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Der Verlag dankt dem Ullstein Verlag für die Abdruckgenehmigung für das Zitat von Gerhart Hauptmann am Beginn des Kapitels Sagenhaftes Rügen.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-492-96340-4
© Piper Verlag GmbH, München 2013
Redaktion: Irma Kramer, Stuttgart
Karte: cartomedia Karlsruhe
Umschlagkonzeption: Büro Hamburg
Umschlaggestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Umschlagabbildung: Kreidefelsen auf Rügen (Karsten Bartel)
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Rügen und Hiddensee sind
auch einem Weltumsegler noch schön.
Adelbert von Chamisso
»Das landschaftlich lohnende Reiseziel der norddeutschen Küstenlande ist bekanntermaßen die Insel Rügen.«
Otto Piper, Jugend und Heimat,
herausgegeben von Reinhard Piper, 1941
Rügen, heißt es in jedem Reiseführer, ist Deutschlands größte und schönste Insel, und damit fängt der Unsinn schon mal an. Denn Rügen ist keine Insel, sondern ein Archipel, das aus einem Dutzend Inseln und Halbinseln besteht. Deren Einwohner behaupten allesamt seit etwa 2000 Jahren, ihr Flecken sei der schönste auf der ganzen Insel. Darin unterscheidet sich der Rüganer nicht vom Sylter oder Oberammergauer. Aber am schönsten ist es auf Jasmund, woher ich komme. Nur damit das schon mal klar ist.
Auch der Rüganer ist eine Erfindung der Reiseführer. Es gibt nämlich nur Jasmunder, Mönchguter, Ummanzer, Wittower, Hiddenseer und Muttländer. Mit Letzteren sind alle die gemeint, die das Pech haben, im Inselinneren zwischen Rambin und Bergen zu wohnen und nicht an der Ostsee oder wenigstens am Bodden.
Jetzt haben Sie schon mal die wichtigsten Inselstämme kennengelernt und müssen nur noch beachten, dass man einem Jasmunder gegenüber niemals vom Mönchgut schwärmen sollte und umgekehrt. Denn wir sind zwar für unsere insulare Gelassenheit bekannt, können aber bei Bedarf auch Leidenschaft entwickeln. Wir gelten auf dem Festland als grantig und maulfaul, aber das kommt bloß daher, weil die meisten Landratten ein bisschen schwer von Begriff sind. Nehmen Sie das nicht persönlich, dafür kann keiner. Wir mussten auf Rügen in den letzten 800 Jahren sechs verschiedene Herrschaften über uns ergehen lassen, und die wollten immer nur unser Bestes. Aber unser Bestes behalten wir lieber für uns. Und da stellt man sich dann eben besser auf langsam.
Wir wissen trotzdem, wie der Hase läuft. Denn im Grunde war es von der Christianisierung bis zur freien Marktwirtschaft immer dieselbe Nummer. Am Ende stand einer da und hielt die Hand auf, weil in den Landeskassen ständig Ebbe war. Aber wo nichts ist, hat nicht nur der Kaiser, sondern auch das Finanzamt sein Recht verloren. Deswegen muss man auf Rügen rechnen können und wissen, wo Kruse den Koem holt. Wer die Inseln und uns verstehen will, der sollte also ein bisschen was über die letzten 800 Jahre wissen. Tut mir leid, aber wenn Ihnen das zu viel ist, können Sie ja auch Pauschalurlaub am Ballermann machen.
Der herzoglich-pommersche Kanzleisekretär Thomas Kantzow behauptete in seiner »Pomerania« von 1538, wir seien: »ein zenkisch und mordisch volck, so dass es eben an ihnen schier wahr ist, was das lateinische sprüchwort besaget: omnis insularis mali – alle inselbewohner sind bösewichte.« Das war vielleicht um 1500 so, ist heute aber nichts als üble Nachrede. Wir sind friedlich und liebenswürdig, solange man uns nicht komisch kommt. Es gibt ja immer wieder zugereiste Spökenkieker, die besser wissen, was auf Rügen wann und wie gemacht werden sollte. Auch das kennen wir schon seit 800 Jahren.
Von »mordisch« kann jedenfalls heutzutage keine Rede mehr sein. Wir ziehen kein Eisen blank, sondern bevorzugen schnelles Blech aus Wolfsburg oder Untertürkheim. Zänkisch werden wir nur, wenn Sie als Urlauber gemächlich vor unserer Stoßstange herumzuckeln und wir haben dringende Termine. Oder wenn jemand an unseren Koch- oder Essgewohnheiten herummäkelt, weil er oder sie es aus Hamburg oder München anders gewohnt ist.
»Wieso bleibt die Olle nich in ihrem Pöseldorf, wenn da der Kaffee besser schmeckt?«, hörte ich einmal eine Binzer Servierkraft laut ihre Kollegin fragen, während die Pöseldorfer Dame ungläubig in ihren Muckefuck guckte. So offenherzig können wir sein, wenn es drauf ankommt.
Meine Familie lässt sich in den Kirchenbüchern von Jasmund bis 1720 nachweisen. Aber da der Mädchenname meiner Großmutter sogar als Ortsbezeichnung auf der hagenowschen Karte eingezeichnet ist, werden die Steinorts wohl schon länger in den Baumhäusern und Fischerkaten Jasmunds gelebt haben. Meine Großmutter hatte zwölf Geschwister, und entsprechend weiträumig sind wir über die Insel verteilt. Meinen Großonkeln und -tanten verdanke ich viel von dem, was ich Ihnen auf den folgenden Seiten über Rügen erzählen möchte. Deshalb werden sie hin und wieder auftauchen und ein bisschen Plattdeutsch reden. Ihre Geschichten waren immer eine Mischung aus Dichtung und Wahrheit, denn dazwischen groß zu unterscheiden war nicht ihr Ding. Ich dagegen halte mich streng an Fakten und Quellen. Aber wenn Ihnen das zu langweilig wird, können wir jederzeit einen Abstecher ins Reich der Phantasie machen, denn schließlich ist Rügen auch ein Archipel der Märchen und Sagen.
Märchen waren mir immer sympathischer als Mythen, in denen andauernd Götter und Göttinnen vorkommen, die alle miteinander verwandt sind und man am Ende nie weiß, wer mit wem. Das weiß man auf Rügen auch nie, aber wenn Sie nicht vorhaben, sich auf den Inseln niederzulassen, kann es Ihnen ja egal sein.
Man schleppt trotzdem eine Menge Mythen mit sich herum, die man als Kind oder im Internet aufgeschnappt hat und nur schwer wieder loswird. Globalisierung ist gut für den Weltfrieden. Angela Merkel ist Physikerin. Rügen ist die größte Insel Deutschlands. Dabei genügt ein Blick in die Nachrichten, und man sieht, dass es niemals schwachsinnigere Kriege gab als heutzutage, dass man schon nach einem Jahr Abwesenheit von der physikalischen Forschung weg vom Fenster und Rügen ein Archipel ist. Was Kriegsgeschichte und Physik betrifft, will ich mich hier auf keinen Streit einlassen. Aber auf Rügen kenne ich mich seit mehr als 50 Jahren ein bisschen aus. Mit dieser Gebrauchsanweisung möchte ich Ihnen helfen, ein paar märchenhafte Tage auf den Inseln zu verbringen und danach möglichst wohlbehalten auf Ihr heimatliches Festland zurückzukehren. Denn dass Rügen ein harmloses Reiseziel ist, gehört ebenfalls ins Reich der Mythen. Rügen bedeutet Rausch, Romantik und Risiko. »Un dat«, wie mein Kapitän Werner Stief von der SAS Vikingbank gerne sagte, »dat is jo ok de Sinn von de Reis.« Leinen los!
»Nie müsse der erschütternde Anblick des weiten Meeres uns begegnen, ohne daß wir unseren dankbaren Blick zu Dem hinaufsenden, Der das Meer ausgoß und Der den Sand, den Kalk und die Kreide desselben zu festem Ufer setzte.«
Gotthard Ludwig Kosegarten, Uferpredigten, 1794
Woran denken Sie, wenn Sie an Rügen denken? Schneeweiße Kreidefelsen mit rauschenden Buchenwäldern über smaragdgrüner Ostsee? Knallgelbe Rapsfelder vor azurblauem Bodden? Endlose Sandstrände, zugestellt mit Strandkörben und Sonnenschirmwäldern? Das war nicht immer so.
Als der Urkontinent Gondwana zerfiel und Afrika sich von Südamerika verabschiedete, da lagen Rügen und Hiddensee mit dem Rest des zukünftigen Deutschland noch in den Tiefen eines warmen Kreidemeers und schliefen. Während blutrünstige Mosasaurier die Wogen nach Beute durchpflügten, sammelten sich auf dem Meeresgrund Myriaden winziger Coccolithen, die Gehäuseschalen einer planktonisch vagabundierenden Kalkalge, aus der nach 80 Millionen Jahren unter anderem der Königsstuhl und die Stubbenkammer werden sollten. Während die Kreidezeit sich Zeit nahm, versanken Schnecken und Muscheln, Seeigel und Nautilusse, Kalmare und Saurier in jenem weißen Grab, in dem Mutter Natur sie dann langsam in Fossilien verwandelte.
Auch der Feuerstein, aus dem die Steinstrände der Halbinsel Jasmund bestehen, ist organischen Ursprungs. Er enthält Schalen von Kieselalgen und Schwämmen, die durch die Masse der Ablagerungen in Jahrmillionen verdichtet und kristallisiert wurden. Nachdem die Kreideschichten durch das Absinken des Meeresspiegels an die Oberfläche kamen, begann sein zivilisatorischer Siegeszug, denn in der Steinzeit wurden die schärfsten Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein gefertigt. Später wurde der »Flintstein« in den Steinschlossflinten aller europäischen Kriege bis ins 19. Jahrhundert verwendet. Heute findet er in der Schönheitschirurgie eine friedlichere Anwendung, weil seine Klingen sichtbare Narbenbildung verhindern. Womit zumindest der Feuerstein die Zweifel am zivilisatorischen Fortschritt widerlegt.
Ich bin mit der Rügener Kreide aufgewachsen. Die Kreidebrüche über Sassnitz, vom Lenzberg bis zum alten E-Werk, leuchteten weiß am Waldrand der Stubnitz und waren unser Abenteuerspielplatz. In ihren Seen konnte man herrlich baden, vor allem, weil es verboten war. Mein Großonkel arbeitete als Meister im Kreidewerk Buddenhagen, wo die Männer noch mit Hacke und Schaufel in die Kreide stiegen und die Kreideblöcke per Hand aus den Absetzbecken in die Trockenschuppen beförderten. Später wechselte er in das neu erbaute Kreidewerk Klementelvitz und wurde dort Meister in der Schlämmerei. Die Rügener Dreikronen-Kreide, die ihren Namen der Schwedenzeit verdankt, wurde nach ganz Europa exportiert. Man verwendete sie in der Düngemittel- und Farbindustrie, für die Pharmazie und in Zahnpasten, aber längst nicht mehr als Tafelkreide für die Schulen. Mein Onkel weckte mein Interesse an Fossilien, indem er mir ausgeschlämmte Seeigel oder Ammoniten mitbrachte. Manchmal durfte ich ihn auf seinen Inspektionsgängen zum Blauen und Grünen Meer, zwei aufgelassenen Kreidebrüchen in der Nähe des Werks, begleiten. Dort zeigte er mir, wie man Fossilien in den eingelagerten Feuersteinschichten finden und vorsichtig bergen konnte. Das war aufregender als jede Schatzsuche. Als ich zur Schule kam, hing in meinem Klassenzimmer eine große Farbtafel des tschechischen Ur-Naturmalers Zdeněk Burian, die eine Unterwasserlandschaft voller Seelilien und Korallen zeigte, in der zuckertütenbunte Kalmare herumwuselten. Später fand ich bei meinem Großvater eine Sammlung von Saurierbildern, die die Wandsbeker Kakao-Compagnie Reichardt mit Texten von Wilhelm Bölsche herausgegeben hatte und in der schreckenerregende Ichthyosaurier, Mosasaurier und Urwale jagten.
Wenn ich aus meinem Sassnitzer Klassenzimmer aufs Meer sah, stellte ich mir vor, dass ihre versteinerten Skelette noch immer dort in der Kreide oder im Ostseeschlick stecken müssten. Die Kreidezeit war Teil meines Alltags, und ich wollte Saurierforscher werden, um die versunkenen Ungeheuer ans Tageslicht zu holen, wie ich es auf Fotografien im Berliner Naturkundemuseum gesehen hatte. Meine Expeditionen ans Dwasiedener Ufer waren aufregender als jeder Jurassic Park, wenn ich ein Stückchen Echsenhaut auf einem Feuerstein fand.
Auch heute wird in Klementelvitz noch immer Rügener Kreide abgebaut und unter anderem zur begehrten Dreikronen-Heilkreide verarbeitet. Viele Hotels der Insel bieten Kreidebäder und Peelings an, die angeblich zu einem Muss für Rügenbesucher gehören. Sie sollen mindestens so heilsam sein wie eine Moorpackung, nur dass man dabei blütenweiß aussieht. Und man bekommt eine Ahnung davon, wie sich ein Saurier im Kreideschlamm gefühlt hat. Das Kreidemuseum in Gummanz auf Jasmund, das einzige seiner Art in Europa, erzählt die Geschichte der Rügener Kreide und bietet Exkursionen zu den Kreidebrüchen an, wo man sich unter fachkundiger Anleitung seinen eigenen Seeigel aus der Kreide polken kann.
Nach der Kreidezeit zerbrachen tektonische Kräfte die weiße Pracht unter Wasser und hoben sie hoch aus dem flachen Schelf über den Meeresspiegel. In der Eiszeit schoben sich skandinavische Gletscher über die Kreideklippen und hinterließen Findlinge und Fjordgeröll. Sie rückten bis auf eine Linie zwischen Dortmund, Leipzig und Dresden vor, deren Verlauf man noch heute an den Feuersteinfunden nachzeichnen kann. Als die Gletschergiganten nach der dritten Eiszeit zurückwichen, formten sie mit ihren Schmelzwasserströmen die Landschaft der norddeutschen Tiefebene. Auf Rügen liegen die Ablagerungen aus dieser Zeit nur wenige Meter tief unter der Erde, weswegen die Kreide im Tagebau abgebaut werden kann.
Um 15 000 vor Christus war unsere Küste wieder eisfrei und die Temperaturen stiegen. Mit den Tundramoosen kamen Birken und Weiden, zwischen denen Rentiere ästen. Das Gebiet von Rügen war noch mit dem Festland verbunden und die Baltische Eisstausee schlug gegen die Gletscherwände im Norden. Knochenfunde bei Mukran und am Bug haben gezeigt, dass damals Wale durch unsere Gewässer zogen. Eine Muschel namens Yoldia arctica schenkte ihm ihren Namen: Yoldia-Meer. Dann gab es zwischen 6800 und 5500 vor Christus noch einmal tektonische Hebungen, die das Meer von der heutigen Nordsee abschnitten. Die zuströmenden Flüsse verwandelten es in einen riesigen Süßwasserteich, der seinen Namen einer kleinen Napfschnecke verdankt: Ancylus-See. Auch in dieser Zeit gehörten die Rügener Gestade noch zum Festland. Kiefern siedelten sich auf dem Tundraboden an, ihnen folgten Erlen und Ulmen. Zum Ren gesellten sich Elche und Bisons, auf die die ersten Rüganer Jagd machten. Von ihnen hat sich bei Ausgrabungen eine Harpune und eine bearbeitete Rentierstange gefunden, die ältesten Zeugnisse der ersten Siedler.
Um 5500 vor Christus stieg der Meeresspiegel wieder und über den Öresund floss Salzwasser aus der Nordsee zu, in dem sich die Muschel Litorina litorea wohlfühlte. Das Litorina-Meer machte Rügen um 2500 vor Christus endlich zur Insel, auf der sich nach und nach Eichen ansiedelten, die noch 4000 Jahre später als stumme Zeugen der Vergangenheit in den Gemälden der Romantik aufragten.
Die Hinterlassenschaften von Kreide- und Eiszeit wurden zu Souvenirs, die noch heute begehrt sind. Einen Feuerstein mit einem kreisrunden Loch nennt man auf Rügen einen Hühnergott, denn nach dem Glauben der alten Slawen, die hier lebten, stimulierte dieses geologische Unikum die Legefreude ihrer Hühner und schützte sie durch ihr Geklapper vorm Fuchs. Das Loch stammt von den Einlagerungen ehemaliger Seelilienstängel. Die Rüganer nannten ihn auch Drudenstein, weil ihm magische Kräfte zugeschrieben wurden, und trugen ihn um den Hals oder in der Hosentasche. Meine Großtante Ella hat mir gezeigt, wie man sich mit einem Hühnergott einen Wunsch erfüllen kann. Man muss ihn selber finden, durch das Loch auf den Horizont gucken, sich dabei etwas wünschen, dann auf den Stein spucken und ihn immer bei sich tragen. Man darf einen Hühnergott natürlich nicht überfordern. Er hilft gegen den bösen Blick und Hexenschuss, aber nicht gegen Finanz- und Ehekrisen.
Zum 50. Geburtstag meiner Freundin hatte ich leichtsinnig versprochen, jedem der Gäste einen Hühnergott neben die Serviette zu legen. Deswegen machte ich mich an einem frühen Sommermorgen am Ufer der Stubbenkammer auf die Suche. Gegen Mittag hatte ich gerade zwei Dutzend aus dem Spülsaum der Ostsee gefischt, als ich plötzlich einen dunkelbraunen Stein entdeckte, den ich zuerst für einen Donnerkeil hielt. Bei näherem Hinsehen erwies sich das seltsame Stück als ein gebogener Zahn in der Größe eines kleinen Kinderfingers. Als ich am Nachmittag meine Hühnergötter zusammenhatte, schlug ich in Professor Nestlers »Fossilien der Rügener Schreibkreide« nach und entdeckte: »Sehr selten sind Reste von höheren Wirbeltieren, die einstmals schwimmend im Kreidemeer lebten. Funde von Zähnen weisen darauf hin, dass einzelne Mosasauriden auch in diesem Meer vorkamen.«
Ich hatte einen Mosasauruszahn gefunden! Meine Euphorie wurde später allerdings leicht gedämpft, als ich im Museum of Natural History in New York City ein Mosasaurusskelett sah. Mein Fundstück muss von einem Saurierbaby stammen. Aber immerhin erfuhr ich bei der Gelegenheit, dass kein Geringerer als Napoleon Bonaparte den ersten Mosasaurusschädel, den der Chirurg Hoffmann 1770 in einem Steinbruch bei Maastricht gefunden hatte, als Kriegsbeute nach Paris bringen ließ. Dort erkannte Georges Cuvier, dass es sich um eine ausgestorbene Riesenechse handelte, die mindestens 18 Meter lang gewesen war. Womit wir wieder bei den Fossilien sind.
Einer der häufigsten Funde im Feuersteingeröll zwischen Sassnitz und Lohme sind die sogenannten Donnerkeile. Die Kunde von diesen versteinerten Schwanzenden kreidezeitlicher Kalmare findet sich bereits in Ovids »Metamorphosen« und bei Plinius, wo er als »Luchsstein« beschrieben wird.
Die Griechen und Römer sahen ihn als ein Allheilmittel gegen Fieber, Sodbrennen, Verstopfung und sogar gegen Kinderlosigkeit an. Man hängte sich den glänzenden Belemniten um den Hals oder zerrieb ihn zu einem Pulver, das geschluckt wurde. Von Letzterem rate ich aus gesundheitlichen Gründen ab, obwohl diese Praxis sich auf Rügen bis ins 19. Jahrhundert erhalten und weiter keine sichtbaren Schäden angerichtet hat. Kein Grund zur Häme: Anderswo zerreiben sie noch heute Nashornspitzen und kauen Tigerpenisse. Der Glaube an die Heilkräfte des Donnerkeils stammte von der Annahme, es handele sich um versteinerte Blitze des Gottes Donar, der sie bei Gewitter auf die Erde schleuderte. Dass Griechen und Römer an die Kraft germanischer Götter glaubten, ist ein schönes Beispiel dafür, dass schon früher religiöse Toleranz nicht vor Blödsinn schützte. Den Paläontologen dient der Belemnit als Leitfossil, sie bestimmen damit das Alter der Rügener Kreideschichten.
Einer der ersten systematischen Sammler war der Unternehmer und Privatgelehrte Friedrich von Hagenow, dem wir auch die »Spezial Charte der Insel Rügen« von 1829 verdanken, die erste topografisch exakte Karte der Insel. Von Hagenow galt als einer der besten Geologen seiner Zeit und war Pächter der rügenschen Kreidebrüche, die ihn mit einer Fülle von Fossilien versorgten. Seine »Monographie der Kreideversteinerungen von Neupommern und Rügen« von 1840 war eine der ersten wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiet, wurde aber von den Universitätsprofessoren nicht ernst genommen. Was konnte schon ein Mann, der in der Kreide herumschlämmte und auch noch Geld damit verdiente, von Paläontologie verstehen? Die Wurzeln akademischer Praxisferne liegen im deutschen Theoriebetrieb so tief wie die Gastropoden in der Kreide.
Ein anderes beliebtes Fossil ist der versteinerte Seeigel, auf Rügen auch als Kreuzstein oder Schlangenei bekannt. Man legte ihn den Neugeborenen als Schutz gegen Hexen in die Wiege oder in die Futtertröge der Ställe, um das Vieh gegen Verzauberung und Ungeziefer zu schützen. Heute findet man meistens nur den vom Feuerstein ausgefüllten Hohlraum des Gehäuses, den steinernen Abdruck des eigentlichen Seeigels. Wer ein Original haben will, bewaffne sich mit Spatel und Geduld und gehe in einem der aufgelassenen Kreidebrüche Jasmunds mit dem Fossilienexperten Manfred Kutscher vom Kreidemuseum auf die Suche.
Auch der Bernstein blieb von alchimistischer Verwendung nicht verschont. Dieser noch heute am meisten gesuchte und gehandelte Stein galt in der Antike als »Gold der Ostsee«. Hippokrates, der Begründer der antiken Medizin, beschrieb schon im sechsten Jahrhundert vor Christus seine Heilkräfte. Angeblich half Bernstein gegen Fieber und Delirium und sogar bei Geistesverwirrung. Auch Ovid besingt ihn in seinen »Metamorphosen«, und zwar als »Tränen der Heliaden«, die nach Phaetons Tod in Pappeln verwandelt wurden und goldenes Harz um ihren Bruder vergossen. Rufus von Ephesos, der große Arzt der römischen Kaiserzeit, empfahl Bernsteinamulette und begründete damit ein neues Kunsthandwerk. Beispiele dieser filigranen Schnitzereien fanden sich in Troja und Mykene, in den Höhlen des Kyffhäuser und im englischen Amesbury. Im Mittelalter glaubte Hildegard von Bingen an den Bernstein als Heilmittel gegen die Pest und riet, ihn in Wein oder Wasser zu legen, damit er seine magischen Kräfte entfalten könne. Ich habe es mal in Sanddorngeist versucht und es half ausgezeichnet gegen das langweilige Tischgespräch, das mit jedem Schluck interessanter wurde. Weil die römischen und arabischen Kaufleute Bernstein mit Gold aufwogen, verboten sowohl die deutschen Ordensritter als auch die pommerschen Herzöge ihren Untertanen das Sammeln und Verkaufen. Wer Bernstein fand und ihn nicht ablieferte, dem drohte die Todesstrafe.
Nach der Niederlage der Ordensritter bei Tannenberg übernahm die Hanse Anfang des 15. Jahrhunderts das Monopol und ließ das Gold der Ostsee in ihren Werkstätten in Brügge, Lübeck und Danzig veredeln. Als magischer Schmuckstein war er in Ringen, Ketten und sogar in Kronen begehrt. 1701 gab König Friedrich I. in Preußen das berühmte Bernsteinzimmer für das Berliner Schloss in Auftrag, das der Kunstbanause, der sein Sohn war, bei Zar Peter I. gegen 55 »Lange Kerls« für seine Leibgarde eintauschte. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ist es 1944 in Königsberg verschollen und beschäftigt noch immer Schatzsucher aus aller Welt. Im Palast von Zarskoje Selo bei Petersburg haben russische Kunsthandwerker inzwischen eine Kopie aus einer halben Million Bernsteinstückchen geschaffen und der Mythos des Goldes von der Ostsee strahlt so bis in unsere Gegenwart. Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie entdecken, dass auch Angela Merkel in Krisenzeiten oft eine Bernsteinkette trägt.
Seinen Namen verdankt der Bernstein der Eigenschaft, dass er entzündbar ist – »bernen« bedeutet im Niederdeutschen brennen. Aber probieren Sie das lieber nicht. Es könnte ja sein, dass sich in Ihrem Fundstück ein tertiärer Käfer oder ein Blütenblatt befindet, die vor etwa 50 Millionen Jahren in dem flüssigen Baumharz eingeschlossen wurden. Dann haben Sie ein seltenes Stück gefunden, und wenn Sie es vorsichtig polieren, können Sie die uralten Gefangenen bewundern. Statt des Feuers empfehle ich im Zweifelsfall die Wasserprobe: Weil Bernstein leichter ist als Salzwasser, schwimmt er oben. Alles, was sinkt, können Sie vergessen.
Vom Kauf besonders schöner eingeschlossener Insekten oder gar kleiner Reptilien rät der Hiddenseer Bernsteinspezialist Henry Engels ab. Darauf haben sich russische Fälscher spezialisiert, die auch grünen und blauen Bernstein zu astronomischen Preisen anbieten, ohne Sie über deren Herkunft aus der Retorte aufzuklären. Sollten Sie irgendwo auf Rügen einen ganz besonders exklusiven Schmuck angeboten bekommen, fragen Sie vorher besser bei Engels und Corrigan in Kloster an.
Wenn Sie aus Ihrem Urlaub ein Stückchen Inselgeschichte mitbringen wollen, dann setzen Sie sich an den Feuersteinstrand und suchen Sie. Die Kreidezeit hat sich fast 80 Millionen Jahre Zeit genommen, da werden Sie ja wohl eine Stunde übrig haben.
»… die Menschen auf Rügen waren damals ungebildeter, aber eigentümlicher, mannigfaltiger und poetischer als jetzt, das Naturgepräge war noch nicht zur glatten Einhelligkeit abgeschliffen, man konnte mehr von ihnen lernen …«
Ernst Moritz Arndt, Erinnerungen aus dem äußeren Leben, 1815
Rügen war schon früh in ganz Europa bekannt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. In der Antike wurden sein Bernstein und sein Honig geschätzt, denn Rügen ist uraltes Bienenland. Die hier ansässigen Slawen nutzten den Honig für ihre Kuchen und ihren Met und waren erfahrene Imker. Im Mittelalter wurde Rügen, zumindest in höfischen Kreisen, durch die Minnelieder von Wizlaw III. berühmt sowie durch die große Sturmflut von 1304, die einen Teil des Mönchguts mit sich riss. Sie schuf das »Neue Tief« und die warnende Sage von der reichen Frau, die ein Brot als Trittstein benutzte und damit ein göttliches Strafgericht auslöste. Schon damals waren meine Landsleute von Apokalypsen fasziniert. Nachrichten von Naturkatastrophen verbreiteten sich ebenso schnell wie die vom Auftauchen seltsamer Meeresungeheuer. Das Bild eines Orcas, der 1545 an der Ostseeküste strandete, kann noch heute in der Greifswalder Marienkirche bewundert werden. Konrad Gessner beschrieb ihn 1558 in seinem Buch »Von den Fischen« erstmals wissenschaftlich als Schwertwal.
In der Hansezeit schätzte man auf den Märkten den Rügener Hering und sang Balladen über Klaus Störtebeker und seinen Steuermann Goedeke Michel. Im Dreißigjährigen Krieg galt die Insel den Feldherren beider Konfessionen als wichtiger strategischer Brückenkopf für die Herrschaft über die Ostsee. In der Schwedenzeit entstanden barocke Schlösser und Herrenhäuser, deren Pracht bis heute zu den Sehenswürdigkeiten der Insel zählt. Und nach der Niederlage Napoleons und dem Beginn der Preußenherrschaft entdeckten die Romantiker Rügen. Von dieser Entdeckung lebt die Insel noch heute, denn ohne die Bilder Caspar David Friedrichs wüsste niemand in Amerika oder Asien, wo in aller Welt sie liegt. Die Nationalsozialisten und ihre Nachfolger versuchten mit Macht, die Insel zur Ostseefestung auszubauen. Diese Hinterlassenschaften verschandeln unsere Küsten bis heute, wenn auch Mutter Natur inzwischen kräftig aufgeräumt hat. Das wird sie auch mit dem Lieblingsprojekt der Großen Koalition von Blech und Beton tun, die gerade dabei ist, das halbe Muttland unter einer Autobahn in den Dimensionen des Los Angeles Freeway zu begraben. Dass dafür die alten Alleen verschwinden müssen, kommentierte die Bundestagsabgeordnete für Rügen und Stralsund, Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, beim Spatenstich im Juni 2011 mit den Worten: »Hauptsache, die Staus sind weg. Alles andere ist egal.« Natürlich sollte auch dieses Unternehmen jede Menge neue Arbeitsplätze schaffen, aber auf Nachfrage konnte ich nirgends erfahren, wie viele es geworden sind. Wenn die Versprechungen, die den Rüganern anlässlich solcher Mammutprojekte seit 1990 gemacht wurden, wahr wären, müsste jeder inzwischen zwei Arbeitsplätze haben. Doch die Arbeitslosigkeit lag im Herbst 2012 auf Rügen immer noch bei elf Prozent.
Sind die Insulaner tatsächlich so konservativ und obrigkeitshörig, wie es seit Helmold von Bosaus Chronik kolportiert wird? Um darauf eine Antwort zu finden, lohnt sich noch einmal ein Blick in die Vergangenheit.
Seit der Eroberung durch die Dänen im Jahr 1168 haben die Rüganer gelernt, dass sie von jeder neuen Obrigkeit zuerst neue Steuern und Abgaben zu erwarten haben – egal, ob der Adler auf der Staniza – dem Feldzeichen der Slawen –, dem Preußenschild oder der Bundesfahne seinen Schnabel aufreißt. Im schlimmsten Fall mussten sie sogar ihre Haut aufs Feld der Ehre tragen und fanden bei ihrer Rückehr nur noch rauchende Trümmer und verbrannte Erde vor. Doch sie bauten ihre Dörfer und Städte immer wieder auf, setzten Reusen und Segel und fanden die Löcher im Gesetz genauso schnell wie die in ihren Netzen.
Das hat uns in den letzten tausend Jahren allen Heilsversprechungen gegenüber misstrauisch gemacht, aber auch plietsch. Dieses schöne plattdeutsche Wort ist eine Verkürzung des hochdeutschen »politisch« und bedeutet so viel wie mit allen Wassern gewaschen und mit allen Dienstvorschriften gehetzt.
Nach einem Bordunfall saß ich im November 1978 einen ganzen Monat lang mit einem Fischer, der wegen seiner Augen nicht mehr zur See fahren durfte, im Wachhäuschen des Fischkombinats und musste die Betriebsausweise kontrollieren. Obwohl nach Schichtbeginn kaum noch jemand unser Tor am Schlängelweg passierte, war Lesen streng verboten. Als ich meinem Kollegen vorschlug, uns wegen dieser sinnlosen Zeitverschwendung bei der Kombinatsleitung zu beschweren, sah er mich mitleidig an und erwiderte: »Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst.« Ich konnte nicht genau heraushören, ob da nicht eine Portion Ironie wegen meiner Ahnungslosigkeit mitschwang.
Aber gern gingen die Rüganer noch nie zu ihren Fürsten. Und sie ließen sich auch nur ungern zu etwas Neuem überreden, weil Neuerungen meistens Unruhe mit sich bringen. »Dat hebben wie schon ümmer so makt. Dat hebben wie noch nie so makt. Dor künn jo jeder kümm.« So lautet der Dreisatz unserer Abwehr gegen jeden »niemodschen Krom«. Vor allem wenn der vom Festland auf die Insel importiert wird und unser Geld kosten soll.
Diese Erfahrung musste schon der Gingster Pfarrer Johann Gottlieb Picht machen, nachdem es ihm gelungen war, die leibeigenen Untertanen seiner Kirchgemeinde 1774 durch allerhöchste schwedische Zustimmung in die Freiheit zu entlassen. Nicht alle seiner Pfarrkinder waren davon erbaut.
Manche witterten dahinter sogar einen besonders perfiden Schachzug, sie um ihr Altenteil zu bringen. Schließlich hatte die Herrschaft, weltlich oder geistlich, für sie zu sorgen, wenn sie nicht mehr aufs Feld gehen und sich selber ernähren konnten. Auch die Einrichtung einer Leinenweberei, die Picht umsichtig vorbereitet hatte, stieß zunächst auf Ablehnung und Hohn. Aber der Pfarrer war plietsch genug, seine Gingster an die Webstühle zu locken und ihren Damast durch gute Beziehungen bis an den schwedischen Königshof zu verkaufen. Doch die Entwicklung des mechanischen Webstuhls durch Edmond Cartwright in England machte diesen kurzen Aufschwung nach 1790 bald wieder zunichte.
Kein Wunder also, dass politische und technische Neuerungen es schon damals auf Rügen schwer hatten. Seine adligen Nachbarn empörten sich ohnehin über Pichts unerhörten Vorstoß, und als der schwedische König 1806 die Leibeigenschaft »für alle deutschen Gebiete der schwedischen Krone« aufhob, schrien sie Zeter und Mordio. »Nun ist hier gar der Teufel los!«, schrieb Friedrich Carl Arndt aus Bergen an seinen Bruder Ernst Moritz, dessen Schrift über die »Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen« wesentlich zu diesem Schritt beigetragen hatte. »Du machst Dir keinen Begriff von dem Getümmel und Gewimmel unserer Tyrannen. Machen sie doch einen Lärm, als wenn nun erst das deutsche Reich unterginge.« Gotthard Ludwig Kosegarten, Pfarrer von Altenkirchen, hat diesen Menschenschlag schon in seinem Drama »Die Ralunken« beschrieben. Und an die Reaktion der gerade Befreiten erinnerte sich 50 Jahre später der alte Demokrat Arnold Ruge: »In Wahrheit ließen sich die Rüganer nur befreien, weil sie es nicht hindern konnten. Diejenigen, welche mir Schuld geben, ich hätte den Deutschen immer zuviel zugetraut, wissen nicht, wie früh ich ihr Talent, sich ihren Befreiern zu widersetzen, kennen gelernt.«
Auch Gotthard Ludwig Kosegarten, der sein Leben lang von Rügen schwärmte, war von den Inselbewohnern eher ernüchtert und schrieb in seinen »Briefen eines Schiffbrüchigen«: »Es war dies Völkchen seit Alters her im Ruf der Störrigkeit, Rechthaberey, Prozess- und Zanksucht. Die Leute waren im Stande, um einen Pflasterstein, um einen Eckpfosten, um einen Düngepfahl zu hadern mit einer Wuth und Erbitterung, als gälte es Leib und Leben, Seel und Seeligkeit.«
Umso erstaunlicher ist es, wie viele Rüganerinnen und Rüganer sich aus dieser insularen Beschränktheit lösten und Neuland betraten. Dazu mussten sie die Insel allerdings verlassen, werden aber noch heute gern als ihre großen Söhne und Töchter gefeiert: Ernst Moritz Arndt (1769–1860), Patriot und umstrittener Propagandist eines deutschen Nationalstaats; Theodor Billroth (1829–1894), Begründer der Magenchirurgie und Direktor der Kliniken von Zürich und Wien; Hans Delbrück (1848–1929), Historiker und Begründer der deutschen Militärgeschichtsschreibung; Max Delbrück (1850–1919), Agrarwissenschaftler und Begründer der modernen Gärungstechnologie; Johann Jacob Grümbke (1771–1849) und Otto Fock (1818–1872), die beiden bedeutendsten Inselhistoriker des 19. Jahrhunderts; Alfred Haas (1860–1950), Ethnologe und Sagenforscher; Gotthard Ludwig Kosegarten (1758–1818), Probst von Altenkirchen und erster Poet Rügens; Arnold Ruge (1802–1880), Historiker und mit Karl Marx Herausgeber der »Deutsch-Französischen Jahrbücher«, und, last but not least, Franziska Tiburtius (1843–1927), die erste deutsche Ärztin und Begründerin der »Klinik weiblicher Ärzte« in Berlin. Ihnen allen werden wir auf unserem Spaziergang um die Insel wiederbegegnen. Sie haben in ihren Forschungs- und Erinnerungswerken ein heute noch lebendiges Bild aus der Rügener Vergangenheit überliefert.
Noch illustrer ist die Galerie von Künstlerinnen und Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern, der Damen und Herren von Welt und Halbwelt, die zwischen 1790 und 1990 dem Ruf Kosegartens gefolgt sind und während oder nach ihrer Rügenreise den Ruhm der Insel mit Romanen, Gemälden, Gedichten und Liedern verbreiteten, so dass Rügen und Hiddensee sich zu Recht als Künstlerinseln betrachten. Von Chamisso bis Grass, von Friedrich bis Feininger, von Brahms bis Felsenstein – auch sie werden uns unterwegs begegnen und ihre begeisterten bis bissigen Kommentare abgeben. Seit der Dichter Karl Lappe (1773–1843) in Stralsund die Zeitschrift »Sundine« gründete, wird über Aufenthalt und Urteil berühmter Besucher ausführlich berichtet. Die »Ostsee-Zeitung«, die zu DDR-Zeiten als »Wasser-Prawda« verspottet wurde und noch immer einen Hang zur politischen Hofberichterstattung hat, konnte in ihrem Kulturteil diese Tradition bisher bewahren. Allerdings macht sich auch hier der Trend bemerkbar, dem Auftauchen jedes TV-Starlets oder Casting-Show-Clowns mehr Aufmerksamkeit zu widmen als renommierten Künstlern. Aber die nehmen das gelassen. Als ich mich bei einem bekannten Autor deswegen entschuldigte, entgegnete der nur trocken: »Eine Insel, die die Bilder Caspar David Friedrichs, den Schlusssatz der 1. Symphonie von Brahms und Sanddornschnaps hervorgebracht hat, kann nicht ganz schlecht sein.«
Und es ist eine Insel, auf der Platt gesprochen wird: »Hest Tiet för’n lütten Schnack?«
Ich hatte das Glück, auf Rügen zweisprachig aufzuwachsen. Bei meiner Großmutter und den Großtanten wurde Platt gesprochen, zu Hause und in der Schule Hochdeutsch. Da meine Tanten und Onkel niemals ein Blatt vor den Mund nahmen, gefiel mir das Plattdeutsche, weil man darin viel besser Witze erzählen und fluchen kann. Außerdem schwingt selbst in groben Ausdrücken noch etwas Liebevolles mit. »Du Schieter!« klingt einfach herzlicher als »Du Scheißer!«. Es zischt nicht so hysterisch, denn Hysterie ist auf Platt undenkbar. Wenn meine Tanten und Onkel Läuschen und Riemels erzählten, Märchen und Sagengeschichten, dann taten sie das natürlich auch auf Platt und so hatte ich das Glück, den »Fischer und syne Fru«, »Hase und Igel«, »Jungfrau Maleen« und den »Machandelboom« zum ersten Mal im Original zu hören, denn viele der grimmschen Märchen kommen aus dem Niederdeutschen. So heißt Platt auf Hochdeutsch und ist »die Sammelbezeichnung für die Dialekte, die nicht von der zweiten Lautverschiebung erfasst wurden«, wie das Lexikon Mecklenburg-Vorpommern von Hinstorff weiß.