Inhaltsverzeichnis
Von Franz-Josef Nocke ebenfalls bei Kösel erschienen:
Liebe, Tod und Auferstehung
Die Mitte des christlichen Glaubens
ISBN 978-3-466-36681-1
Vorwort
Seit meinem siebzigsten Geburtstag mehren sich in meinem Bekanntenkreis die Gespräche über das Altern. Manche klagen über das Nachlassen der eigenen Kräfte, die schlechter werdenden Zeiten, die mangelnde Rücksicht der Jüngeren und so fort. Andere fordern, man dürfe gar nicht zulassen, dass man sich alt fühle, man müsse gegen das Altwerden ankämpfen, solange man eben könne, und die Werbung kommt ihnen mit Anti-Aging-Programmen zu Hilfe. Manche erinnern mit einer gewissen Wehmut an die Zeiten, da man die Alten besonders geehrt und von der Weisheit des Alters gesprochen habe, und sie fragen, ob, wenn es jemals einen Grund dafür gegeben habe, das heute ausgeschlossen sei.
Aus solchen Gesprächen entstanden die hier aufgeschriebenen Überlegungen. Lässt sich ein besonderer Sinn des Altseins finden? Wie lie ße sich dieser Sinn realisieren? Welche Hilfe bieten dabei die Zeugnisse des christlichen Glaubens? Die Fragen werden nicht abstrakt, überzeitlich oder überörtlich gestellt, sondern mit Blick auf unsere Gegenwart und unsere mitteleuropäische Gesellschaft. Vieles hat sich gewandelt, nicht nur die familiären und gesellschaftlichen Strukturen. »Selbst die Senioren sind nicht mehr die alten« lautet der Titel eines kürzlich erschienenen Buches zu einer Kultur des Alterns. Ein neuer Zweig der Wissenschaft ist entstanden: »Gerontologie« als interdisziplinäre Forschung über das Alter und das Altern. Aber auch die Perspektiven der Theologie haben sich gewandelt.
Davon soll auf den folgenden Seiten die Rede sein. Zunächst wird mit einigen Erfahrungszeugnissen der gegenwärtige Problemhorizont angedeutet. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aufgabe verstehen, sich mit dem Altern zu versöhnen. Es geht also nicht darum, wie man sich vor dem Altwerden schützen kann, es geht vielmehr um die Kunst, den spezifischen Sinn des Alters zu entdecken und von daher die späten Lebensphasen ohne Verdrängung oder Resignation anzunehmen und sinnvoll zu gestalten.
Bei der Suche nach dem Sinn kommt der christliche Glaube ins Spiel. Aber auch der ist nicht in jeder Hinsicht überzeitlich. In meiner Jugendzeit sprachen geistliche Autoritäten anders über das Alter als heute. Um mich selbst hier zurechtzufinden, skizziere ich den theologischen Wandel, der sich seit den Tagen meines Studiums bis heute zum Thema Altern vollzogen hat. Leserinnen und Leser, die sich für Theologiegeschichte weniger interessieren, können dieses Kapitel überschlagen. Wer dagegen die Geschichte von Nahem miterlebt hat, wird sich vielleicht gerne fragen, welche der geschilderten Perspektiven das eigene Denken geprägt haben.
Auch in der Bibel finden sich sehr unterschiedliche Blickwinkel. Das soll an drei gegensätzlichen Bildern verdeutlicht werden. Diese Gegensätze zu kennen kann eine positive Wirkung für unser Reden über das Alter haben: Es kann uns davor schützen, allzu pauschal zu sprechen. Es wird sich schließlich keine komplette Theorie über das Alter ergeben. Aber es lassen sich einige praktische Impulse zum Umgang mit dem Alter formulieren.
Immer noch verspüre ich ein inneres Zögern, wenn ich vor einem größeren Publikum über das Altern spreche. Das Thema legt sehr persönliche Konsequenzen nahe. Und ich rede vor allem zu mir selbst. Deshalb füge ich zum Schluss einen kleinen persönlichen Epilog an.
Im Dezember 2006 | Franz-Josef Nocke |
Erfahrungen
Viele Menschen, besonders solche, die ihre Arbeit als entfremdend empfinden, freuen sich auf das Rentnerleben. Nicht nur sie: Viele Lehrer und Lehrerinnen zum Beispiel sind, obwohl sie einmal mit ganzem Herzen in ihrem Beruf standen, froh, wenn der Tag kommt, an dem sie ihre Last abwerfen können. Die meisten von ihnen werden lange vor dem fünfundsechzigsten Geburtstag pensioniert. Meine Großmutter hat über viele Jahrzehnte, von früh bis spät, sechs Tage in der Woche und ohne jede Urlaubszeit, für ihren Lebensmittelladen gelebt. Als sie schließlich, nach anfänglichem Sträuben, mit fünfundsiebzig Jahren das Geschäft aufgegeben hatte, pries sie sich glücklich als »Freifrau«: Nun konnte sie losgehen und ihre Kinder besuchen, wie ihr gerade zumute war.
Verluste
Aber es gibt auch andere Erfahrungen des Alters. »Eine Mutter zieht Bilanz«, hat Erich Kästner vor etwa siebzig Jahren ein Gedicht überschrieben. Traurig, immer noch ein bisschen besorgt, denkt die einsam gewordene Mutter an ihren Sohn. Der ist längst weggezogen nach Berlin. Er schreibt ihr »so gut wie gar nicht mehr«. Besuche verspricht er nur. Ihn selber aufzusuchen traut sie sich nicht. Von seiner Braut hat sie nicht einmal ein Foto. Es scheint, dass die Zeit an der Mutter vorbeigegangen ist – wie die Züge, die sie nachts vorüberfahren hört. Die verunsicherte einfache Frau findet keine Sprache mehr, mit der sie ihren Sohn erreichen könnte.
»Ob er mich kommen lässt,
wenn man sie traut?
Ich würde ihnen gern ein Kissen sticken.
Man weiß nur nicht,
ob ihr so was gefällt...«
Das Gedicht schließt mit Bildern der Erinnerung und einem rührend-hilflosen Wunsch:
»Wie war das schön,
als wir zusammen waren!
Im gleichen Haus... und in
der gleichen Stadt...
Ich hab von ihm noch ein Paar
Kinderschuhe.
Nun ist er groß und lässt mich so allein.
Ich sitze still und habe keine Ruhe.
Am besten wär’s, die Kinder
blieben klein.«1
Eine Stärke von Erich Kästner besteht darin, große Gedanken, Gefühle und Schicksalsfragen mit ganz schlichten, banalen Dingen zu verbinden. Man kann gerührt schmunzeln, aber vielleicht gerade deshalb wird man bewegt. Man spürt oder ahnt ähnliche Erfahrungen von Leere, Vereinsamung, Bedeutungsverlust, von schmerzlichen Erinnerungen an eine vergangene schöne Lebenszeit.
Kästners Gedicht kam mir wieder in den Sinn, als ich kürzlich die Aufzeichnungen eines evangelischen Pfarrers las, den ich als menschenfreundlichen, lebensfrohen und wortgewandten Seelsorger schätze. Nun war er, weil fünfundsechzig Jahre alt geworden, in den Ruhestand versetzt worden. Von den Empfindungen, welche dieser Schnitt bei ihm auslöste, erzählt er unter der Überschrift »Die Wunde der Berentung«:
»Es ist im Fall des Gemeindepfarrers ein mehrfacher Abschied: Von seinem Beruf, von den Menschen der Gemeinde und vom Haus, in dem die Kinder groß wurden. ›Unser Elternhaus ist nun weg‹, sagte der Jüngste und veranstaltete mit uns eine Abschiedsparty in den leeren Räumen... In der neuen Umgebung... kennt mich niemand. Hier bin ich einer von vielen Nachbarn... Das Telefon... ist sehr viel stummer geworden. Ja, es gibt Tage, an denen es überhaupt nicht klingelt. Dann erwische ich mich dabei, wie ich den Hörer abnehme, um festzustellen, ob es überhaupt noch funktioniert... Nichts ist mehr vorgegeben. Die Strukturierung des Tages muss ich selbst setzen... Spreche ich mit einem Kollegen, der (noch) im Amt ist, erzählt er mir von dem, was er alles zu tun hat,... spüre ich so etwas wie Neid... Es ist tatsächlich eine Wunde, die sogenannte Berentung.«2
Katholische Priester werden zurzeit nicht so hart und plötzlich mit dieser Erfahrung konfrontiert; aufgrund des Priestermangels finden sie immer noch reichlich Arbeit. Aber könnte es nicht sein, dass wir das Problem nur verschleppen – bis in eine Zeit hinein, da wir nicht mehr fähig sind, die Signale zu vernehmen, die uns zum Rückzug rufen?
Für viele aber stellen sich mit dem ersten Eintritt ins Alter zusätzlich beunruhigende Gedanken über die nächste Lebensphase ein. Aus Wanderungen werden Spaziergänge. Bald werden die Dolomiten für uns unbesteigbar sein. Eines Tages werden wir nicht mehr Auto fahren können (hoffentlich werden wir rechtzeitig gewarnt!). Vielleicht werden wir hinfällig und pflegebedürftig werden, vielleicht unfähig, uns zu artikulieren.
Manchmal, wenn wir Ältere unter uns sind und über Bekannte sprechen, die uns einige Jahre voraus sind, kommt das Gespräch auch auf eine Erfahrung, mit der wir früher nicht gerechnet hätten: nämlich die Ahnung, es könnte uns (sehr im Gegensatz zu den landläufigen Vorstellungen vom frommen alten Menschen) geschehen, dass mit zunehmendem Alter unsere Lebensideale verblassen, die Bilder unseres Glaubens ihre Leuchtkraft verlieren, bislang deutliche Glaubensüberzeugungen verschwimmen zu Fragen und Unsicherheiten. Und es könnte sein, dass sogar unsere Sehnsucht nach dem immer noch Größeren schwindet. Nicht etwa, weil der Hunger nach Unendlichkeit gestillt wäre (wie sollte das in einem endlichen Leben überhaupt möglich sein?), sondern weil unsere Empfindungsorgane abstumpfen.
»Warum weinst du jetzt?«, fragt sich
Christa Wolf an einem Herbsttag in ihrem autobiographischen Roman »Kindheitsmuster«, und sie zählt eine lange Reihe von altersbedingten Verlusten und Verfallserscheinungen auf:
»Du weinst... um das Schwinden der hochgespannten Erwartungen. Um den allmählichen, doch unaufhaltsamen Verlust jener Verzauberung, die Dinge und Menschen bisher gesteigert hat und die das Älterwerden ihnen entzieht... Um das Schrumpfen der Neugier. Die Schwächung der Liebesfähigkeit. Das Nachlassen der Sehkraft. Die Erdrosselung der heftigsten Wünsche. Das Ersticken ungebändigter Hoffnung... Die Unfähigkeit, überrascht zu werden... das Versagen von Geschmack und Geruch und, so unglaublich es sein mag, den unvermeidlichen Verfall der Sehnsucht.«3
Könnte es sein, dass uns im Alter eine Art spiritueller Appetitlosigkeit überkommt? Wie werden wir damit umgehen?
Aber die Hoffnung
Hilde Domin antwortete Christa Wolf mit einem Gedicht und konzentrierte sich dabei auf die Stichworte »Sehnsucht«, »Hoffnung« und »Liebe«:
Älter werden
Antwort an Christa Wolf
Die Sehnsucht
nach Gerechtigkeit
nimmt nicht ab
Aber die Hoffnung
Die Sehnsucht
nach Frieden
nicht
Aber die Hoffnung
Die Sehnsucht nach Sonne
nicht
täglich kann das Licht kommen
durchkommen
Das Licht ist immer da
eine Flugzeugfahrt reicht
zur Gewissheit
Aber die Liebe
der Tode und Auferstehungen fähig
wie wir selbst
und wie wir
der Schonung bedürftig 4