MARK BENECKE

MORDSPUREN

Neue spektakuläre Kriminalfälle – erzählt vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt

BASTEI ENTERTAINMENT

In Erinnerung an François Gayot de Pitaval (1673–1743),
Georg Wilhelm Heinrich Häring (»Willibald Alexis«, 1798–1871)
und Julius Eduard Hitzig (1780–1849)

»Warum nur, warum muss alles so sein? Warum nur? Warum?«

Udo Jürgens

INHALT

  1. Vorwort
  2. Dank
  3. 1. Vampirverbrechen, Kannibalen und eine Vergewaltigung
  4. 2. Eine lange Suche nach der Wahrheit
  5. 3. Serienmord: Jürgen Bartsch vs. Luis Alfredo Garavito
  6. 4. Die ewige Suche nach dem perfekten Verbrechen
  7. 5. Betrüger, Nerds und eine Goldprinzessin
  8. 6. Testen Sie Ihren Verstand
  9. 7. Nachklang: Was ich von CSI halte
  10. Anhang
  11. Literaturhinweise und Quellen
  12. Über den Autor
  13. Einige neuere Veröffentlichungen des Autors
  14. Register

VORWORT

Sie halten den dritten Teil meiner kleinen kriminalistischen Reihe in der Hand. In Mordmethoden geht es um spannende und vertrackte Ermittlungen, Dem Täter auf der Spur berichtet von Blut, Sperma und Insekten auf Leichen. Nun mache ich den letzten Schritt und verwische die Grenzen zwischen Gut und Böse ein wenig.

Denn was bedeutet es, wenn ein Millionen Jahre alter Stein, der als Türstopper diente, einen Mann ins Gefängnis bringt – der Verurteilte aber bis heute eisenhart seine Unschuld beteuert? Ist es möglich, dass ein verzweifelter Programmierer ausgerechnet in einem Wald, der mit turtelnden Pärchen gefüllt ist, einen Selbstmord begeht? Darf ein pädophiler Sadist, der über dreihundert Jungen totgefoltert hat, freigelassen werden und ein Leben als vorbildlicher Christ führen? Und soll man seinem toten Verwandten wirklich den Kopf abschneiden?

Diese neuen Fälle sind also eher für jene Hartgesottenen, die sich an den Rand des Randes trauen – dorthin, wo unser Gefühl rebelliert und die Weisheit ins Schleudern kommt. Es geht deswegen nicht nur um Morde, sondern auch um eine Vergewaltigung mit Langzeitwirkung und den bizarren Betrug der »Goldprinzessin«.

Dort, wo Originaltexte die Herangehensweise der Beteiligten beziehungsweise die Denkweise der Täter besser widerspiegeln als meine eigenen Worte, habe ich teils längere Zitate eingefügt. Eine typisch polizeiliche Sicht nimmt dabei beispielsweise der Ermittler des Inka-Pfades ein, während der angebliche Fahrradunfall (der ein Mord ist) eher mit rechtsmedizinischem Blick gelöst wird. Wieder anders, nämlich ohne Sachbeweise, dafür aber mit Leib und Seele, kämpft der Strafverteidiger im Gartenhäuschen-Fall für seinen Mandanten.

Welches Urteil in den folgenden Fällen gerecht ist, überlasse ich dabei Ihrer Entscheidung. Nicht nur bei den Vampiren und Kannibalen bin ich auf Ihre Meinung gespannt…

Und falls es Sie einmal gruseln sollte, beruhigen Sie sich einfach mit der alten Kriminalistenregel, die auch als Hesse-Zitat in diesem Buch auftaucht: »Wer das Helle verstehen will, sollte das Dunkle kennen.«

Viel Spaß beim Lesen und Tüfteln!

Köln, Medellín und Marrakesch, im Frühjahr 2007

Mark Benecke

DANK

Paul Moor, Armin Mätzler und Rolf Bossi haben sich Zeit genommen, über Jürgen Bartsch zu sprechen, den sie gut kannten. Der Herausgeber der Magischen Welt, Wittus Witt, suchte einige der Illusionstricks Bartschs heraus. Es gibt außer ihm wohl niemanden, der die betreffenden Trickbezeichnungen so schnell entschlüsseln kann. Dres. Laumen (Amtsgericht Köln) und Stahlschmidt (Staatsarchiv Nordrhein-Westfalen) sowie die Mitarbeiter des KK 11 Polizeipräsidium (PP) Köln und Saskia Reibe haben mir dabei geholfen, die Originalakten im Fall Bartsch in Ruhe durchzuarbeiten.

Luis Alfredo Garavito und seine Schwester, das Cuerpo Técnico aus Armenia und Pastor Didier Amariles sprechen mit mir in Kolumbien seit vielen Jahren über eine der schwersten Serientaten des 20. Jahrhunderts. Miguel Rodriguez, Anna Zabeck, Kristina Baumjohann, Claudia Zapata, Amira Sierra, Melissa Kitszanaweh Castro Muñoz und Markus Streckenbach halfen bei der Aufarbeitung der Dokumente und Aufzeichnungen in diesem Fall. Stefan Pollak druckte unseren dazugehörenden Fallbericht als Erster im Archiv für Kriminologie, einer der ältesten noch erscheinenden Zeitschriften Deutschlands, ab.

Susanne Opalka und Olaf Jahn haben die sehr aufwendigen Recherchen in der Sache Petroll/AUBIS mit endloser Geduld betrieben und mir freundlicherweise erlaubt, auf ihre Ermittlungen in diesem Fall zuzugreifen.

Kriminaloberrat Wilfling (Polizei München) hat einen dem Fall Petroll genau entgegengesetzt verlaufenden Fall beigesteuert, wofür ich ihm sehr herzlich danke.

Merci auch an Dirk-Boris Rödel, der mich auf die Geschichte Rashomon hingewiesen hat. Diese Erzählung und der danach gedrehte Film waren die entscheidende Inspiration, als ich überlegte, welchen Dreh ich dem hier vorliegenden Buch geben sollte.

Ohne die eindrucksvollen Texte von Gabriele Goettle wäre es mir schwerer gefallen, den Bericht über die Vergewaltigung ohne triefende Schwere aufzuzeichnen. Frater Mordor danke ich für den Hinweis auf den indianischen Wendigo. Michael Hutter hat wie schon beim letzten Mal ein hervorragendes Frontispiz gezeichnet und mir einen Hinweis ebenfalls zum Wendigo – allerdings bei Lovecraft – gegeben. Jörg Fuß errechnete netterweise die Vollmondphase im Fall der Brisbaner Vampirkillerinnen. Hans-Jürgen Barthelmeh war wie immer der Schutzengel des studentischen Nachwuchses und machte sich neben seelischem Beistand auch durch spendierte Essen, Tatortausrüstungen und vieles mehr verdient.

Meine Klienten bewundere ich dafür, dass sie manchmal mit viel Mut ihr bisheriges Weltbild infrage gestellt haben, wenn sich Tatsachen auftaten, von denen sie lieber nie erfahren hätten. Die Wahrheit ist leider eine eiskalte Geliebte, und ich danke ihnen, dass sie mich trotz dieser Erkenntnis gebeten haben, ihre Fälle hier darzustellen. Aus Platzgründen konnte ich das leider nicht tun, verspreche aber, es in einer eigenen Veröffentlichung nachzuholen.

Bei Recherchen in den Subkulturen habe ich beobachtet, dass die Menschen dort ein schärferes Auge haben als diejenigen, die glauben, über Nerds, Punks, Nebelgeister, Streicher und X-Men urteilen zu können. Danke für euer Vertrauen und die Einsicht, dass ihr nicht nur Schwächen, sondern ebenso viele Stärken habt, die andere nicht haben.

Zuletzt ein Gruß an das Team des deutschen EBM Radio, das mir die Schreibklausuren erheblich versüßte, wenn nicht überhaupt erst ermöglichte.

1. VAMPIRVERBRECHEN, KANNIBALEN UND EINE VERGEWALTIGUNG

»Didn’t you know? Truth is always more terrible than fiction.«

Mirror Queen (aus dem Film Brothers Grimm)

Was schmeckt genauso gut wie Menschenfleisch? Roher Thunfisch. Das wäre ein schöner Witz aus der Selbsthilfegruppe für moderne Kannibalen – wenn die Wirklichkeit ihn nicht schon längst eingeholt hätte. Aus den Notizen von Issei Sagawa, Juni 1981:

»Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ich habe sie zu mir nach Hause eingeladen, zu einem japanischen Abendessen. Sie nimmt an. Nach dem Essen bitte ich sie, mein Lieblingsgedicht aus dem deutschen Expressionismus vorzulesen. Als sie geht, kann ich sie noch immer riechen – dort, wo sie es auf dem Bett gelesen hat. Ich lecke die Stäbchen und Teller, die sie benutzt hat, ab. Mein Verlangen ist so groß, ich will die Frau essen. So wird sie für immer ein Teil von mir sein.«

Als die schöne Frau bei Issei erneut ein Gedicht vorliest, erschießt er sie. Das Blut sickert ununterbrochen aus ihrem Kopf. Während er seine Freundin zerschneidet, wundert sich der Menschenesser über das erstaunlich körnige Aussehen der Unterhaut-Fettschicht (»sieht aus wie Grieß«), gräbt aber schließlich doch noch vernünftiges Muskelfleisch darunter hervor:

»Es hat keinen Geruch und keinen Geschmack und zerfließt in meinem Mund wie ein perfektes Stück Thunfisch. Ich schaue ihr in die Augen und sage: ›Du bist lecker!‹«

Danach fotografiert er die Leiche mit der weißen Haut, schläft mit ihr und verspeist ein Stück ihrer Lende – dieses Mal nicht roh, sondern gebraten und mit etwas Senf und Salz verfeinert. Als Serviette benutzt er den Slip seines Opfers. Etwas Kultur muss sein.

Auf den Geschmack gekommen, widmet sich der Kannibale nun den Brüsten des Opfers. Sie sind ihm aber zu fettig, weshalb er als Nächstes Teile der Oberschenkel verspeist. Am nächsten Tag will er die Leiche vollends zerstückeln, in Koffer verpacken und in einem See versenken. Doch er wird abgelenkt:

»Als ich gerade in die Wade schneide, will ich sie auch kosten. Unter dem Fett ist sie ganz zart. Später schaue ich in den Spiegel und stelle fest, dass mein Gesicht mit Fett verschmiert ist.«

Abb. 1: Der Kannibale Issei Sagawa im Jahr 1992. Er tötete in Paris seine Freundin, als sie Gedichte vorlas, und aß das Fleisch teils roh. Nach nur kurzer Inhaftierung in Frankreich wurde er an Japan ausgeliefert und kam dort aufgrund des Einflusses seines Vaters schnell wieder frei. Er schrieb unter anderem Artikel für ein Feinschmecker-Magazin. (Foto: Hashimoto Noboru/Corbis Sygma)

Da mittlerweile die Leichenstarre voll ausgeprägt ist, gibt es allerdings Probleme: »Den Kiefer kann ich nicht öffnen, aber meine Finger passen zwischen ihre Zähne. Ich schneide ihre Zunge ab und stecke sie mir in den Mund. Sie ist zäh: Ich sehe im Spiegel, wie ihre Zunge mit meiner verwunden ist. Ich versuche, meinen Mund zu schließen, dabei rutscht ihre Zunge heraus. Also ziehe ich die Haut ab und esse das Fleisch.«

So geht es Körperteil für Körperteil weiter, bis nach vierundzwanzig Stunden die Schmeißfliegen lästig werden. »Nun begreife ich, dass ich meine Freundin verloren habe – so wie ein Kind ein Spielzeug kaputt gemacht hat. Die Fliegen machen es mir deutlich.«

Ein paar Fleischstücke bewahrt Issei im Kühlschrank auf, um sie in den kommenden Tagen, erneut mit der bewährten Senf-Salz-Marinade, zu braten. Zufrieden notiert er: »Das Fleisch wird von Tag zu Tag weicher, süßer und schmackhafter.« Metzger und Steakhäuser nennen diesen Effekt »abhängen«, Kriminalbiologen kennen ihn als Fäulnis: Das Gewebe zersetzt sich bei der Lagerung und wird dabei tatsächlich weicher und »zarter«.

Der steinreiche Vater paukt Issei schon nach fünfzehn Monaten aus der Psychiatrie frei. Seither schrieb Sohnemann sechs Bücher und arbeitete gelegentlich als Kritiker für ein Feinschmecker-Magazin. Reue holt den Human-Gourmet bis heute nicht ein, immerhin aber die Einsicht, dass damals etwas schiefgelaufen ist:

»Es tut mir furchtbar leid, sie getötet zu haben. Darum habe ich mein kannibalisches Verbrechen nicht wiederholt. Ich trinke heute lieber den Urin meiner Partner, anstatt ihr Fleisch zu essen. Wenn man ein schönes weißes Mädchen kochen könnte, ohne es zu töten, würde ich allerdings gerne dabei sein.«

Die Zeiten haben sich geändert, und mittlerweile gehören Kannibalen, wenngleich nach wie vor eine seltene Spezies, zum kriminalistisch Erwartbaren. Armin Meiwes ist der im Moment in Deutschland bekannteste von ihnen, doch es gibt in Wirklichkeit eine lange Tradition von Menschen, die andere Menschen essen.

Der verkauzte Karl Denke aus Münsterberg (heute: Ziębice, Polen) ist so ein Beispiel. Seine Familie erinnerte sich nur daran, dass er maulfaul und ein schlechter Schüler war (vgl. mein Buch Mordmethoden, S. 302–324). Bei der letzten Familienfeier, die der bärtige Mann besucht hatte, verspeiste er wortlos einen Riesenteller mit Fleisch und ließ die verdutzte Runde dann allein. Ansonsten war Denke beliebt, weil er herumstromernden Menschen eine Herberge bot. Als eines Tages einer von ihnen nach Münsterberg rannte und behauptete, Vater Denke habe ihm eine Hacke über den Schädel ziehen wollen, glaubte ihm daher kein Mensch. Erst ein Blick in Denkes Küche bestätigte die Aussage: in Sahne gekochte Gesäßmuskeln, Zähne in einer Geldtasche, Schnürsenkel aus Menschenhaut. Bei seiner Verhaftung trug Denke Hosenträger aus Leder, in denen man die mumifizierten Brustwarzen der Opfer noch erkennen konnte. Die damaligen Kollegen schlugen daraufhin in den ordentlich geführten Schlachtlisten Denkes nach: »Fünfundzwanzig Zentner und neunundsiebzig Pfund Menschenfleisch« hatte der schweigsame Kannibale erschlachtet.

Anders als Issei hat Denke nie geredet. Im kleinen Gefängnis im Rathaus von Münsterberg erhängte er sich kurzerhand mit seinem Taschentuch. Das einzige vernünftige Foto von ihm zeigt ihn mit gefalteten Händen im Sarg liegend.

Wie es sich für ein Monster gehört, brachte Denke nicht nur Tod, sondern auch Unglück über die Stadt: Der Dosenrhabarber, eine wichtige Einnahmequelle für Münsterberg, war von Stund an unverkäuflich, weil die Legende besagte, die rote Farbe des Gemüses stamme von auf die Felder verspritztem Menschenblut. Auch die Brotkörbe, ein weiteres Münsterberger Produkt, wurden zu Ladenhütern. Man fürchtete, sie seien mit Menschenhaut zusammengeflochten worden.

Wenige Jahre zuvor hatte der – heute viel bekanntere – Fritz Haarmann ebenfalls eine vermutlich kannibalische Tatserie hingelegt. Die von ihm auf der Straße und im Bahnhof aufgegabelten »Puppenjungs« tötete er nach eigenen Angaben durch Bisse in den Hals. Hielt man ihm vor, dass das kaum möglich sei, wurde er weinerlich und beharrte darauf, die Opfer totgebissen zu haben. Ihre zerlegten Körper hat Haarmann wahrscheinlich verkauft. Um die Kundinnen (und sich) zu schonen, lieferte er dazu bei der gerichtspsychiatrischen Befragung aber keine Details.

Eine hartgesottene Horrorfigur war Haarmann nicht; er gab noch nicht einmal zu, das Fleisch der Opfer als Nahrungsmittel »vertickt«, geschweige denn, es selbst gegessen zu haben. Die Polizei versuchte daher, ihn weichzukochen, indem man in seine Zelle auf ein unerreichbares Brettchen den Schädel eines seiner Opfer stellte. Hinein kam eine Kerze, die jede Nacht entzündet wurde und ein schauriges Flackern durch die Zelle warf. Der Psychotrick machte Haarmann tatsächlich zu schaffen: Er bat um einen (lebenden) Jungen, den man in seine Zelle führen solle, damit seine Kopfschmerzen endlich verschwänden.

Es gibt noch viele andere vergessene Kannibalen. Joachim Kroll aus dem Ruhrgebiet flog beispielsweise erst auf, als er 1976 mit den Eingeweiden eines kleinen Mädchens versehentlich das Etagenklo verstopfte. Bei der anschließenden Wohnungsdurchsuchung fischte man aus einer Gemüsesuppe auf seinem Herd die Hände des vermissten Kindes.

Alle diese Verbrechen sind so grauenhaft, dass man sie keinem normalen Menschen, sondern bloß Verrückten zutrauen möchte. Doch leider sind viele der kannibalischen Serientäter verdächtig normal – meist sogar im Übermaß angepasst und ruhig. Das erzeugt Unwohlsein, denn derartige Eigenschaften sind in Deutschland eigentlich durchaus erwünscht. Wenn dann das Publikum im Gericht einem Verbrecher jede nur denkbare Folter wünscht, wird klar, wie dünn die blutige Linie ist, die Täter von Zuschauern trennt. Besonders verblüffend ist, dass die Forderungen aus der letzten Zuschauerreihe oft die Fantasien und Handlungen der Täter übertreffen. Doch dass der Wunsch, den Täter lebend zu rösten oder ihm die Haut abzuziehen, dieselbe Güte hat wie das, was auch der Täter umgesetzt hat, gestehen sich die schaurigen Zuschauer und Zuschauerinnen natürlich nicht ein.

Es gibt noch eine letzte Art von Kannibalen. Sie handeln in der Hoffnung, einen Vampir zur Ruhe zu bringen, und müssen dazu auch schon mal das Herz ihres verstorbenen Verwandten aus der Leiche schneiden. Damit soll das Herz des rastlosen Toten als Sitz der Liebe dahin gelangen, wohin es sich sehnt: zu den noch lebenden Angehörigen. Wo der fleischfressende Mörder also aus einem antisozialen Zwang handelt, der ihn zutiefst einsam macht, bemühen sich die dörflichen Herzensesser um Zusammenhalt und Frieden.

Der letzte mir bekannte Fall einer Vampir-Enterdigung fand im Jahr 2005 statt. Wie Sie an diesem und den folgenden Fällen erkennen werden, ist die Grenze zwischen Liebe und Wahn so dünn wie ein sterbendes Äderchen – und manchmal genügt ein (fehlender) Herzschlag, um aus Liebe ein Schlachtfest werden zu lassen.

Vampirverbrechen

Nicht nur in Südosteuropa werden Leichen enterdigt, weil sie angeblich Vampire sind. Auch im protestantischen Preußen gab es solche Vorfälle. Sie kamen sogar mehrfach vor Gericht und wurden damit offizielle »Vampirverbrechen«. Um das Jahr 1870 wurde die grausige Welle besonders heftig. Teils schnitten die besorgten Verwandten ihren toten Angehörigen schon in der Leichenhalle den Kopf ab, um sie nicht hinterher erst mühselig ausgraben zu müssen. Dazu schlich man sich meist nachts in die Halle, erledigte das Ritual und schloss den Sarg hernach wieder »ordnungsgemäß«. Denn Ordnung musste sein in Preußen – auch bei der Köpfung der Verwandten.

Abb. 2: Leichenenthauptungen kamen auch im deutschsprachigen Raum vor, teils aus Furcht vor Nachzehrern, teils weil man glaubte, die Toten könnten Vampire sein oder werden. (Abb. L. Fuß/M. Benecke nach Th. Schürmann)

Dass moderne Menschen derart von einem alten Aberglauben angesteckt wurden, lag vor allem daran, dass die Geschichten über Vampirleichen aus dem südöstlichen Europa nicht nur durch Zeitungsberichte bekannt, sondern auch durch glaubhafte Beobachtungen verwissenschaftlicht und sozusagen mit einem Wahrheitssiegel versehen worden waren. Das bewirkten besonders die beiden Abhandlungen von Christoph Friedrich Demelius und vom Diakon Michael Ranft aus Leipzig. Die Buchtitel waren so gut gewählt, dass schon sie allein sich in das Gedächtnis fraßen: Ranfts Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern – worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeigt, auch alle von dieser Materie bißher zum Vorschein gekommene Schrifften recensiret werden erschien auf Lateinisch 1725 und auf Deutsch 1734; Demelius’ Aktenmäßige und Umständliche Relation von denen Vampiren oder Menschen-Saugern, welche sich in diesem und vorigen Jahren im Königreich Serbien hervür gethan erschien im Jahr 1732.

Das »Kauen und Schmatzen« in Ranfts Buchtitel bezog sich ursprünglich auf den Glauben an Nachzehrer. Das waren streng genommen keine Vampire, da sie anderen Menschen keinen Schaden zufügten, sondern im Grab nur ihr Leichentuch oder Teile des eigenen Körpers aufaßen, was zunächst als gruselig, aber unschädlich galt. Zudem konnte man den Toten Steine, Münzen, Zitronen oder Ähnliches zwischen die Zähne legen, sodass sie das Beißen sein ließen.

Nun war aber ein Mann namens Peter Plogojowitz in den österreichisch verwalteten Gebieten Serbiens verstorben, der die typischen Vampirzeichen zeigte: wachsende Haare und Nägel, Abschälen der Haut, Bluten des Körpers. Ranft bemühte sich um vernünftige Erklärungen dafür. Da er aber wie Calmet (siehe S. 25–27) davon überzeugt war, dass zumindest Gott die Toten durchaus auferstehen lassen könne, und da er auch an das nur allmähliche Absterben von Körperteilen glaubte, halfen seine teils doppeldeutigen Erläuterungen nicht gegen den Glauben an Gruseliges. Einzelne Gewebe hätten eben ein Eigenleben und könnten sich auch nach dem Tod noch weiter aktiv verändern, darunter Haut und Haare.

Da man zugleich allgemein glaubte, dass das unterirdische Gewurschtel den noch Lebenden magisch die Kraft raube und krank machen könne, riet Ranft, obwohl er nicht wirklich an Untote glaubte, für den Notfall zum Äußersten. Man sollte sich zunächst einmal mit den Verstorbenen versöhnen, sodass diese keinen Grimm mehr hätten, und sich im Übrigen über das Kauen und Schmatzen keine Gedanken machen, wenn man es doch einmal vernahm. Wem das nicht half, so Ranft, der sollte den Körper eben ausgraben und den schädlichen Wirkungen »durch völlige Vernichtung ein Ende bereiten«.

Abb. 3: Diese Arbeit mit dem offiziellen Bericht über die angeblich unverwesten Leichen im serbischen Medvegya vom Januar 1732 trug stark dazu bei, dass sich der Vampirglaube in Europa dauerhaft verbreitete. (Repro: M. Benecke)

Es ist schwer zu sagen, ob der Glaube ans Nachzehren vor allem durch – gar nicht so seltene – Bestattungen von Scheintoten gespeist wurde oder durch das einmalige Schmatzen, das jede Leiche von sich geben kann, wenn der Unterkiefer mit Lösung der Leichenstarre nach unten kippt. Der Glaube an Nachzehrer war in Mitteleuropa jedenfalls weit verbreitet, hatte aber mit Vampiren zunächst nichts zu tun.

Ab 1732 häuften sich aber im deutschsprachigen Raum die Berichte über sich nicht zersetzende Leichen – auch durch die Fallsammlungen von Calmet und Ranft – derart, dass sich die verschiedenen Arten von Geistern, Nachzehrern und Untoten zur bis heute kraftvollsten Variante, den Vampiren, verdichteten. Dracula von Bram Stoker ist ein spätes Produkt dieser Berichte aus dem 18. Jahrhundert: Der Roman erschien erst hundertfünfzig Jahre später – 1897 auf Englisch und 1908 auf Deutsch. Stoker hatte sich unter anderem von dem legendenumwobenen Herrscher der Walachei, Vlad Ţepeş III. Drăculea, auch Vlad der Pfähler, inspirieren lassen.

Dem Vampirglauben half vor allem, dass es von Ärzten und offiziellen Stellen bestätigte Berichte gab, die bewiesen, dass ein Verstorbener ein Vampir war. Dadurch wurde der Volksglaube an Vampire amtlich.

Die erste dieser offiziellen Untersuchungen fand 1725 statt. Der Kameraldirektor Frombald berichtete in einem Brief an die Behörden in Wien, dass er in Kisovola (Kisiljevo) die Leiche von Peter Plogojowitz gesehen habe, die bei der Enterdigung so aussah:

Frombald selbst gab keine Erklärung für diesen Zustand des Toten. Da Plogojowitz aber zuvor aus dem Grab gestiegen und einen Mitbürger getötet haben soll, bezog sich die Untersuchung sehr deutlich auf einen Fall von Untotsein. Trotzdem landete der Bericht erst einmal bei den Akten und versank dort.

Ende 1731 wiederholte sich das Geschehen, dieses Mal in Medvegya. Ausgesandt wurde der Arzt Glaser, der entgegen seinen Erwartungen keinerlei Hinweise auf eine Seuche oder Krankheit im Dorf entdecken konnte. Die Bewohner waren überzeugt, dass die dreizehn Todesfälle der letzten Zeit auf das Konto von blutsaugenden Vampiren gegangen waren.

Als Glaser trotz seiner Zweifel die Gräber öffnen ließ, war er verblüfft – die Leichen waren tatsächlich viel weniger verwest, als er es für normal hielt. Der Mund der Leichen stand offen, das Blut war hell und frisch, die Leiber waren aufgebläht – typische Vampirzeichen.

Tatsächlich sehen aber viele Tote so aus, denn es handelt sich um übliche postmortale, also nach dem Tod auftretende Erscheinungen. Glaser kommentierte hingegen, dass ihm die Sache suspekt vorkomme – zwar je nach Leiche und deren Zustand mal mehr, mal weniger, aber doch durchweg mit dem Bericht zu entnehmendem deutlichem Unbehagen.

Da Glaser zudem offiziell anfragte, ob die Leichen nun »rituell behandelt« – also geköpft – werden dürften, um das »Malum abzuwenden«, wurde sicherheitshalber eine zweite Untersuchung angeordnet. Diese wurde für behördliche Verhältnisse sehr schnell, nämlich nur drei Wochen später, durchgeführt. Die neue, vom Regimentsfeldscherer Johann Flückinger abgehaltene Leichenschau derselben Toten brachte dem Vampirglauben in Mitteleuropa dann den Durchbruch. Flückinger stellte erneut Vampirzeichen, darunter flüssiges Blut und mangelnde Zersetzung, fest. Er erlaubte daher die Tötung der Leichen:

»Nach geschehener Visitation sind den Vampiren durch die anwesenden Zigeuner die Köpfe heruntergeschlagen, samt den Körpern verbrannt, die Asche in den Fluss Morova geworfen und die (anderen, also ›normalen‹) verwesenden Leiber in ihre vorherigen Gräber gelegt worden.«

Diese Geschichte – bestätigt und protokolliert von zwei Ärzten und von der Obrigkeit abgesegnet – schaffte es natürlich sofort in die Zeitungen beziehungsweise Flugblätter. So begann der moderne Vampirglaube in Europa.

Wäre Flückinger nicht ein Feldarzt (Feldscherer) gewesen, der unter anderem die Offiziere rasieren und die Soldaten zur Ader lassen musste, sondern in der Beschau von Leichen ausgebildet, so hätte er sich wohl weniger gewundert. Die »sicheren« Vampirzeichen, die er zu erblicken glaubte, sind nämlich allesamt durch normale Fäulnisvorgänge zu erklären. Die scheinbar »geringe Verwesung« ist in Erdgräbern beispielsweise völlig normal, wenn keine Fliegeneier mit der Leiche vergraben wurden oder es recht kalt ist. Es kann vorkommen, dass Leichen noch nach Wochen im Erdgrab »unzersetzt« erscheinen. Und die Blähung, meist als »Vollsaufen« oder »Fressen« der Leiche angesehen, entsteht durch das von Fäulnisbakterien gebildete Gas. Da dabei auch das gesamte Gesicht aufgebläht wird, ist der Eindruck, die tote Person sei auf einmal feist geworden, durchaus verständlich (siehe auch folgenden Abschnitt).

Calmets Vampirbuch

Eigentlich focht der französische Benediktinerabt Augustin Calmet (1672–1757) mit flammendem Schwert gegen allen Unsinn, der ihm entgegentrat. Zum Glauben an Vampire befand er beispielsweise, dass die »Einbildung derjenigen, welche glauben, sie hören die Todten in ihren Gräbern schmatzen wie ein Schwein, etwas so Einfältiges und Kindisches ist, dass es nicht einmal eine Widerlegung verdient«.

Abb. 4: Eines der einflussreichsten Bücher über Vampire, »der Calmet«, erschien »cum approbatione superiore« – mit päpstlichem und königlichem Einverständnis. Der Mönch begründete die Existenz von Vampiren, an die er selbst nicht recht glauben konnte, mit der Allmacht Gottes. (Foto: M. Benecke)

Zum Glück hinderten ihn aber weder seine große persönliche Bescheidenheit (er lehnte sogar den ihm vom Papst angebotenen Bischofstitel ab) noch seine Zweifel am Übersinnlichen daran, »sensationelle« Vampir-, Marienund Geistererscheinungen aus allen ihm zugänglichen Quellen und Zeiten zu sammeln und aufzuschreiben.

Diese Zusammenstellung war für ihn wohl eher eine Fingerübung, da er als Klosterchef, Autor eines bekannten dreiundzwanzigbändigen Kommentars zum Alten und Neuen Testament (erschienen in erster Auflage zwischen 1707 und 1716) sowie zahlreicher Bibelauslegungen, die ins Deutsche, Niederländische, Italienische und Englische übersetzt wurden, wohl ein echter Workaholic war.

Calmets Erscheinungen der Geister (siehe Abb. 4, S. 25) erhielten im Januar 1746 nicht nur den Segen der Kirche, sondern auch der Pariser königlichen Buchzensur. Sogleich trat der Text seinen Weg in die Nachbarländer an: Schon 1752 war beispielsweise in Augsburg die zweite Auflage der deutschen Übersetzung »mit merckwürdigen Zusätzen, welche im Französischen nicht enthalten« waren, als zweibändiges Werk in Umlauf.

Calmet fragte sich darin vor allem, was Geister überhaupt an- und umtrieb. Denn es war theologisch kaum einzusehen, warum Gott es zuließ oder befahl, dass Seelen und ihre Erscheinungen auf der Erde wandeln. Denn das Fegefeuer, in dem die Toten sich tummeln, fand doch wohl nicht mitten unter uns statt.

Daran, dass es Spuk gab, zweifelte allerdings niemand: Man durfte im damaligen Paris sogar einen Pachtvertrag lösen, wenn Seelen von Verstorbenen im Haus umgingen. Also ertüftelte Calmet eine Erklärung, die alle bekannten Tatsachen unter einen Hut brachte:

Geister, die zweifellos auftraten, bewiesen nach Calmet die Macht Gottes ganz direkt. Denn Menschen konnten nicht aus eigener Kraft aus dem Grab steigen. Aber auch Engel und Teufel hatten nicht die Macht, Tote zu erwecken: »Nein fürwahr! Ohne Befehl oder Zulassung Gottes kann solches niemals geschehen!« Gott selbst holte also hin und wieder Seelen und Körper aus der Erde. Warum er das tat, dafür hatte allerdings auch Calmet keine Erklärung.

Diese Gedankenkette mit dem Nachweis von Untoten und deren Bezug zu Gott ist übrigens ein schönes Beispiel für Sachverständigenfehler: Das Gutachten ist logisch, die Grundannahmen sind aber falsch…

Pfählen und »sichere« Vampirzeichen

Der Historiker und Balkanologe Peter Mario Kreuter hat in alten Berichten eine interessante Erklärung dafür gefunden, warum ein Vampir gepfählt werden muss. Denn, wie schon angedeutet, den Zusammenhang zwischen Vlad dem Pfähler, dem Regenten der Walachei (eigentlich Vlad Ţepeş III. Drăculea, um 1431–1476, bekannt für seine Grausamkeit), und Vampiren gibt es erst seit Bram Stoker. Es war aber schon lange vor Erscheinen des Romans üblich, Untote zu durchlöchern. Mit Vlads tatsächlich bestehender Gewohnheit, ihm missliebige Personen zu pfählen (eine seit Jahrtausenden bekannte Hinrichtungsart), hat das Ritual gegen Untote nichts zu tun, denn eine »echte« Pfählung erfolgt durch die Längsachse des Körpers (von unten nach oben), während die Vampirpfählung von vorn nach hinten verläuft.

Abb. 5: Es gibt zwei Arten von Pfählungen. Vlad der Pfähler führte die hier dargestellte Methode nicht durch, sondern pfählte die Opfer (Soldaten, Steuersünder) längs durch den Körper. Hier ist die Pfählungsart zu sehen, die gegen angebliche Vampire angewendet wird und auch von Hollywood übernommen wurde. (Grafik: unbekannte Quelle)

Bei »Vampiren« genügte anstelle eines Pfahls ein Nagel, der im Bulgarischen sogar einen eigenen Namen hat: palmarec. Mit diesem Nagel – notfalls aber auch mit Nähnadeln oder dem Vampiren generell verhassten Weißdorn – wurden die Untoten an Bauch oder Rücken verletzt. Dabei ist der Zusammenhang zwischen der Gasblähung der Leiche, die in warmer Umgebung stets auftritt, und dem Volksglauben, dass der Teufel den toten Körper aufpumpt, in einer tatsächlich wirksamen Maßnahme vereint. Sind die Stiche in die Haut nämlich tief und zahlreich genug, so entweicht das Fäulnisgas, ohne das sie sich nicht aufblähen kann, aus der Leiche. Dass in Wirklichkeit Bakterien und nicht der Teufel das Fäulnisgas entstehen lassen, spielt dabei keine Rolle. Denn wer an den Teufel und den palmarec glaubt, sieht nach der Durchlöcherung tatsächlich die gewünschte Wirkung (keine Gasblähung) und wird nicht ganz zu Unrecht – aber auch nicht ganz zu Recht – überzeugt sein, dem Bösen ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Ganz ähnlich ist es mit dem flüssigen Blut, das allen Vampir-Leichenbeschauern als sicheres Zeichen gilt, dass hier unnatürliche Kräfte am Werk sind. Doch auch hier ist es nur fehlende Erfahrung mit Leichen, die den Aberglauben bekräftigt. Leichenblut wird nämlich keineswegs immer fest, wie man meint, wenn man das stockende Blut nach Schlachtungen bei Metzgern beobachtet. In Leichen bleibt das Blut oft flüssig.

Zudem bestehen wir fast nur aus Wasser, sodass die rote Flüssigkeit ebenso gut mit ein wenig Blut vermischte Fäulnisflüssigkeit sein kann. Sie tritt aus dem Mund und der Nase aus, weil die Fäulnisgase sie durch diese Öffnungen treiben, nicht weil der Tote das Blut der Lebenden gesoffen hat. Doch auch hier gilt: Wer aus dem Alltag weiß, dass Blut stockt, und wer zudem glaubt, dass Tote aus dem Grab steigen können, für den ist das Bluttrinken beim Anblick einer im Grab geblähten Leiche mit roten Abrinnspuren ein objektiver Beweis des Schrecklichen.

Auch Fingernägel und Barthaare wachsen nach dem Tod nicht mehr. Allerdings können die Nägel, besonders bei ausgetrockneten Leichen, sehr lang aussehen, wenn die Haut darunter wegtrocknet. Hinzu kommt, dass viele kranke Menschen sich schon vor Todeseintritt die Finger nicht mehr maniküren, sodass sie mit ohnehin schon längeren Nägeln sterben.

Abb. 6: Die Nägel von Leichen können oft so wirken, als seien sie noch gewachsen, was dann als »sicheres« Vampirzeichen gilt. Meist haben sich die betreffenden Personen aber die Nägel nicht mehr geschnitten, und/oder die Haut vertrocknete postmortal so stark, dass die Nägel nun länger wirken. Besonders an warmen, zugigen Orten ist dieser Effekt verblüffend und kann so schnell vonstattengehen, dass es im Nachhinein scheint, als seien die Nägel »über Nacht gewachsen«. (Foto: M. Benecke)

Selbst die »neue« Haut, die sich unter einer alten, weißlich abfallenden Hautschicht bildet, gibt es wirklich. Die abfallende Schicht ist die obere Hautlage, die sich mit einsetzender Fäulnis vom restlichen Körper löst. Wenn es feucht ist, erscheint sie milchig weiß (andernfalls vertrocknet sie und fällt als papierdünne Schicht nicht auf). Sie kennen das Milchigwerden der Haut, wenn Sie einmal zu lange im Wasser waren: Die Haut wird dann schwammig. Der Effekt heißt bei Lebenden wie Toten »Waschhaut«, weil er früher bei Wäscherinnen auftrat. Die Haut kann sich dabei sehr leicht ablösen, was bei Lebenden zu Entzündungen und Schmerzen führt, die denen von Hautblasen ähneln. Der Illusionskünstler und Abenteurer David Blaine hat sich selbst eine schlimme Waschhaut eingehandelt, als er vom 1. bis zum 8. Mai 2006 in einem mit Wasser gefüllten Tank ausharrte.

Abb. 7: Waschhaut, wie sie sich beim Illusionskünstler David Blaine im Mai 2006 bildete, als er acht Tage unter Wasser lebte. Derselbe Effekt tritt bei Leichen in Wasser auf und gilt auch als »sicheres« Vampirzeichen, weil darunter eine weitere, scheinbar »neue« Hautschicht liegt. (Foto: Reuters/Mike Segar)

Diese sogenannten Leichenerscheinungen sind zwar völlig normal und treten bei vielen Leichen auf. Doch erstens weiß das kaum jemand (wer sieht sich schon regelmäßig faulende Leichen an?), und zweitens wäre dieses Wissen in einer schaurigen Exhumierungsnacht, durchwogt von Angst und Aberglaube, auch recht egal. Denn ob die Haut zurückweicht, weil sie vertrocknet, die »neue Haut« einfach die nächste Hautschicht unter der alten ist, ob das »Wohlgenährtsein« eher Fettwachs oder Gasblähung ist und ob das »frische Blut« einfach Leichenflüssigkeit ist (zu Fäulnisstadien vgl. mein Buch Dem Täter auf der Spur. So arbeitet die moderne Kriminalbiologie, Bergisch Gladbach 2006) – es geht bei einer Vampirjagd um etwas anderes und Höheres: das Seelenheil des Verstorbenen und das Überleben seiner noch lebenden Familie.

Abb. 8: Bei einer nur von Kerzen beleuchteten, nächtlichen Enterdigung kann eine Leiche scheinbar »gut erhalten«, also »untot« erscheinen. In Wirklichkeit handelt es sich oft aber nur um Vertrocknungen oder wie hier um die Umwandlung des Gewebes in schwer zersetzliches »Fettwachs« (Adipocire). (Foto: M. Benecke)

Genau das bereitete den preußischen Gerichten auch solche Probleme. Böser Wille lag bei diesen Taten sicher nicht vor, denn niemand köpft gern seine verstorbenen Angehörigen. Da aber, rein rechtlich gesehen, weder ein Lebender verletzt (eine Leiche lebt nicht) noch eine Sache beschädigt wurde, ist es fraglich, ob eine Vampirköpfung überhaupt gesetzlich verboten ist.

Mit diesem Problem befasste sich ausführlich der Jurist Otto Steiner. Er berichtet in seinem Buch Vampirleichen. Vampirprozesse in Preußen (1959):

»Aus den alten Berichten haben wir gesehen, dass der Vampir sich zwar auf einen erheblichen, aber doch volksartlich umgrenzten, vorwiegend slawischen und neugriechischen Raum von Europa erstreckte. Des Engländers Lord Byron fragmentarische Erzählung Der Vampir und die deutsche Oper Der Vampyr waren lediglich literarische Beiträge. Während weiter kein Zweifel darüber besteht, dass der Ursprung des Vampirglaubens bis in ferne Zeiten der Menschheit zurückgeht, sind die Gründe, warum gerade die slawischen und griechischen Teile Europas von ihm ergriffen wurden, umstritten und brauchen in dem Rahmen dieser kleinen Schrift nicht erörtert zu werden.

In den Jahren um 1870 nun verwandelte sich plötzlich das Bild der Ausbreitung: Der Vampir trat über in die preußische Provinz Westpreußen und griff zunächst nach einer Familie Gehrke. Die Ehefrau des Waldwarts Gehrke starb in einem westpreußischen Dorf und wurde dort beerdigt. Als bald nach ihrem Tode ihr Ehemann und auch die Kinder schwer erkrankten, verbreitete sich im Dorfe das Geraune und bald auch die Überzeugung, dass die verstorbene Frau ihren Ehemann und die Kinder ›nachholen‹ wolle. Der Bruder des erkrankten Ehemanns Gehrke, G. Gehrke, besprach sich mit mehreren befreundeten Männern, und sie kamen überein, Grab und Sarg der verstorbenen Frau zu öffnen und als Mittel zur Abwendung des befürchteten Todes des Ehemanns und der Kinder einen Strick und etwas Leinsamen in den Sarg zu legen.

Im Dunkeln öffneten sie Grab und Sarg auf dem Friedhof. Als sie die Leiche aber mit roten Wangen vorfanden, schien es ihnen ratsamer und sicherer, den Kopf der Leiche vom Rumpf zu trennen. Einer von den Männern setzte einen der beim Öffnen des Grabs verwendeten Spaten auf den Hals der Leiche und hielt den Stiel des Spatens fest, die übrigen Männer schlugen so lange auf das obere Ende des Spatenstieles ein, bis die Trennung des Kopfes bewirkt war. Dann legten sie den Kopf unter einen Arm der Leiche und schlossen sorgfältig wieder Sarg und Grab.

In diesem Tatbestand erblickte, als eine Anzeige erstattet wurde und der Sachverhalt geprüft war, die Staatsanwaltschaft eine ›unbefugte Beschädigung eines Grabes und einen an demselben verübten beschimpfenden Unfug‹. Das Kreisgericht schloss sich dieser Ansicht an und verurteilte den Bruder G. Gehrke zu einer Gefängnisstrafe.

In der zweiten Instanz machte Gehrke geltend, er habe – wie er unter Beweis stellte – im Einverständnisse mit den nächsten Angehörigen der Verstorbenen, also mit Autorisation der dazu berechtigten Personen, gehandelt und die erwähnten Maßnahmen an der Leiche keineswegs frivolerweise, sondern höchst ungern und widerstrebend, aus brüderlicher Liebe zu seinem erkrankten Bruder, als ein allgemein für heilsam erachtetes Mittel vorgenommen; er habe also nicht unbefugt und nicht mit dem Bewusstsein der mangelnden Befugnis gehandelt und nichts Beschimpfendes vorgenommen.

Das Appellationsgericht bestätigte indessen die erste Instanz, ohne den beantragten Beweis zu erheben: ›Es könne dahingestellt bleiben, ob etwa im Fall des Gelingens dieses Beweises (über die Bemächtigung seitens der nächsten Angehörigen) der Mangel des erforderlichen Bewusstseins hinsichtlich der Eröffnung des Grabes vorhanden sein würde; jedenfalls bleibe der beschimpfende Unfug bestehen, da Gehrke sich habe sagen müssen, dass er trotz der ausdrücklichen Aufforderung der nächsten Angehörigen der verstorbenen Frau Gehrke nicht so mit der Leiche verfahren durfte, wie er getan, und da er habe wissen müssen, dass er dadurch beschimpfenden Unfug an der Leiche und folgeweise an dem Grabe verübe.‹

Auf die Nichtigkeitsbeschwerde des Gehrke ist dieses Urteil des Obertribunals vom 8. Februar 1871 vernichtet und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an ein anderes Appellationsgericht verwiesen worden.«

Dieses Berufungsgericht stellte nun tatsächlich fest, dass die Verurteilung ungültig war. Begründung: »Es kommt nicht darauf an, ob der Implorant sich alles das sagen und es wissen musste, sondern darauf, dass er es gewusst und in dieser Kenntnis unbefugt gehandelt hat.« Da der Angeklagte aber überzeugend dargelegt hatte, dass er »in gerechtfertigter Weise, in voller Überzeugung seiner Berechtigung und in löblicher Absicht« gehandelt habe, kam es zu guter Letzt also zu einem Freispruch. Guter Wille schützte hier also vor Strafe.

Bis hierhin wäre der Fall noch eine Fußnote der Rechtsgeschichte gewesen. Leider hatte sich der Aberglaube aber derweil zu einer bizarren Tatfolge ausgewachsen. Dazu noch einmal Jurist Steiner:

»Ein zweiter Vampirfall ereignete sich um dieselbe Zeit in dem Dorf Kantrzyno im Kreise Neustatt, Westpreußen. Dort starb am 5. Februar 1870 der Anteilsbesitzer und Kirchenvorsteher Franz von Poblocki im Alter von dreiundsechzig Jahren an der ›Auszehrung‹. Seine Beerdigung erfolgte am 9. Februar 1870 auf dem Friedhof des jenseits der Provinzgrenze liegenden Dorfes Roslasin, Kreis Lauenburg in Pommern. Wenige Tage nach dem Tode des Vaters erkrankte sein ältester, achtundzwanzig Jahre alter Sohn Anton von Poblocki unter Krankheitserscheinungen ähnlich denjenigen seines verstorbenen Vaters. Ein herbeigerufener Arzt erklärte die Erkrankung des Anton von P. für die ›galoppierende Schwindsucht‹.

Am 18. Februar, also zwei Wochen nach dem Tod des Vaters, starb auch der Sohn. Vor seinem Tode, nach der Beerdigung seines Vaters, waren auch seine Mutter und seine jüngere Schwester erkrankt und machten den Eindruck von Dahinsiechenden. Überdies klagten der zweite Sohn und ein Schwager über heftiges Unwohlsein, über Angstzustände und schwere Beklemmungen.

Voller Unruhe versammelte sich die weitverzweigte Familie in dem Sterbehause, in dem der älteste, soeben verstorbene Sohn Anton im Sarge, seine Mutter und eine Schwester Antons in den Krankenbetten lagen, zu einem Familienrat und war schnell darüber einig, dass der verstorbene und schon beerdigte Vater ein Vampir gewesen sei und seinen Sohn Anton bereits nachgeholt habe. Auch Anton sei also – davon waren alle überzeugt – bereits ein Vampir geworden. Jetzt drohe der ganzen Familie der Tod.

Einstimmig wurde in dem Familienrat beschlossen, schleunigst das wirksamste Mittel gegen eine weitere Vampirisierung anzuwenden, nämlich die Enthauptung der zwei Leichen. Der zweitälteste Sohn Josef, der durch den Tod seines Bruders Anton das Oberhaupt der Familie geworden war und, wie bemerkt, sich bereits krank fühlte, wurde mit der Ausführung beauftragt.

Zunächst wurde der Leiche des noch im Hause im Sarge liegenden Anton der Kopf vom Rumpfe getrennt und unten in den Sarg gelegt. Für die Vornahme der Durchtrennungsoperation war der Arbeitsmann Johann Dzigielski gewonnen. Er benutzte dazu einen scharfen Spaten. Der Sarg wurde sodann behutsam geschlossen.

Die Beisetzung Antons sollte an der Seite seines bereits beerdigten Vaters auf dem Friedhof von Roslasin am 22. Februar erfolgen. Am Tage vorher brachten Josef von P., der Arbeitsmann Johann Dzigielski und ein anderer beherzter Arbeitsmann unter Mitnahme von Spaten und anderem Arbeitsgerät die Leiche Antons nach Roslasin. Dort suchte Josef v. P. den Totengräber auf und nahm ihm gegen Zusicherung einer Belohnung das Versprechen ab, das Grab Antons so nahe an das Grab des Vaters heranzurücken, dass man in der Nacht die Erdzwischenwand durchbrechen und den Sarg des Vaters freilegen könne, um durch Trennung des Kopfes von der Leiche die ganze Familie vor dem sicheren Tode durch den Vampir zu retten.

Im Lauf des Tages aber kamen dem Totengräber Bedenken über seine Zusage und Mitwirkung bei dem Vorhaben, und er entdeckte die ganze Angelegenheit dem Ortspfarrer Block. Dieser untersagte dem Totengräber jede Beteiligung und trug ihm auf, das Grab für den Sohn in angemessener Entfernung von dem des Vaters auszuwerfen. Weiter ließ der Geistliche dem Josef von P. eine Warnung überbringen, das Vorhaben auszuführen, und untersagte zugleich den von Josef mitgebrachten Arbeitern das Betreten des Friedhofes. Um ganz sicherzugehen, beauftragte er weiter den Organisten und den Dorfnachtwächter, den Friedhof während der Nacht zu bewachen und die zu abergläubischen Zwecken beabsichtigte Grabschändung zu verhindern. Der Organist wachte bis ein Uhr nachts, bemerkte aber nichts Auffallendes. Was der Nachtwächter unternahm, war später nicht mit Sicherheit aufzuklären.

Jedenfalls gelang dem Josef von P. und seinen Begleitern während der Nacht das Ausgraben des Sarges des Vaters und die Trennung des Kopfes vom Rumpf. Die Täter blieben jedoch nicht ungestört: Der nahe am Friedhof wohnende Dorfkrug-Wirt wurde in der Nacht durch heftiges, dumpfes Gepolter vom Friedhof her geweckt, sah dort auch einige Männer und rief ihnen zu, was sie da machten. Da keine Antwort erfolgte, ging er mutig auf den Friedhof und auf die Männer zu. Diese ergriffen die Flucht.

Der Wirt fand das Grab des beerdigten Franz v. P. geöffnet, den Sarg bereits halb wieder zugeschüttet. Das Poltern, das er gehört, war durch das Aufschlagen der hart gefrorenen Erdschollen auf den Sarg verursacht worden. Eine bei der Arbeit gebrauchte Hacke lag neben dem Grabe. Als der Pfarrer am frühen Morgen die Nachricht von dem Vorfall erhielt, begab er sich sofort auf den Friedhof und ließ den Sarg wieder bloß legen und öffnen. Der Kopf der Leiche lag abgetrennt mit dem Gesicht nach unten im Fußende des Sarges. Der Sarg wurde wieder geschlossen und das Grab zugeworfen. Die beim Grabe gefundene Hacke nahm der Pfarrer an sich. Der Totengräber erkannte sie als eine der Hacken, die er am Tage vorher bei den Fremden gesehen hatte. Im Lauf des Tages fand auf dem Friedhof sodann die Beisetzung des Anton von P. statt. Der Pfarrer hielt am offenen Grabe den Leidtragenden und den herbeigeeilten Dorfbewohnern das Unsinnige und Gottlose des Vampirglaubens mit heftigen Worten vor und erstattete am folgenden Tage unter Beifügung der Hacke als Beweismittel Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen Josef von P. und seine Helfer.

Johann Dzigielski gab zu, auch von der Leiche des Anton von P. – wie schon geschildert – den Kopf mittels eines Spatens abgetrennt zu haben. Die Staatsanwaltschaft erhob gegen Josef von Poblocki, Johann Dzigielski und den anderen Arbeiter Anklage aus Paragraf 137 des Preußischen Strafgesetzbuches wegen unbefugter Beschädigung eines Grabes und an demselben verübten beschimpfenden Unfug.

Das Kreisgericht verurteilte im Oktober 1870 demgemäß den Gutsbesitzer Josef von Poblocki und den Arbeitsmann Johann D. zu je vier Monaten Gefängnis, den anderen Arbeiter zu vier Wochen Gefängnis. Die Verurteilten appellierten gegen dieses Urteil an das Appellationsgericht mit der Begründung, sie hätten aus Notwehr zur Rettung des Lebens gehandelt, in der Überzeugung, dass die Verstorbenen Vampire gewesen seien. Aus dieser Überzeugung heraus hätten sie das einzige zur Abwendung des Todes wirksame Mittel angewendet, nämlich das Abschlagen des Kopfes.

Das Appellationsgericht sprach die Angeklagten frei. Auf Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft bestätigte das Obertribunal gemäß seinen schon früher und insbesondere in der Sache Gehrke aufgestellten Richtlinien die Freisprechung.

Außer den Fällen Gehrke und v. Poblocki kamen nach Zeitungsberichten der damaligen Zeit noch bis in das Jahr 1873 in Preußen mehrere Vampirfälle zu gerichtlichen Verhandlungen. Insbesondere wird aus Westpreußen berichtet, dass im Sommer 1873 vor dem Kreisgericht in Schwetz an der Weichsel (Świecie) eine gerichtliche Verhandlung stattfand. Die Frau eines Ziegelarbeiters war gestorben und bald hinterher mit schnellem Kräftezerfall ihre Schwester. Ein Vampir war also am Werke. Der Ehemann der Erstverstorbenen gewann zwei Schwäger und einen Bekannten für das Unternehmen, der Leiche seiner Ehefrau den Vampir auszutreiben. Sie öffneten nachts das Grab und den Sarg und versuchten, mit einem Spaten den Kopf der Leiche abzuschlagen.

Da der Spaten hierbei zerbrach, wurde die Abtrennung des Kopfes mit einer Axt vollendet.

Nach den Berichten wurden die drei wegen Beschädigung eines Grabes zu je einer Woche Gefängnis verurteilt und nahmen dieses Urteil an. Das gerichtliche Urteil ist aber heute nicht zu finden, und der Fall ist auch nicht in den Sammlungen der Entscheidungen der Obersten Gerichte enthalten. In eine höhere Instanz ist also das Urteil des Kreisgerichts Schwetz nicht gelangt.