es war nicht so, dass er sich selbst komplett unattraktiv gefunden hätte. Ging schon alles. Er wusste, unauffällig seine Stärken zu betonen (sein Lächeln und in guten Momenten auch seinen Witz und seine Schlagfertigkeit) und seine Schwächen zu überdecken (alles andere). Aber eine wie Stefanie? Da wäre er so erst einmal nicht draufgekommen. Sonntagmorgen, zwei Tage später, frühstückten sie gemeinsam in ihrem Bett, und das war’s dann. So schnell kann’s gehen.

Natürlich gab es Konflikte. Zunehmend. Schließlich war Stefanie eine Frau. Ganz ohne Konflikte waren die bekanntlich nicht zu haben. Gelegentlich war sie bossy. Das konnte ganz plötzlich über sie hereinbrechen – wie die Katze von Jans Bruder Uwe, die sich heimlich von hinten an einen heranschlich, um einen genau in dem Moment anzuspringen, da man es am wenigsten erwartete. »Ich will, dass du in meiner Wohnung bist, wenn ich heute nach Hause komme«, hieß es dann. Einfach so. Nicht: »Ich möchte dich sehen«, oder: »Können wir uns heute Abend treffen?«, oder: »Komm, sei brav, Schatzi.« Nein, es hieß: »Warte auf mich. Im Körbchen.« Doch solche Dinge passierten eher selten, und hinterher entschuldigte sich Stefanie stets angemessen für ihre »Ausrutscher«, wie sie sie nannte. Eine andere Sache war dieses Schatzi-Gedöns. Hätte Jan auch nicht haben müssen. Doch sobald sich gewisse Dinge erst einmal eingeschliffen hatten, waren sie schwer wieder auszuwetzen. Da war Langmut gefragt. Wusste jeder, der mal so etwas wie eine Beziehung gehabt hatte.

Mehr Sorgen bereitete Jan ein anderes Problem. Eines, das sich in den vergangenen Wochen und Monaten immer unwilliger verschleierte und inzwischen gänzlich unbekleidet in Stefanies Wohnung umherlief. Und das nicht, um sich hin und wieder kurz zu zeigen, sondern um Stefanie wie eine selbsternannte Freundin auf Schritt und Tritt zu begleiten. Es stalkte sie gewissermaßen. Das Problem war: Stefanie würde diesen Herbst siebenunddreißig werden. Hatte Jan so erst einmal kein Problem mit. Stefanie jedoch hörte, wie sie nicht müde wurde zu versichern, ihre biologische Uhr ticken. Wann immer sie darüber sprach, bekam ihre Stimme einen Unterton, als trage sie eine riesige Standuhr mit sich herum, die sie jede Woche um ein ganzes Jahr altern ließ. Jan dagegen hörte nix. Kein Wunder also, dass er Stefanie seine eigene Tochter bislang verschwiegen hatte.

Er war so in Gedanken, dass er an der Straße, in der sich das Hotel mit dem originellen Namen »Sonnenschein« versteckt hielt, beinahe vorbeigelaufen wäre. Viermal musste er klingeln, ehe der Nachtportier den Türsummer drückte. Als Jan auf dem ausgetretenen Treppenläufer mit müden Knien die Stufen in den dritten Stock hinaufstieg, schlug ihm der muffige Geruch von alten Möbeln und Mottenkugeln in schlecht gelüfteten Räumen entgegen. Immerhin: Das Zimmer war sauber, und aus dem Duschkopf kam Wasser.

Als er endlich im Bett lag und einen letzten Blick auf sein Handy warf, stellte er zwei Dinge fest: Es war halb drei Uhr morgens, und er hatte eine SMS bekommen. Von Stefanie. Bis morgen, Schatzi. Täuschte er sich, oder klang da eine Drohnung durch? Es war spät, er war mit Müdigkeit ausgegossen bis in die Fingerspitzen, und lesen würde Stefanie die Antwort ohnehin nicht mehr. Doch wenn er ihre SMS jetzt nicht beantwortete, würde sich über Nacht dunkles Gewölk über ihm zusammenbrauen. Also schrieb er: Ich freu mich. Eine glatte Lüge. Seit er am Nachmittag Sergeja getroffen hatte, klaffte seine Wunde stärker denn je. Sobald er seine Augen schloss, sah er sie zwischen den Sitzreihen des Konzerthauses auf ihn zukommen, sog ihr Lächeln ein, roch ihren Duft.

Die Kühlung der Minibar sprang an und brummte wie eine Schiffsturbine. Warum nicht, dachte Jan, der zu aufgewühlt war, um zu schlafen. Und dann geschah etwas Unverhofftes: Einen Gin, zwei Schnäpse und eine schlechte Flasche Weißwein später hatte das Brummen der Minibar einen schmeichelnden Klang angenommen, der Fernseher im Nachbarzimmer führte freundliche Selbstgespräche, das Licht der Straßenlaterne verströmte die Heimeligkeit eines Kaminfeuers, die Matratze duftete nach einer glücklichen Kindheit, und Jan war von neuer Zuversicht durchströmt.

Sein Freund Matthias hatte ihm einmal erklärt, man müsse seinen Erfolg visualisieren. Nur wer seinen Erfolg visualisiere, könne ihn auch erreichen. Also, wenn es daran lag, überlegte Jan, dann konnte der Wiedervereinigung von Sergeja und ihm nicht mehr viel im Weg stehen. Auf dem Rücken liegend, den Blick zur Decke gerichtet, visualisierte er, was das Zeug hielt: Er sah Sergeja auf der Beerdigung ihres Großvaters, wie der Wind mit ihren Haaren spielte, während der Sarg in der Erde versank. Er sah sich selbst, auf dem Traktor ihres Cousins, schaukelnd wie auf einem Kamel, im Schoß Sergejas Apfelkuchen. Und er visualisierte sich und Sergeja gemeinsam, vereint in der Dachkammer ihres Großvaters, wo alles begann.

Bevor er endgültig einschlief – im Hof zwitscherte bereits der erste Vogel –, erlebte Jan einen Moment seltener Klarheit. Einen, wie ihn nur Betrunkene erlebten: Wenn völlig unerwartet eine Erkenntnis aus einem scheinbar unentwirrbaren Dickicht von Gefühlen und Hormonen trat und flüchtig, aber scharf umrissen Gestalt annahm.

Die große Frage lautete: War es zu spät?

Die Antwort: Ja. Definitiv.

Es sei denn, Jan gelang der große Coup. War sein Leben »bigger than life«?

Bei Odysseus hatte es auch funktioniert. Hatte Jan als Kind im Fernsehen gesehen und anschließend monatelang von geträumt: Kirk Douglas, mit diesem Kinn, das selbst wie eine Axt aussah, wie er seinen Bogen spannte und mit dem ersten Schuss seinen Pfeil durch sämtliche Ösen jagte. Zwanzig Jahre war der zuvor unterwegs gewesen, hatte Kriege geführt, Schlachten geschlagen, Frauen unglücklich gemacht und Göttinnen beglückt. Und am Ende war er auf sein verschwiemeltes Eiland zurückgekehrt, und Penelope hatte nie einen anderen gewollt und sich nur einem der Freier versprochen, um dem ewigen Werben endlich ein Ende zu bereiten. Die Frage lautete also: Hatte Jan das Zeug zum Odysseus?

Als in dieser Nacht endlich sein Schiff ins Reich der Träume ablegte, hatte Jan tatsächlich ein Lächeln auf den Lippen.

3

Schulen waren Tempel der Trauer und Melancholie. Für die Noch-Schüler waren es Orte voller Liebesleid, Intrigen und quälend ermüdender Lateinstunden bei Neonlicht, für die Nicht-mehr-Schüler waren es die Schreine ihrer Jugend, angefüllt mit dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit. Mias Schule machte da keine Ausnahme. Im Gegenteil: Der kathedralenartig aufragende Klinkerbau mit den schmalen Fensterschlitzen wirkte selbst in der schönsten Junisonne feindselig, abweisend und geheimniskrämerisch.

Jan wartete vor dem Schultor, einer zwei Meter fünfzig hohen Eisenkonstruktion mit Dornen auf der Oberkante. Er fragte sich, wie sehr sich Mia wohl verändert hätte und ob aus dem launigen Pubertätsknäuel vom letzten Jahr ein vollständiger Mensch hervorgegangen war. Oder ob sie noch immer wie eine Barbie mit entschärftem Sprengstoffgürtel umherlief, der bei der falschen Bewegung detonieren konnte.

So lange hatte er seine Tochter nicht gesehen. Seit bald einem Jahr. Das war der Deal: Einmal im Jahr fuhr Jan zwei Wochen mit Mia in den Urlaub. Eine Vereinbarung, der sich Sergeja und er einigermaßen hilflos ausgeliefert hatten, ein Placebo, ein Dokument seiner Unfähigkeit. Doch ab sofort würde sich das ändern. Künftig würde er mehr Anteil am Leben seiner Tochter nehmen. Um etwas Neues zu beginnen, war es schließlich nie zu spät. Außerdem wollte er Sergeja zurück. Hatte er beschlossen, letzte Nacht in der kurzen Pause zwischen Wodka und Weißwein. Und wenn Jan eins über Frauen wusste, dann, dass der Weg zur Mutter über das Kind führte. In diesem Fall auch noch über sein eigenes. Da ging was, musste etwas gehen. Als Erstes galt es also, die Symphatien seiner Tochter zu gewinnen, anschließend die Hochzeit von Sergeja und Einar zu verhindern. Klang zwanghaft, schon klar, änderte aber nichts. Eine wie Sergeja, hatte Doreen gesagt, traf man nur einmal im Leben. Und sie hatte recht gehabt. Natürlich. Mütter.

Er spürte Nervosität in sich aufsteigen. Wie würde Mia reagieren, wenn Jan plötzlich unangemeldet am Schultor stand? Eine Zigarette wäre jetzt gut gewesen. Aber Jan hatte aufgehört, vor acht Monaten, Stefanie zuliebe. Und doch gab es noch immer Momente, in denen er sich das Gefühl einer Zigarette zurückwünschte. Manche Leerstellen verschwanden einfach nie.

Er zog die lieblos in Goldpapier eingepackte Schachtel aus seiner Umhängetasche und ließ sie von einer Hand in die andere wandern. Hatte ihn den gesamten Vormittag gekostet, das richtige Geschenk zu finden. Na ja, den halben. Die erste Hälfte hatte er als Tribut an den Wodka und den Wein von letzter Nacht entrichten müssen. Auf jeden Fall hatte er es sich nicht einfach gemacht. Was wünschte sich eine Sechzehnjährige zum Geburtstag? Lange war Jan auf der Suche nach Inspiration durch Mitte geirrt, bevor er diesen winzigen Juwelier in einem Hinterhof entdeckt hatte, den »Goldschmied«, eine zwanzig Quadratmeter große »Schmuckmanufaktur«, wie man ihn aufklärte. Die Frau hinter der Theke ignorierte ihn nach Kräften – streng nach dem Alt-Berliner Motto: jeder Kunde ein Feind, jeder Kaufwunsch eine Kriegserklärung –, am Ende aber nahm Jan ihre Kriegserklärung an, indem er sich vor ihr aufbaute und sagte: »Können Sie mir vielleicht helfen?«

Sie blickte von ihren Fingernägeln auf und fragte: »Was wollen Sie denn?«

Da beschloss Jan, dass sie die Höchststrafe verdient hatte und er den Laden nicht verlassen würde, ohne etwas gekauft zu haben. Er ließ sich alles zeigen. Wörtlich: alles. Und als er damit fertig war, noch einmal die Schubladen vom Anfang. Und dann wählte er diesen wirklich anmutigen, grazilen, schlichten und dabei sehr edlen Armreif aus, zahlte extra mit Visa, lehnte sich über die Theke und starrte der Verkäuferin auf die Hände, während sie die Schachtel einpackte.

Als die Pforten sich öffneten und die Schüler grüppchenweise auf den Hof purzelten, erkannte Jan seine Tochter trotz der Distanz und der Eisenstangen, die sein Sichtfeld in Streifen schnitten, auf den ersten Blick. Ist doch keine Kunst, hätte man meinen sollen, doch Mia hatte sich so sehr verändert, dass Jan sich fragte, wie er sie überhaupt hatte erkennen können.

Letztes Jahr noch hatte sie kurze Glitzerröcke bevorzugt, die ihre langen, weißen Beine zur Geltung brachten, hatte lange blonde Haare gehabt und am liebsten enge T-Shirts getragen, in denen sie wie ein Kaubonbon ausgesehen hatte. Jetzt waren ihre Haare dunkel gefärbt, kurz wie ein englischer Rasen, und sie trug schwarze, zerlöcherte Jeans, schwarze, abgetragene Boots und ein schwarzes, zerlöchertes Männerhemd. Innerhalb eines Jahres war aus dem maximalpubertierenden Barbiepüppchen ein vollständiger Grufti geworden.

Gewachsen war sie außerdem, überragte ihre Freundinnen um einen halben Kopf. Bald wäre sie so groß wie Jan. Nur der Gang erinnerte noch an die Mia des Vorjahres. Und daran erkannte er sie. Es war derselbe schwebende Gang wie der ihrer Mutter. Da hätten nicht einmal Springerstiefel etwas dran ändern können.

Trotz ihres düsteren Outfits lachte Mia, unbeschwert, als könnten ihr weder dieses Gebäude noch der Lateinlehrer noch der Guantánamo-Sicherheitszaun irgendetwas anhaben.

Während er seine Tochter beobachtete, rutschte Jan Stück für Stück das Herz in die Hose. Am liebsten hätte er einen Wagen mit laufendem Motor dabeigehabt. Ein Mann von sechsundvierzig Jahren, und der erste Impuls beim Anblick der eigenen Tochter war Flucht. Wo auch immer ihn der eingeschlagene Weg hinführen würde: Es würde ein langer Weg sein, steil und steinig. Doch das war der von Odysseus auch gewesen.

Mias Gruppe, ein halbes Dutzend junger Frauen, überquerte den Schulhof und steuerte auf Jan zu, ließ sich aber auf halber Strecke auf einigen grob behauenen Basaltwürfeln nieder, die entweder beim Abladen übereinandergefallen waren oder aber ein Kunstwerk darstellen sollten. Oder beides. Auf jeden Fall war es der