Clive Cussler
& Craig Dirgo
Der goldene Buddha
Roman
Aus dem Englischen von Thomas Haufschild
Liebe Leser,
als ich vor ein paar Jahren an dem Roman Höllenflut arbeitete, wurde mir klar, dass Dirk Pitt bei einem speziellen Auftrag etwas Unterstützung benötigen würde, und daher ließ ich mir Juan Cabrillo einfallen.
Cabrillo befehligte ein Schiff namens Oregon, das äußerlich völlig unscheinbar wirkte, aber mit hochmoderner Nachrichtentechnik ausgestattet war und als privates Dienstleistungsunternehmen allen Regierungsbehörden zur Verfügung stand, die sich den Einsatz finanziell erlauben konnten. Die Oregon drang in Gewässer vor, die jedem regulären Kriegsschiff verwehrt blieben, und sammelte Daten oder transportierte geheime Fracht, ohne Verdacht zu erregen – sie stellte eine perfekte Ergänzung zur NUMA dar.
Es machte mir damals so viel Spaß, über die Oregon und ihren verwegenen, einbeinigen Skipper zu schreiben, dass es mir regelrecht Leid tat, sie nach erfülltem Auftrag wieder in die Weiten des Ozeans entschwinden zu sehen. Ich nahm mir fest vor, die beiden eines Tages zurückzuholen – und hier sind sie nun, wie ich Ihnen erfreut mitteilen darf. Der goldene Buddha ist der erste Titel einer neuen Romanreihe über Juan Cabrillos fröhliche Bande, und ich hoffe, Sie haben bei der Lektüre ebenso viel Vergnügen wie ich bei der Erschaffung dieser Figuren.
Und wer weiß, vielleicht werden Cabrillo und Dirk Pitt sich irgendwann wieder über den Weg laufen…
Clive Cussler
Für meine Brüder Larry, Steve, Cliff und John
sowie für meine Schwester Dawn,
die sich auch an hektischen Tagen
nicht von ihrem Nickerchen abhalten lassen.
Vorwort
In diesem Buch geht es weder um eines von Dirk Pitts Abenteuern noch um eine NUMA-Geschichte mit Kurt Austin. Die Handlung dreht sich vielmehr um das alte Frachtschiff Oregon, das bereits in dem Pitt-Roman Höllenflut eine Rolle gespielt hat.
Hinter den heruntergekommenen Aufbauten und dem rostigen Rumpf der Oregon verbirgt sich ein wahres Wunderwerk der Technik und wissenschaftlichen Brillanz. Die Besatzung des Schiffes besteht aus intelligenten, erstklassig ausgebildeten Söldnern, die unter den vielfältigen Tarnmänteln eines ausgedehnten Firmenkonglomerats operieren und ihre Dienste Regierungen, Konzernen und Privatleuten in aller Welt anbieten. Der Kampf gegen das Böse führt sie an exotische Orte rund um den Globus, wo sie sich so mancher finsteren Bedrohung erwehren und üblen Schurken das Handwerk legen.
Craig Dirgo und ich haben gemeinsam das Konzept einer vollständig neuen Abenteuerreihe mit einzigartigen Hauptfiguren entworfen. Ich hoffe aufrichtig, dass unsere Idee bei Ihnen Anklang findet, und wünsche Ihnen eine vergnügliche Lektüre.
Clive Cussler
Die Figuren
Der Vorstand der Corporation
Juan Cabrillo: Vorsitzender
Max Hanley: Direktor
Richard Truitt: Technischer Direktor
Die Besatzung (in alphabetischer Reihenfolge)
George Adams: Hubschrauberpilot
Rick Barrett: Stellvertretender Küchenchef
Monica Crabtree: Koordinatorin für Nachschub und Logistik
Carl Gannon: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Chuck »Tiny« Gunderson: Pilot
Michael Halpert: Buchführung und Finanzen
Cliff Hornsby: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Julia Huxley: Ärztin
Pete Jones: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Hali Kasim: Fernmeldespezialist
Larry King: Scharfschütze
Franklin Lincoln: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Bob Meadows: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Mark Murphy: Waffenexperte
Kevin Nixon: Technischer Zauberkünstler
Sam Pryor: Antriebsingenieur
Gunther Reinholt: Antriebsingenieur
Tom Reyes: Ohne spezifischen Aufgabenbereich
Linda Ross: Sicherheit und Überwachungen
Eddie Seng: Leiter der Landoperationen
Eric Stone: Leiter des Kontrollraums
Die anderen
Dalai-Lama: Geistliches Oberhaupt Tibets
Hu Jintao: Staatspräsident der Volksrepublik China
Langston Overholt IV.: Leitender CIA-Beamter, der die Corporation beauftragt, Tibet zu befreien
Legchog Zhuren: Vorsitzender der Autonomen Region Tibet
Sung Rhee: Chefinspektor der Polizei von Macau
Ling Po: Kommissar der Polizei von Macau
Stanley Ho: Milliardär aus Macau und Käufer des goldenen Buddha
Marcus Friday: Amerikanischer Software-Milliardär, der einwilligt, den gestohlenen Buddha zu kaufen
Winston Spenser: Zwielichtiger Kunsthändler, der versucht, den goldenen Buddha zu stehlen
Michael Talbot: Kunsthändler aus San Francisco, der für Friday arbeitet
Einleitung
31. März 1959
Die Blumen rund um den Sommerpalast Norbulingka standen kurz vor der Blüte. Die parkähnliche Anlage war wunderschön. Sie war von hohen steinernen Wällen umgeben, und im Zentrum der Bäume und üppigen Gärten erhob sich eine kleinere gelbe Mauer, die nur der Dalai-Lama, seine Berater und einige auserwählte Mönche passieren durften. Hier lagen mehrere stille Weiher, das Heim des Dalai-Lama und ein Tempel für Gebete.
Es war eine Insel der Ruhe und Ordnung inmitten eines Landes in Aufruhr.
Nicht weit entfernt thronte auf einer Hügelflanke der imposante stufenförmige Winterpalast Potala, dessen wuchtige jahrhundertealte Bauten mehr als tausend Räume enthielten und viele hundert Mönche beherbergten. Die riesige Anlage war klar gegliedert: Von den mittleren Ebenen des siebengeschossigen Palastes führte eine steinerne Treppe in gleichmäßigem Zickzack hinab zu einer Mauer aus gewaltigen Steinblöcken, die am Fuß des Monumentalbaus nahezu fünfundzwanzig Meter in die Höhe ragte.
Unterhalb erstreckte sich eine flache Ebene, auf der mehrere zehntausend Tibeter ausharrten. Eine fast ebenso große Gruppe hatte sich am Norbulingka versammelt. Die Menschen waren gekommen, um ihren geistlichen Führer zu beschützen. Anders als die verhassten chinesischen Besatzer trugen die Bauern keine Gewehre, sondern Messer und Bögen. Anstelle von Artillerie verfügten sie lediglich über Tapferkeit und die Kraft ihrer Muskeln. Sie waren hoffnungslos unterlegen, aber zum Schutz ihres Oberhaupts mit Freuden bereit, das eigene Leben zu opfern.
Schon ein einziges Wort des Dalai-Lama würde genügen.
Im Tempel jenseits der gelben Mauer betete der Dalai-Lama zu Mahakala, seinem persönlichen Beschützer. Die Chinesen hatten ihm in ihrem Hauptquartier eine sichere Zuflucht angeboten, aber er wusste, dass ein anderer Beweggrund dahinter steckte. Falls er Schutz suchen musste, dann nicht bei, sondern vor den Chinesen. Soeben erst hatte der Dalai-Lama einen Brief von Ngabo Ngawang Jigme erhalten, dem Gouverneur von Chamdo. Nach einem Gespräch mit General Tan, dem chinesischen Oberbefehlshaber der Region, war Jigme davon überzeugt, dass man die Menschenansammlungen schon bald unter Einsatz von Geschützfeuer auflösen würde.
Falls es dazu kam, drohten schreckliche Verluste.
Der Dalai-Lama erhob sich, ging zu einem Tisch und läutete eine Glocke. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und der Anführer der Kusun Depon, der persönlichen Leibwache des Dalai-Lama, trat ein. Im Vorraum warteten mehrere Sing-Gha-Krieger, Mönchspolizisten von einschüchternder Gestalt. Jeder der Männer war fast zwei Meter groß, trug einen Furcht erregenden Schnurrbart und war in ein schwarzes wattiertes Gewand gekleidet, das ihn noch massiger und unbezwingbarer wirken ließ.
Einige Dogkhyi, wilde tibetische Mastiffs, setzten sich wachsam auf.
»Verständige bitte das Orakel«, sagte der Dalai-Lama leise.
Langston Overholt III. überwachte die sich verschlimmernde Lage von seinem Haus in Lhasa aus.
Er stand neben dem Funker, während der Mann die Frequenz einstellte.
»Situation kritisch. Ende.«
Der Funker justierte die Einstellung, um die Störgeräusche zu verringern.
»Der Hahn will offenbar das Hühnerhaus betreten. Ende.«
Der Funker behielt die Skalen genau im Blick.
»Benötigen sofortige Unterstützung. Ende.«
Und wieder gab es eine leichte Verzögerung, während der Funker eine Änderung vornahm.
»Ich empfehle Adler und Kamele. Ende und aus.«
Der Mann wartete ab, das Funkgerät rauschte, und die grünen Anzeigen kehrten zu ihrem wellenförmigen Bewegungsmuster zurück. Die Botschaft war nun hinaus in den Äther gesandt; der Rest lag nicht mehr bei ihnen. Overholt wollte Flugzeuge – und zwar unverzüglich.
Dorje Drakden, das Orakel, war in tiefe Trance versunken. Durch ein kleines Fenster der hohen Tempelwand fielen die Strahlen der untergehenden Sonne herein und schufen einen hellen Pfad, der an einem Räucherfass endete. Die Weihrauchschwaden schienen auf dem Licht zu tanzen, und ein seltsam zimtartiger Geruch hing in der Luft. Der Dalai-Lama saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Kissen an der Wand. Ein Stück vor ihm kniete vornübergebeugt Drakden und hatte die Stirn auf den Holzboden gepresst. Plötzlich meldete das Orakel sich mit tiefer Stimme zu Wort.
»Ihr müsst aufbrechen! Noch heute Abend.«
Dann – noch immer in Trance und mit weiterhin geschlossenen Augen – stand Drakden auf, ging zu einem Tisch und blieb exakt dreißig Zentimeter davor stehen. Er streckte die Hand aus, nahm einen Federkiel, tauchte ihn in Tinte, zeichnete auf einem Blatt Papier eine detaillierte Landkarte und sackte in sich zusammen.
Der Dalai-Lama eilte an seine Seite, hob das Haupt des Mannes an und versetzte ihm einen leichten Schlag auf die Wange. Drakden kam allmählich wieder zu Bewusstsein. Nachdem der Dalai-Lama ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben hatte, erhob er sich, schenkte aus einem Tonkrug einen Becher Wasser ein, kehrte zu dem Orakel zurück und hielt ihm das Gefäß an die Lippen.
»Trink, Dorje«, sagte er ruhig.
Der ältere Mann erholte sich langsam und setzte sich auf. Sobald der Dalai-Lama sicher war, dass Drakden keinen Schaden genommen hatte, ging er zu dem Tisch und nahm die Tintenzeichnung in Augenschein.
Es handelte sich um die genaue Fluchtroute von Lhasa zur indischen Grenze.
Overholts berufliche Laufbahn war ihm bereits in die Wiege gelegt worden, denn seine Familie hatte den Vereinigten Staaten seit dem Unabhängigkeitskrieg stets treu gedient. Sein Großvater war als Spion im amerikanischen Bürgerkrieg tätig gewesen, sein Vater im Ersten Weltkrieg und Langston III. im Zweiten Weltkrieg, zunächst beim OSS und dann bei der 1947 gegründeten CIA. Er war nun dreiunddreißig Jahre alt und hatte fast die Hälfte seines Lebens im Spionagegeschäft verbracht.
Eine dermaßen unheilvolle Situation war ihm in all den Jahren noch nie begegnet. Diesmal ging es weder um ein Adelshaus in Not noch um irgendeinen Würdenträger oder Diktator. Es ging um ein Religionsoberhaupt. Um einen Gottkönig, ein leibhaftiges höheres Wesen, das seinen Führungsanspruch bis auf das Jahr 1351 zurückführen konnte. Falls nicht bald etwas geschah, würde der Mann den Kommunisten in die Hände fallen, und das menschliche Schachspiel wäre vorbei.
Overholts Nachricht wurde im burmesischen Mandalay empfangen, nach Saigon und von dort aus nach Manila geleitet, mittels eines sicheren Tiefseekabels nach Long Beach, Kalifornien, und weiter nach Washington D.C. übertragen.
Da die Lage in Tibet sich während der letzten Jahre immer mehr zugespitzt hatte, war seitens der CIA eine geheime Eingreiftruppe in Burma stationiert worden. Die Einheit würde den Chinesen nicht lange standhalten können, war aber groß genug, einen eventuellen Vormarsch zu verlangsamen und die Heranführung schwer bewaffneter Infanteriedivisionen zu ermöglichen.
Das Geschwader operierte unter dem Tarnnamen Himalayan Air Services und bestand aus vierzehn C-47-Transportflugzeugen, von denen man vier Exemplare mit Schnellfeuerkanonen ausgestattet hatte. Hinzu kamen sechs F-86-Kampfjets und ein einzelner fabrikneuer B-52-Bomber der Firma Boeing.
Allen Dulles saß im Oval Office, rauchte seine Pfeife und schilderte Präsident Eisenhower den Stand der Dinge. Dann lehnte der CIA-Direktor sich zurück und ließ den Präsidenten eine Weile nachdenken. Es vergingen mehrere Minuten.
»Mr. President«, sagte er schließlich. »Die CIA hat sich erlaubt, in Burma eine schnelle Eingreiftruppe zu stationieren. Auf Ihren Befehl hin können die Jungs binnen einer Stunde in der Luft sein.«
Eisenhower hatte seit seiner Wahl im Jahre 1952 bereits eine Menge erlebt: die McCarthy-Anhörungen, die Entsendung erster Militärberater nach Vietnam sowie einen Herzanfall. Er war gezwungen gewesen, zehntausend Soldaten nach Little Rock, Arkansas, abzukommandieren, um dort die Aufhebung der Rassenschranken durchzusetzen; er hatte mit angesehen, wie die Sowjets die Vorreiterrolle im Weltraum übernahmen; sein Vizepräsident war in Lateinamerika von wütenden Steinewerfern empfangen worden. Und nun gab es auf Kuba, nur hundertfünfzig Kilometer vor der amerikanischen Küste, ein kommunistisches Regime. Er war müde.
»Nein, Allen«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ich habe als General gelernt, dass man sich seine Schlachten mit Bedacht auswählen sollte. Wir dürfen uns in Tibet vorerst nicht einmischen.«
Dulles stand auf und reichte Eisenhower die Hand. »Ich verständige meine Leute.«
Der Aschenbecher, der in Overholts Haus neben dem Funkgerät stand, quoll von filterlosen Zigarettenstummeln über. Es vergingen einige Stunden ohne Nachricht, abgesehen von der Bestätigung, dass die Funkmeldung empfangen worden sei. Alle dreißig Minuten überbrachten tibetische Gewährsmänner neue Informationen. Man konnte beobachten, dass die Menschenmengen vor den Palästen bei Lhasa immer mehr anwuchsen, wenngleich eine präzise Zählung unmöglich war. Aus den Bergen eilten unaufhörlich weitere Tibeter herbei, versehen mit Knüppeln, Steinen und Messern. Für die gut bewaffneten Chinesen stellte die wogende Masse lediglich Kanonenfutter dar.
Bislang hatten die Soldaten nichts unternommen, aber auf den Zufahrtstraßen der Stadt waren erste Truppenkontingente gesichtet worden. Vor fünf Jahren hatte Overholt in Guatemala eine ähnliche Situation erlebt. Damals war eine Demonstration von Anhängern der antikommunistischen Rebellen unter Carlos Armas unvermittelt außer Kontrolle geraten. Um das Chaos wieder in den Griff zu bekommen, hatten die Soldaten des Präsidenten Jacobo Arbenz das Feuer eröffnet, und noch vor Anbruch des nächsten Tages war in den Krankenhäusern und Leichenhallen kein einziger Platz mehr frei gewesen. Overholt hatte die besagte Demonstration organisiert, und die Erinnerung daran lag wie eine schwere Last auf seinen Schultern.
In diesem Moment erwachte das Funkgerät zum Leben.
»Anfrage negativ. Ende.«
Overholts Atem stockte. Die Flugzeuge, um die er gebeten hatte, würden nicht kommen.
»Papa Bär wird bei Abreise den Weg freiräumen, falls unbedingt nötig. Erwarten Zeitpunkt und Route. Ende.«
Eisenhower hat einen Angriff auf Lhasa untersagt, dachte Overholt, aber Dulles hat eigenmächtig entschieden, die Flucht aus Tibet gegebenenfalls militärisch abzusichern. Falls ich mich halbwegs geschickt anstelle, kann ich meinem Boss diese unangenehme Situation ersparen.
»Sir?«, fragte der Funker.
Overholt wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen.
»Man wartet auf Ihre Antwort«, fügte der Funker hinzu.
Overholt griff nach dem Mikrofon. »Verstanden und bestätigt«, sagte er. »Wir danken Papa Bär für die nette Geste, brechen hier unsere Zelte ab und melden uns von unterwegs. Ende und aus.«
Der Funker blickte zu Overholt empor. »Ich schätze, das war’s dann wohl.«
»Packt alles zusammen«, sagte Overholt ruhig. »Wir machen uns bald auf den Weg.«
Die Vorbereitungen zur Flucht des Dalai-Lama ins Exil gingen mit hektischer Geschwindigkeit voran. Overholt wurde von den Wachposten in den Schutz der gelben Mauer vorgelassen und wartete geduldig. Fünf Minuten später betrat der Dalai-Lama das Büro im Verwaltungstrakt. Der geistliche Führer Tibets trug seine schwarze Hornbrille und das gelbe Mönchsgewand. Er wirkte erschöpft, aber gefasst.
»Ich sehe es Ihrem Gesicht an, dass keine Hilfe kommt«, stellte er ruhig fest.
»Es tut mir Leid, Euer Heiligkeit«, erwiderte Overholt. »Ich habe getan, was ich konnte.«
»Ja, Langston, davon bin ich überzeugt. Wie dem auch sei, die Lage ist nun mal, wie sie ist, und daher habe ich beschlossen, ins Exil zu gehen. Ich kann nicht riskieren, dass mein Volk womöglich niedergemetzelt wird.«
Overholt hatte erwartet, den Dalai-Lama mit Engelszungen zur Flucht überreden zu müssen – stattdessen war diese Entscheidung längst gefallen. Bei genauerer Überlegung hätte er es sich eigentlich denken können – im Laufe der Jahre war der Dalai-Lama ihm immer vertrauter geworden und hatte dabei nie Zweifel an seiner Hingabe an das tibetische Volk aufkommen lassen.
»Meine Leute und ich würden Sie gern begleiten«, bot Overholt an. »Wir verfügen über genaue Landkarten, Funkgeräte und ausreichend Proviant.«
»Sehr gern«, sagte der Dalai-Lama. »Wir brechen in Kürze auf.«
»Ich wünschte, ich hätte mehr bewirken können«, sagte Overholt.
»Die Dinge sind wie sie sind«, erwiderte der Dalai-Lama. »Sie sollten nun lieber Ihre Männer holen. Wir treffen uns am Fluss.«
Am Himmel hoch über dem Norbulingka funkelte eine Billion Sterne. Der Mond, der sich fast vollständig gerundet hatte, warf einen trüben gelben Schimmer. Alles war still, nichts regte sich. Kein Nachtvogel sang sein betörendes Lied. Die zahmen Tiere im Innern der Anlage – Moschushirsche, Bergziegen, Kamele, ein einzelner bejahrter Tiger und die frei laufenden Pfauen – rührten sich kaum. Ein leichter Wind wehte vom Himalaja herab und brachte den Duft von Kiefernwäldern mit sich. Die bevorstehende Veränderung schien fast greifbar zu sein.
Auf einem hohen Bergrücken außerhalb von Lhasa ertönte der markerschütternde Schrei eines Schneeleoparden.
Der Dalai-Lama ließ den Blick über seine Umgebung schweifen, schloss die Augen und stellte sich vor, dass er eines Tages zurückkehren würde. Statt Mönchsgewand und Umhang trug er eine Hose und einen schwarzen Wollmantel. Über seinem linken Arm hing ein Gewehr, und auf der rechten Schulter lag ein zusammengerolltes uraltes Thangka, ein besticktes zeremonielles Seidengemälde.
»Ich bin so weit«, sagte er zu seinem Chikyah Kenpo, dem Stabschef. »Habt ihr die heilige Statue eingepackt?«
»Sie befindet sich wohlbehalten in einer Kiste und wird bewacht. Die Männer werden sie unter allen Umständen beschützen, genau wie Ihr.«
»So soll es sein«, sagte der Dalai-Lama sanft.
Sie gingen los und durchschritten das Tor der gelben Mauer.
Der Chikyah Kenpo hielt ein großes, mit Edelsteinen besetztes Krummschwert in der Hand. Er steckte es in die Lederscheide an seinem Gürtel und wandte sich an seinen Herrn. »Bleibt in meiner Nähe.«
Dann ließen sie auch das äußere Tor hinter sich und verschwanden in der Menge, gefolgt von einer Abteilung Kusun Depon. Schnellen Schrittes bogen sie auf einen ausgetretenen Pfad ein. Zwei Kusun Depon blieben zurück und hielten nach etwaigen Verfolgern Ausschau. Als sie niemanden entdecken konnten, eilten sie den anderen hinterher und passierten ein weiteres Postenpaar, das den nächsten Abschnitt des Wegs sicherte. So wurde abwechselnd der Rückzug gedeckt, und auch die Vorhut der Gruppe arbeitete auf gleiche Weise. Den Abschluss des Zuges bildete ein Handkarren, auf dem sich die Statue befand. Ein kräftiger Mönch hatte beide Hände fest um die Stangen des Wagens geschlossen und lief flink voran, als wäre er ein säumiger Rikschafahrer.
Alle verfielen in Laufschritt, und das Geräusch ihrer Füße glich gedämpftem Beifallklatschen.
Dann hörte man Wasser rauschen und roch nasses Moos. Es war ein Seitenarm des Flusses Kyichu. Über einige Trittsteine gelangten alle ans andere Ufer und eilten sogleich weiter.
Jenseits des Kyichu sah Overholt auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr und trat von einem Bein aufs andere. Einige Dutzend Kusun Depon, die man Stunden zuvor ausgesandt hatte, hielten Pferde und Maultiere bereit, die die weitere Flucht beschleunigen sollten. Wenn die Blicke der Männer auf den blonden Amerikaner fielen, lagen darin weder Zorn noch Angst, nur Schicksalsergebenheit.
Mehrere große Fährkähne hatten sie alle ans diesseitige Ufer gebracht, und nun lagen die Boote wieder auf der anderen Seite bereit und erwarteten die Ankunft des Dalai-Lama. Overholt sah ein Licht aufblitzen, das die sichere Überfahrt ankündigte. Die Boote wurden im Mondschein hastig beladen, und wenige Minuten später hörte er, wie die Ruder ins Wasser eintauchten.
Der erste Kahn glitt auf den Uferkies, und der Dalai-Lama stieg aus.
»Langston«, sagte er. »Sind Sie unbemerkt aus der Hauptstadt entwischt?«
»Ja, Euer Heiligkeit.«
»Befinden sich all Ihre Leute bei Ihnen?«
Overholt wies auf die sieben Angehörigen seines Teams. Sie standen abseits neben einigen Kisten mit Ausrüstungsgegenständen. Der Chikyah Kenpo erreichte ebenfalls das Ufer und ließ die Vorhut aufsitzen. Die Männer nahmen lange Lanzen mit seidenen Bannern. Ihre Pferde waren mit zeremoniellen Decken und prächtigem Zaumzeug geschmückt. Dann ertönte ein halblautes Trompetensignal, das wie der Ruf einer Gans auf dem Weg nach Süden klang. Es war Zeit für den Aufbruch.
Man half Overholt und seinen Männern beim Aufsteigen. Dann reihten sie sich hinter dem Dalai-Lama ein. Als die Sonne am Morgen aufging, lag Lhasa bereits viele Kilometer hinter ihnen.
Zwei Tage später. Der viertausendachthundert Meter hohe Pass namens Che-La sowie der Fluss Tsangpo lagen hinter den Reisenden, und die Gruppe schlug ihr Nachtlager im Kloster Ra-Me auf. Berittene Boten brachten die Nachricht, dass die Chinesen den Norbulingka mit Artillerie beschossen und die wehrlose Menge unter Maschinengewehrfeuer genommen hatten. Es gab Tausende von Opfern zu beklagen. Der Dalai-Lama wurde leichenblass.
Overholt hatte den Fortgang der Reise über Funk gemeldet und war erleichtert, dass sie bisher ohne Unterstützung zurechtkamen. Die Route war überaus geschickt gewählt worden und führte an den chinesischen Stellungen vorbei. Er und seine Männer waren erschöpft, aber die zähen Nepalesen drängten sie rastlos weiter, vorbei an dem Ort Lhuntse Dzong und dem Dorf Jhora.
Der Karpo-Pass und die indische Grenze waren weniger als einen Tagesritt entfernt.
Und dann fing es an zu schneien. Über Mangmang, der letzten tibetischen Stadt vor der Grenze, lauerte ein Schneesturm mit heulendem Wind und tiefen Wolken. Der Dalai-Lama, dem die anstrengende Reise und das Wissen um den Tod zahlloser Landsleute zugesetzt hatten, wurde krank. Seine letzte Nacht in der Heimat verlief qualvoll.
Um ihm den weiteren Verlauf etwas zu erleichtern, setzte man ihn auf den Rücken eines Dzomo, eines Mischlings aus Yak und Rind. Während des Aufstiegs zum Pass wandte der Dalai-Lama sich ein letztes Mal zu seinem geliebten Tibet um.
Overholt ritt näher heran und wartete, bis der Blick des Dalai-Lama auf ihn fiel. »Mein Land vergisst nie«, versprach er. »Eines Tages bringen wir Euch zurück nach Hause.«
Der Dalai-Lama nickte, tätschelte den Hals des Dzomo und ritt voran ins Exil. Am Ende der Kolonne überquerte der Mönch mit dem Handkarren die Passhöhe und musste beim Abstieg Acht geben. Das kostbare, fünf Zentner schwere Artefakt hatte sich auf dem Weg nach oben kaum von der Stelle rühren wollen, und nun machte es sich beinahe selbständig. Der Mann stemmte sich gegen die Last.