Chuzpe
Roman
Aus dem Englischen
von Melanie Walz
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel
You Gotta Have Balls
bei Picador by Pan Macmillan Australia.
Für David, meinen Liebsten,
und
für Virginia Lloyd und ihren geliebten Ehemann
John Gallagher, 1956–2004
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© der deutschen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006
© 2005 Lily Brett
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-73280-9
www.suhrkamp.de
Erstes Kapitel
»Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz?« war eines der ersten Dinge, die Sonia Kaufman zu Ruth Rothwax sagte, als sie sich vor etwa zehn Jahren kennengelernt hatten. »Warum redest du über Männer und ihre Intelligenz? Du solltest über die Wechseljahre reden. Die stehen vor der Tür.« Ruth hatte lachen müssen. Ruth und Sonia waren gleich alt. Vierundfünfzig. Sie waren beide in Australien aufgewachsen, sich aber erst in New York begegnet. Sonia war Anwältin für Urheberrecht in einer großen Anwaltskanzlei. Ihr Ehemann war Seniorpartner in derselben Kanzlei.
Ruth hatte eine eigene Firma. Einen Briefservice. Sie hatte Kunden in New York, in Los Angeles, in Boston und in Washington. Als sie Rothwax Correspondence eröffnete, hatte man ihr erklärt, das würde nie und nimmer gutgehen. Das war vor fünfzehn Jahren gewesen. Inzwischen hatte sie mehr Firmenkunden, als sie bedienen, und mehr Privatkunden, als sie sich wünschen konnte.
Worte zusammenzufügen erfüllte Ruth mit tiefer Befriedigung. Ein Teil der Befriedigung rührte daher, daß man Worte kontrollieren konnte. Wenn man ihnen eine Reihenfolge verlieh, behielten sie diese Reihenfolge bei. Sie machten keine unerwarteten Ausfälle. Sie verwandelten sich nicht plötzlich in Fremde oder nahmen Tangostunden.
Sonia verbrachte ihre Tage damit, herauszufinden, wem welche Ideen, Farben, Bezeichnungen, Gedanken und Worte gehörten. Ruth dachte sich, daß Sonia ruhig etwas mehr auf ihre eigenen Gedanken und Worte achten könnte.
»Probier meine Lammwurst mit Fenchel«, sagte Sonia. »Schmeckt köstlich.« Ruth und Sonia frühstückten im Coco’s an der 12th Street.
Lammwurst mit Fenchel? Wie konnte Sonia nur Lammwurst mit Fenchel zum Frühstück essen, dachte Ruth.
»Nein, danke«, sagte sie.
»Warum ißt du nicht vernünftig?« sagte Sonia. »Du hast fünf Getreidekörner und sechs Obststückchen auf deinem Teller. Iß Eier mit Schinken oder den Steak-Kartoffel-Auflauf.«
»Du redest wie mein Vater«, antwortete Ruth.
»Dein Vater ist völlig in Ordnung«, sagte Sonia.
»Anderer Leute Väter sind immer in Ordnung«, sagte Ruth. »Außerdem kann ich kein rotes Fleisch essen. Es erinnert mich an brennendes Fleisch.«
»Werd endlich erwachsen!« Sonia wurde beinahe laut. »Deine Eltern waren in Auschwitz, na und? Meine Mutter war in Theresienstadt, und ich kann gebackenes Hirn essen, geschmorte Nieren, gehackte Leber und alle möglichen Beine, Köpfe, Hälse und Füße. Du kannst nicht so auf den Holocaust fixiert bleiben.«
»Ich bin überhaupt nicht auf den Holocaust fixiert«, sagte Ruth.
Immerhin, dachte sich Ruth, war Sonia eine der wenigen Frauen in New York, die keine wie auch immer geartete Eßstörung hatte. Fast keine der Frauen aus Ruths Bekanntschaft hatte eine unbeschwerte Haltung zum Essen, wenn auch das Ausmaß der Störungen unterschiedlich war. Männer waren anders. Männer gingen ins Restaurant. Bestellten, worauf sie Lust hatten. Und aßen es. Genau wie Sonia. Sonia studierte nicht stundenlang voller Furcht und Zögern die Speisekarte. Und jammerte nicht im Anschluß an eine Mahlzeit über das, was sie gegessen hatte. Sonia aß einfach.
Ruth versuchte sich zu verteidigen. »Ich weiß eine Menge über Essen und Ernährung«, sagte sie. »Forschungsergebnisse belegen, daß der Genuß dunkler Schokolade das Risiko von Blutgerinnseln mindert und die Blutgefäße entspannt.«
»Damit deine Blutgefäße sich entspannen könnten, bräuchte es intravenöse Valiumgaben«, antwortete Sonia. »Es ist nicht normal, so etwas über Schokolade zu wissen und auf den Holocaust fixiert zu sein.«
Aber was war schon normal? Wetterkarten und -vorhersagen verwendeten gern das Wort »normal«. Sie maßen Normalität. Wetterkarten konnten einem die durchschnittliche tägliche Abweichung von der Norm des Monats oder Jahres angeben. Ruth wäre gern in der Lage gewesen, die durchschnittliche tägliche Abweichung von ihrer eigenen Norm zu messen.
»Viele Dinge sind nicht normal«, sagte Ruth. »Viele Dinge, die normal sind, sollten es nicht sein. Wenn man abends die Nachrichten sieht, könnte man meinen, daß die Welt von Männern beherrscht ist. Und man hätte recht. Aber das ist nicht normal. In einer Nachricht nach der anderen gehen weiße Männer mittleren Alters über die Straße, stehen am Pult oder sitzen am Tisch. Sie halten Reden und Ansprachen. Sie dozieren. Sie attackieren. Sie loben. Sie erklären. Wo sind die Frauen? Nicht zu sehen. Und nicht an der Macht. Wenn eine Frau in eine Machtposition gelangt, ist das eine Riesensache. Es ist eine Riesensache, daß wir Condoleeza Rice haben. Es war eine Riesensache, als es Golda Meir gab. Und das ist fünfunddreißig Jahre her. Und wer ist schuld daran?« fragte Ruth, ein bißchen außer Atem, und sah Sonia an.
»Die Männer«, antwortete Sonia.
»Nein«, sagte Ruth. »Männer sind vernünftig. Sie wissen, was sie wollen. Und sie wissen, wie sie es bekommen. Ihre Hirne sind nicht vernebelt und mit sinnlosem Zeug verklumpt und verstopft. Sie sind nicht bis zum Rand voll mit Selbsttäuschungen über ihre Liebenswürdigkeit, ihre Nettigkeit oder zwölf verschiedene Diäten. Frauen sollten miteinander sprechen. Ehrlich. Sie sollten einander vertrauen. Statt einander in Stücke zu reißen. Sie sollten Informationen, Kontakte, Erfahrungen und Intimes austauschen.«
Ruth hatte den Eindruck, daß das Intime im großen und ganzen von dringenderen Bedürfnissen abgelöst worden war. Karriereschritte, Konferenzen, Elternschaft, Wohnungseinrichtung oder Hauskauf schienen größere Gefühlsregungen auszulösen als Orgasmen. Und richtig wichtig waren meistens Firmenpolitik, Immobilientransaktionen, Scheidungsverhandlungen oder sportliche Aktivitäten. Nicht Vorspiel. Oder Libido.
Ruth machte sich Sorgen über ihre Libido. Sie war der Ansicht, daß man eine Libido leicht verlieren konnte. Leichter als Handschuhe oder Regenschirme. Handschuhe und Regenschirme konnte man im Auge behalten. Eine Libido dagegen konnte man verlegen, ohne es zu merken. Jahrelang. Und selbst wenn man sich Sorgen über die eigene Libido machte, konnte man nicht darüber sprechen. So etwas war kein geeignetes Gesprächsthema. Man konnte nicht über eine verlegte Libido plaudern, wie man über ein weggelaufenes Haustier plaudern konnte. Und außerdem wurde dieser Verlust von anderen nicht einmal bemerkt. Im Unterschied zu Gewichtsverlust. Oder Haarausfall.
»Frauen müssen Erfahrungen und Intimität teilen«, wiederholte Ruth.
»Was für eine Intimität?« fragte Sonia.
»Jede Art von Intimität«, sagte Ruth.
»Ich kenne keine einzige Frau, der es leichtfiele, über Sex zu sprechen«, antwortete Sonia. »Jedenfalls keine verheiratete Frau.« Sie schwieg. »Wahrscheinlich weil sie von dem Sex, den sie haben, nicht besonders begeistert sind«, sagte sie. »Sex zwischen Ehepartnern ist nur ein Thema unter vielen in ihrem Alltag. Wie Rechnungen bezahlen oder den Abfall rausbringen. So utilitaristisch und alltäglich wie Geschirrspülen. Und genauso mechanisch. Zwei Minuten nachdem man angefangen hat, ist es schon wieder vorbei. Er hat ejakuliert. Du hast gestöhnt. Für einen Augenblick hattet ihr beide vergessen, was ihr im Fernsehen gesehen habt oder was im Büro los war oder daß ihr eines der Kinder oder den Partner eben noch am liebsten erschlagen hättet. Eine halbe Stunde später schläfst du oder denkst wieder über das Kind oder das Büro nach. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um nicht an die häßlichen Socken oder Unterhosen oder an die sonderbaren Eßgewohnheiten zu denken, ist wieder da. Die Entfernung, die ihr überbrückt hattet, um einander nahe zu sein, ist wieder da. Die einzige Möglichkeit, mehr als das zu haben, besteht darin, sich einen Liebhaber zu nehmen. Das habe ich jahrelang getan. Aber ich kann es nicht mehr. Es ist zu schwierig, Ehefrau, Mutter und Geliebte zu sein. Ehefrau und Geliebte habe ich schon kaum unter einen Hut gebracht. Es war einfach zu schwierig, den Überblick zu behalten. Ganz zu schweigen davon, daß so etwas mit Kindern schlicht unmöglich ist. Schließlich kann man nicht Cornflakes einkaufen und gleichzeitig daran denken, wie der Geliebte riecht. Das geht einfach nicht.«
Sonia sah bedrückt aus. Ihr normalerweise geradegeschnittenes glattes Haar war zerrauft.
Ruth war beunruhigt. Sonia tat ihr leid. Ruth war sich nicht sicher, daß Sex oder die Frage, wie häufig man Sex hatte, einen verläßlichen Maßstab des Eheglücks bildete. Es spielte so vieles mit hinein. Sie fand, daß sie eine glückliche Ehe führte. Sie wußte, daß sie Garth liebte. Aber Liebe war etwas so Nebulöses. Man konnte einen anderen aus so vielen falschen Gründen lieben. So viele Irrtümer konnten Eingang in die Liebe finden und fanden ihn auch. So viele Ablenkungen. Und so viel Zerstörung. Man konnte einen anderen lieben, weil er es einem ermöglichte, sich schlecht zu fühlen oder überfordert oder überfahren oder sicher oder überlegen. Man konnte einen anderen als äußerst praktischen Ersatz für Eigenliebe lieben.
Man konnte einen anderen als Ersatz für so vieles lieben. Gutes wie Schlechtes. Woher wollten die Leute wissen, warum sie die liebten, die sie liebten? Ruth hatte ihr halbes Erwachsenenleben auf der Analytikercouch verbracht und ein halbes Vermögen ausgegeben, um ihr Leben zu meistern. Und sie kam jetzt besser damit zurecht. Völlige Klarheit hatte sie nicht. Man sollte meinen, daß man für so viel Geld völlige Klarheit erwarten könnte. Sie wußte, daß ihr Herz noch immer einen Sprung tat, wenn sie abends nach Hause kam und Garth sah. Sie glaubte, daß das ein gutes Zeichen war. So gut wie Sex. Sie war immer der Ansicht gewesen, daß Sex vollkommen sein müsse. Vollkommen in seinen Abständen. Vollkommen in seiner Ausführung. Aber Vollkommenheit war ein so wenig greifbarer Zustand. So variabel. Wenn es ihn überhaupt gab, war er zweifellos von kurzer Dauer. Ruth hatte den Eindruck, daß es Zeiten gab, in denen Sex vollkommen erschien. Und das, dachte sie, war vermutlich oft genug der Fall.
»Glaubst du wirklich, daß Männer vernünftig sind?« fragte Sonia.
»Ja«, sagte Ruth. »Sehr vernünftig sogar. Männer wissen, daß es in ihrem eigenen Interesse ist, andere Männer zu unterstützen, auch wenn sie diese anderen Männer zufällig zutiefst verabscheuen. Männer sind anderen Männern gegenüber keine Giftspritzen und kratzen ihnen nicht die Augen aus. Männer gehen mit sich selbst wesentlich würdevoller um.«
Die Vorstellung von Männern, die mit sich selbst umgingen, würdevoll oder nicht, beschwor in Ruth das falsche Bild herauf. Sie versuchte es wegzublinzeln.
»Frauen sind so aggressiv, so konkurrenzbewußt«, sagte Ruth. »Und Frauen sind glücklich, wenn andere Frauen unglücklich sind. Sie können es kaum abwarten, einen lautstark zu bemitleiden, wenn man unglücklich ist. Du suchst eine Freundin? Nimm zu, verlier deinen Job, bekomme Krebs – oder vielleicht lieber etwas weniger Schreckliches wie Gürtelrose oder Gesichtslähmung. Krebs kann für Freundinnen sehr belastend sein.
Männer sind aufrichtiger in ihren Freundschaften. Sie legen nicht beleidigt den Hörer auf. Sie führen keine Kleinkriege oder sprechen monatelang nicht miteinander wegen irgendwelchen Unsinns. Männer weinen nicht wegen etwas, was ein anderer Mann gesagt hat. Oder hassen ihn jahrelang dafür.«
»Ich sage es nicht gern«, sagte Sonia, »aber ich fürchte, du hast recht.«
»Ich fürchte es auch«, sagte Ruth. »Männer sind so clever. Der durchschnittliche schwer depressive, halbverblödete, fast hirntote Mann ist immer noch wesentlich cleverer als die meisten Frauen.«
Sonia mußte lachen.
»Ich habe mir überlegt, eine Frauengruppe zu gründen«, sagte Ruth. »Eine kleine Gruppe von cleveren Frauen, die sich füreinander interessieren und gemeinsam mehr bewirken. Für sich selbst. Und für andere Frauen.«
»Du überlegst dir, eine Frauengruppe zu gründen?« sagte Sonia. »An welche Frauen hast du gedacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Ruth. »Was meinst du?«
Ein bißchen hatte Ruth ihre Idee selbst überrascht. Und nicht weniger überrascht war sie von der Heftigkeit ihrer Hoffnungen und der Dringlichkeit ihres Anliegens. Sie hatte zwar noch keine Frauen angesprochen, das erste Treffen jedoch bereits sorgfältig geplant. Und hatte beschlossen, daß es in ihrem Loft stattfinden sollte.
Sie hatte sogar den Ablauf skizziert. Zuerst sollte jede Frau sich kurz vorstellen, höchstens fünf Minuten lang. Ruth hoffte, daß alle so intim und ehrlich wie möglich von ihrem Leben erzählen würden. Daß sie mehr erzählen würden, als sie bei einer Cocktail- oder Dinnerparty erzählen konnten oder wollten. Gut wäre es auch, wenn die Frauen sagen würden, warum sie sich der Gruppe angeschlossen hatten. Nach der Vorstellung wäre vielleicht eine Runde von Fragen und Antworten angebracht, die erlaubte, auf das Gesagte einzugehen. Ruth wollte vorschlagen, daß die Gruppe eine Liste von Themen zusammentrug, die bei künftigen Treffen erörtert werden sollten. Zwei Themen pro Abend waren denkbar. Und eine Stunde pro Thema.
Und sie hatte sich den Vorschlag notiert, daß die Gruppe vielleicht eine halbe Stunde monatlich für Mitglieder reservieren sollte, die gezielte Hilfe benötigten. Hilfe in Form von Kontakten, von Rat. Hilfe wobei auch immer. Sie schrieb eine Reihe von Regeln für die Treffen auf und nahm sich vor, sie Richtlinien zu nennen. Ruths Regeln waren einfach. Wenn jemand sprach, sollten die anderen den Mund halten. Bemerkungen sollten sich an alle richten, nicht an die Sitznachbarin oder an ein Splittergrüppchen. Ruth hielt es für wichtig, daß alle hörten, was jede zu sagen hatte. Und daß jede Versammlung von jemandem geleitet wurde. Beschränkung der Redezeit nicht zu vergessen. So wäre gewährleistet, daß die redefreudigeren Mitglieder nicht die ganze Versammlung für sich beanspruchten und daß jede die Möglichkeit hatte, das Wort zu ergreifen. Sie stellte sich vor, daß man jede Versammlung mit einem dreiminütigen Statement jedes Mitglieds über die vorausgegangene Versammlung beginnen könnte. »Bin ich zu diktatorisch?« schrieb sie auf ihr Blatt Papier. Sie hatte sich vorgenommen, Sonia diese Frage nicht zu stellen.
»Wie kommst du ohne Garth zurecht?« fragte Sonia.
»Ich glaube, ganz gut«, sagte Ruth.
»Er hat dich erst vor einer Woche verlassen«, sagte Sonia.
»Er hat mich nicht verlassen. Er ist nicht da«, sagte Ruth. »Verlassen klingt wie verlassen.«
»Er hat dich verlassen«, sagte Sonia lauter als nötig. »Er ist außer Landes.«
Garth war in der Woche zuvor nach Australien geflogen. Garth war Maler. Er hatte Ausstellungen in Amerika, Australien, England, Deutschland, Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, Mexiko, China und Indien. Er war mit einem großen Auftrag für ein Weingut in der Nähe von Melbourne beschäftigt. Drei Wandgemälde und ein komplizierter Fußboden. Das Fußbodenmuster basierte auf einem Gemälde von Garth und bestand aus dünnen Holzscheiben eines hundertundzehn Jahre alten Eukalyptusbaums, versetzt mit kleinen Flußkieseln und in Zement gegossen.
Garth malte jeden Tag. Sieben Tage in der Woche. Er malte tagsüber und arbeitete oft nachts in seinem Atelier. Das Wichtigste in Garths Leben, dachte Ruth, waren seine Bilder und sie. Alles andere mußte sich das teilen, was übrigblieb.
Von sich selbst konnte sie das nicht behaupten. Sie liebte Wörter. Sie liebte es, Sätze zu bilden. Wenn sie schrieb, war sie glücklicher als bei jeder anderen Tätigkeit, mochte das Thema noch so zäh sein. Trotzdem hatte sie sehr viel Freiraum für Zweifel, Sorgen, Ängste und für ihre drei Kinder. Sie war eine überängstliche Mutter gewesen. Immer wieder erklärte sie ihrem Sohn, daß er als Kleinkind besser weniger von ihr bemuttert worden wäre. Er lachte darüber. Aber sie meinte es ernst. Niemand konnte eine Mutter brauchen, die sich ständig um einen kümmerte. Die einen betüttelte und nachfragte und diskutierte und zuhörte. Unaufhörlich. Und überflüssig.
»Weißt du, was für ein Glück du mit ihm hast?« hatte eine Frau nach der anderen über Garth zu Ruth gesagt. »Weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast?« hatte erst kürzlich auf einer Cocktailparty eine Frau dauernd wiederholt. Die Wiederholung hatte Ruth den Eindruck vermittelt, sie wäre sichtlich und unheilbar krank. Als ob sie nichts als eine Last wäre, wenn nicht gar ein offenkundiger Fall für die Fürsorge. Soweit sie wußte, hatte noch nie jemand zu Garth gesagt, was für ein Glück er mit ihr hatte. Sicherlich war sie der Ansicht, daß es ein Glück für sie war, Garth zu haben. Er war sehr klug und sehr nett. Und sehr lustig. Vielleicht hatte sie Glück, überhaupt jemanden zu haben. Als Teenager hatte sie im Leben nicht damit gerechnet. Es war komisch, daß solche Empfindungen einen nie verließen. Daß der dicke Teenager nie verschwand. Garth sagte oft zu ihr, welches Glück es für ihn war, sie zu haben. Sie war ihm immer dankbar, daß er so dachte.
Garth würde vermutlich ein halbes Jahr lang fort sein. Die längste Zeit, die sie je in ihren fünfundzwanzig Jahren Zusammenlebens getrennt waren. Normalerweise nahm er ihr die Ängste. Er betrachtete die meisten Möglichkeiten und Ereignisse als verheißungsvoll. Er war zwar erst seit einer Woche fort, aber Ruth war es wie eine sehr lange Woche erschienen. Am Telefon konnte sie nicht richtig mit ihm sprechen. Garth war kein guter Telefonierer. Er mochte das Telefon nicht. Im unmittelbaren Umgang war Garth gesprächig, wortgewandt, überschwenglich und liebevoll. Am Telefon verwandelte er sich in einen Buchhalter oder Versicherungsangestellten. Einen freundlichen Buchhalter oder Versicherungsangestellten. Er sprach mit jedermann im gleichen munteren, fröhlichen Ton. Ruth eingeschlossen. Garth wirkte, als freue er sich über den Anruf und darauf, das Gespräch zu beenden. Ausnahmslos. Ruth hatte vor langer Zeit gelernt, daß es wenig Sinn hatte, mit Garth am Telefon über ihre Arbeit, über die Kinder, über ihren Vater oder irgendein anderes Thema ausführlich sprechen zu wollen. Garth fehlte ihr.
»Ich weiß, daß er außer Landes ist«, sagte Ruth zu Sonia. Sie schwieg. »Ich versuche, mich zu beherrschen und ihn nicht alle fünf Minuten anzurufen«, sagte sie.
»Sehr gut«, sagte Sonia.
»Aber es gelingt mir nicht«, sagte Ruth. »Gestern habe ich ihn siebenmal angerufen. Ist nicht schlimm«, sagte sie, bevor Sonia etwas sagen konnte, »ich kam nicht durch. Es war jedesmal die Mailbox. Ich habe keine Nachricht hinterlassen.«
Ruth wurde verlegen. Sie beschloß, kein weiteres Wort über die wiederholten Anrufe zu verlieren. Sie ging auf die Toilette.
»Soll ich dich anrufen, wenn ich Termine für die Frauengruppe ausmache?« fragte Ruth, als sie das Coco’s verließen.
»Unbedingt«, sagte Sonia.
Ruth ging die Broome Street entlang. Sie ging gerne zu Fuß. Sie ging sooft sie konnte zu Fuß. Das Gehen gab ihr Zeit zu denken. Es gab ihr Ruhe. »Einen schönen Tag, du Arschloch«, rief eine Frau an der Ecke der Mercer Street einem Mann nach, der sie in der Eile, ein Taxi zu erwischen, angerempelt hatte. »Diese Stadt ist irre, krank, kaputt«, rief die Frau, an niemand Besonderen gerichtet.
Ruth empfand ein Glücksgefühl. Es war noch immer eine Erleichterung, wieder zu hören, daß Leute sich über New York beschwerten. Jedermann beschwerte sich. Ruth eingeschlossen. Sie beschwerte sich über den Lärm, den Verkehr, die Preise, das Gedränge, den Streß. Die Beschwerden über die Stadt waren am 11. September 2001 verstummt. Die Beschwerden hatten sich verflüchtigt. An den Tagen nach dem 11. September sahen die Leute auf den Straßen aus, als wäre ihnen das Herz gebrochen. Man konnte sehen, was die Leute empfanden. Man konnte sehen, wer sie unter den Masken waren, mit denen sie sich voreinander versteckten. Es war nachgerade schockierend, zu sehen, was jeder empfand. Die Anonymität und Unsichtbarkeit der Leute um einen herum war verschwunden. Man sah durch den Lippenstift, den Straßenanzug, die Aktentasche, die Jeans oder den Chanel-Mantel hindurch. Man sah die Todesangst auf den Gesichtern der Leute. Man sah Zärtlichkeit. Man sah Verletzlichkeit. Man sah Liebe. Man sah, wer die Leute wirklich waren.
Wer die Leute waren, das hatte Ruth einen Großteil ihres Lebens über beschäftigt. »Man kann nie wissen, wozu Leute fähig sind«, hatte Rooshka Rothwax, ihre Mutter, immer wieder zu ihr gesagt. Rooshka und Edek, Ruths Vater, waren fünf Jahre lang im Ghetto von Lodz gewesen, bevor sie nach Auschwitz deportiert worden waren. Ruth wußte, daß ihre Mutter tatsächlich erfahren hatte, wer jemand war. Daß sie tatsächlich erfahren hatte, wie Leute waren.
In der Zeit unmittelbar nach dem 11. September waren die Umsätze von Rothwax Correspondence dramatisch eingebrochen. Wochenlang lief das Geschäft mau. Eigentlich monatelang. Ruth hatte den Eindruck, daß die Leute begonnen hatten, sich selbst zu artikulieren. Persönlich. Daß sie ein besseres Verhältnis zu ihren eigenen Gefühlen gefunden hatten. Sie hatte den Eindruck, daß die Leute nach dem 11. September ein größeres Bedürfnis nach Nähe, nach Unmittelbarkeit hatten. Das Bedürfnis, mit ihren eigenen Worten zu kommunizieren, nicht mit geliehenen. Konzernchefs und Chefs kleiner Firmen, Hausfrauen, Ökonomen, Bankiers, Gabelstaplerfahrer, Ärzte, oft genug Leute, die noch nie in ihrem Leben ein Gedicht gelesen hatten, schrieben plötzlich Lyrik. Und ihre eigenen Briefe. Worte, das war Ruths Eindruck, waren persönlicher geworden. Für sie waren Worte immer etwas Persönliches gewesen. Etwas Wesentliches. Wer bei Eltern aufgewachsen war, deren Englisch eine Art Pidgin war, wußte, wie entscheidend das richtige Wort war.
Ruth hatte auch das Gefühl, daß nach dem 11. September manches, was vorher so bedeutend erschienen war, unbedeutend geworden war. Kleine und große Ärgernisse waren unwichtig geworden. Fast als gäbe es sie nicht. Feindseligkeit, Abneigung, Unverträglichkeit und Reizbarkeit hatten sich merklich verringert. Nachbarn sprachen miteinander. Kollegen kümmerten sich um ihre Kollegen. Familien wirkten vereint. Es war nicht von Bestand. Nach drei, vier Monaten kehrte alles in den gewohnten Trott zurück. Rothwax Correspondence konnte sich nicht mehr über Mangel an Aufträgen beklagen. Ruth mußte eine Menge Kondolenzbriefe anläßlich des 11. Septembers verfassen. Ihre Kunden wollten in allen möglichen Geschäfts- und Privatschreiben an das tragische Geschehen anknüpfen. Auch in anderen Bereichen kehrte Normalität ein. Oder das Gegenteil von Normalität. Drei Jahre nach dem 11. September schienen alte Vorurteile tiefer zu sitzen als je zuvor. Alte Animositäten hatten sich verfestigt und gesteigert. Und Vertrautheit zwischen den Leuten schien so abwegig und unmöglich zu sein wie bisher.
Ruths Vertrautheit mit ihrem Vater war gewachsen. Der siebenundachtzigjährige Edek Rothwax war vor fünf Monaten von Melbourne in Australien nach New York gezogen. Es war sein Wunsch gewesen. Er wollte seiner Tochter Ruth näher sein. Sie hatte ihm gesagt, daß es nicht leicht sein würde. Daß er einsam wäre in New York. Daß er keinen seiner Freunde in seiner Nähe haben würde. »Ich habe keine Freunde«, hatte er erwidert. »Mit wem verkehre ich schon?« Ruth hatte mehrere Leute aufgezählt. »Das sind keine Freunde«, hatte Edek gesagt. »Das sind Leute, mit was ich spiele Karten.«
»Ich bin noch gesund und kräftig«, sagte Edek. »Ich kann dir in deiner Firma helfen. Ich kann immer noch Pakete austragen und bestellen die Sachen, was du benötigst. Ich kann dir erleichtern die Arbeit.« Bei der Vorstellung, wie Edek ihr das Leben erleichterte, hatte Ruth Atembeklemmungen bekommen.
Ihre Vorahnungen hatten sie nicht getrogen. Edek stiftete Unordnung in ihrer Firma, um nicht zu sagen: Chaos. Er hatte sich selbst zum Leiter dessen ernannt, was er als »Vorwärtsabteilung« bezeichnete. Ruth hatte ihm zu erklären versucht, daß er für die Vorräte an Papier und dergleichen mehr zuständig sei und daß das nichts mit der jüdischen Zeitung Der Forverts zu tun habe. »Richtig«, hatte er geantwortet, »ich bin die Vorwärtsabteilung.« Ruth hatte nicht insistiert. Edek war schlicht nicht zu bremsen. Er kam jeden Tag ins Büro. Vor Ruth. Sogar vor Max, der zweiunddreißigjährigen Mitarbeiterin, die seit fast elf Jahren für Ruth arbeitete.
Edek bestellte von allem zu viel. Er bestellte zwölf Kartons Papier für den Laserdrucker. Jeder Karton enthielt acht Ries Papier. Und jedes Ries bestand aus fünfhundert Blatt Papier. Summa summarum 48 000 Blatt. In der Woche darauf bestellte er weitere zwölf Kartons. Rothwax Correspondence benötigte nicht annähernd soviel Papier. Sie machten von jedem Brief nur zwei Ausdrucke, und fast ein Drittel der Briefe, die sie verfaßten, wurde mit der Hand geschrieben. Tara McGann, eine Doktorandin an der Columbia University, saß nachts im Büro und schrieb die Briefe. Sie hatte eine schöne Handschrift. Lesbar obendrein. Und sie verschrieb sich nie. Ruth hoffte, daß es noch einige Jahre dauern würde, bis Tara McGann ihre Promotion in der Tasche hatte.
Edek bestellte am liebsten aus dem Katalog. Er bestellte für sein Leben gern. Er bestellte Notizbücher mit Spiralbindung. Zu Hunderten. »Ich kann sehen, daß du die ganze Zeit notierst in solchen Notizbüchern die Sachen, was du dir willst merken«, sagte er, als Ruth ihn zur Rede zu stellen versuchte. Sie verkniff sich die Bemerkung, daß sie solche Notizbücher nur benutzte, wenn sie nicht im Büro war. Im Büro benutzte sie Notizblöcke. Ganz normale Notizblöcke. Rothwax Correspondence hätte eine weltumspannende Firmenkette sein müssen, um Verwendung für die Unzahl von Notizbüchern mit Spiralbindung zu haben, die Edek bestellt hatte. Und die Notizbücher hatten gelbes Papier. Ruth haßte es, auf gelbem Papier zu schreiben.
Mit Mühe und Not konnte Ruth verhindern, daß Edek Stifte mit ihrem Firmennamen orderte. Er hatte sie gefragt, welcher Slogan ihr für die Stifte am besten gefiele. Sein Vorschlag war gewesen: »Rothwax Correspondence für die Briefe von Jedermann«. »Ich finde, das wäre sehr gut für das Geschäft«, hatte er gesagt, und er sah gekränkt aus, als Ruth entschieden antwortete: »Nein, das wäre es nicht.« Innerhalb weniger Tage hatte er sich von diesem Schlag erholt. Und bestellte weiter. Er bestellte die absonderlichsten Dinge. Er bestellte einen Staubsauber mit integriertem Navigationssystem. Man drückte auf einen Knopf, und der Staubsauger sauste über den Fußboden.
»Teppichboden haben wir nur in einem einzigen Zimmer«, hatte Ruth gesagt, »und das ist die Abstellkammer.«
»Aber diese Maschine ist enorm zeitsparend«, hatte Edek geantwortet. »Niemand muß sie bedienen. Sie bewegt sich von allein. Diese Maschine weiß, wann sie ist fertig mit dem Zimmer.« Auf der Verpackung des Navigationsstaubsaugers stand, er entferne Schmutz besser als jedes traditionelle Putzgerät. Ruth fragte sich, ob mit dem Begriff des traditionellen Putzgeräts ein Besen gemeint sein könnte. Edek liebte es, den Navigationsstaubsauger mehrmals am Tag in Gang zu setzen. Ruth konnte das Geräusch nicht ausstehen, mit dem der Staubsauger in der Abstellkammer saugte und putzte.
Edek half für sein Leben gern. In seinem Wunsch, zum Wohlergehen und Gedeihen von Rothwax Correspondence beizutragen, ließ er sich eine Menge Neuerungen einfallen. Er steckte den Stecker des Faxgeräts in die Telefonleitung der Firma. Bei seinem ersten Versuch legte er damit für zwei Tage alles lahm. Er schaltete den Spannungsschutz von zwei Computern aus. Er ordnete verschiedene Ablagesysteme neu und löschte ganz nebenbei eine Reihe Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Er unterbrach Ruth immer wieder in ihrer Arbeit. Am Vortag hatte er sie gefragt, ob ihnen schon die Büroklammern ausgingen, als ihr gerade eine gute Formulierung für die Glückwunschkarte eingefallen war, die sie als neuestes Produkt in ihren Katalog aufgenommen hatte. Sie wollte Edek nicht sagen, daß sie genug Büroklammern besaßen, um jedes der 48 000 Blatt Papier, die er gekauft hatte, mit den weiteren 48 000 Blatt zusammenzuklammern, die jeden Augenblick eintreffen mußten.
»Nein, die Büroklammern gehen uns noch nicht aus«, sagte Ruth zu Edek. Die Formulierung, die ihr eingefallen war, hatte sich verflüchtigt. Sie hätte nach den Worten kommen sollen, die lauteten: »Herzlichen Glückwunsch! Besser, Sie geben ihn auf als sich selbst.«
Das gehörte zu einer Kategorie von Glückwunschkarten, die Ruth unter der Rubrik »Frauen« eingeordnet hatte. Die Rubrik gehörte zu der größeren Rubrik »Beziehungen«, zu der weitere Unterkategorien zählten wie »Große Veränderungen«, »Nichts überstürzen« oder »Der richtige Weg«. Und Unterkategorien dieser Unterkategorien mit Bezeichnungen wie »Heirat«, »Scheidung«, »Chef«, »Kollegen«, »Partner«, »Arbeit«, »Entschluß«, »Konsequenzen«, »Verwandte«, »Haustiere«, »Nachbarn« und »Entscheidungen«.
Daß ihr Vater sie am Denken hinderte, war nicht der beunruhigendste Begleitumstand der Erweiterung der Firma Rothwax Correspondence um die Person von Edek Rothwax. Eines Tages hatte Ruth den Fehler begangen, Edek zu bitten, eine Handvoll Briefe bei einem ihrer besonders wohlhabenden Kunden abzugeben. »Ist der Chef da?« hatte Edek den Assistenten des Chefs gefragt, als er mit den Briefen erschien. »Ich bin der Vater von Ruthie Rothwax«, hatte er hinzugefügt. »Ich bin der Vater von Ruthie Rothwax«, hatte er wiederholt, als der Kunde aus seinem Büro gekommen war. Nach ein paar Minuten Smalltalk hatte Edek den Kunden Mr. Bregman von Bregman Capital Ventures gefragt, ob er schon einmal in Israel gewesen sei. Mr. Bregman hatte verneint. Daraufhin hatte Edek ihm erklärt, daß die meisten australischen Juden Israel besucht hätten. In aller Ausführlichkeit hatte Edek erklärt, daß australische Juden pro Kopf mehr Geld für Israel spendeten als alle anderen Juden der Welt. Und daß ein großer Prozentsatz aller australischen Juden Israel besucht hatte. Aber nur ein sehr geringer Prozentsatz amerikanischer Juden. »Ich finde, daß alle Juden haben eine große Verantwortung, Israel zu besuchen«, hatten Edeks Schlußworte gelautet. All das hatte Ruth von Mr. Bregmans Assistenten erfahren, der angerufen hatte, um zu sagen, daß die Briefe gebracht worden seien. Der Anruf hatte Ruth überrascht. Die wenigsten Kunden riefen an, um das Eintreffen ihrer Briefe zu bestätigen. Mr. Bregman schon gar nicht.
»Hat Ihr Vater die Briefe gebracht?« fragte Mr. Bregmans Assistent.
»Ja«, sagte Ruth.
»Ach so«, sagte der Assistent. »Wir dachten schon, es wäre vielleicht irgendein Betrüger.« Dann hatte Ruth alles übrige erfahren.
»Ich werde ihn als Kunden verlieren«, sagte Ruth zu Edek, als er zurückkam. »Außerdem sind wir nicht dafür zuständig, die Welt zu verändern.«
»Wofür denn sonst?« fragte Edek.
»Wir tun unsere Arbeit«, sagte Ruth. »Wir verdienen Geld.«
»Wir haben schon genug Geld«, erwiderte Edek.
Darüber hatte Ruth keinen Streit vom Zaun brechen wollen. Sie hatte nicht darauf hinweisen wollen, daß sie seit Jahren Edeks Unterhalt finanzierte. Was wesentlich kostspieliger war, seit er eine Einzimmerwohnung an der Second Avenue bewohnte, als zu Melbourne-Zeiten. Teilweise mußte sie Edek insgeheim recht geben. Vermutlich hatte sie genug Geld. Sie hatte genug Geld, um ein großes Loft in SoHo und ein Ferienhaus zu besitzen. Sie hatte genug Geld, um alle Bücher zu kaufen, die sie haben wollte, und so oft ins Theater zu gehen, wie sie wollte, und um zu reisen.
»Ich werde ihn als Kunden verlieren«, wiederholte sie.
»Schmonzes«, hatte Edek geantwortet.
Ruth wünschte, sie könnte etwas finden, was Edek interessierte, irgendeine Art von Zeitvertreib. Etwas, womit er sich beschäftigen konnte. Aber er hatte nie ein echtes Hobby gehabt. Kein einziges. Sofern man das Essen nicht als Hobby betrachtete. Ruth fand nicht, daß man das ernsthaft als Hobby durchgehen lassen konnte.
Ihr Vater spielte gern Rommé. Sie hatte ihm vorgeschlagen, einem jüdischen Rentnerclub beizutreten. »Wozu? Um ab und zu mit anderen altes Kackes Karten zu spielen? Ich helfe dir lieber in deiner Firma«, hatte er gesagt. »Auf diese Weise bin ich dir nützlich«, hatte er hinzugefügt, falls es ihr noch nicht klar gewesen sein sollte.
Ruth atmete tief ein. Sie hatte ihr Büro fast erreicht. Sie nahm an, daß ihr Vater bereits da war und Pläne für die Mittagspause machte. Den ganzen Vormittag über erkundigte Edek sich regelmäßig nach der Mittagspause. Ruth erklärte ihm immer wieder, daß Rothwax Correspondence weder eine Schule noch eine Fabrik war, wo es festgesetzte Zeiten für die Mittagspause gab. Sie mußten flexibel sein. Sie machten Mittagspause, wenn sie Hunger oder Zeit hatten.
Als nächstes fragte Edek Max und Ruth, was sie zum Mittag essen wollten. Zum erstenmal fragte er gegen zehn Uhr vormittags. Niemand sonst im Büro machte sich um diese Tageszeit Gedanken über die Mittagspause. Wahrscheinlich sogar niemand sonst in ganz Manhattan. Edek ging gerne den Lunch holen. Max, die am liebsten im Büro aß, freute sich, wenn Edek ihr etwas zu essen mitbrachte. Dadurch hatte sie mehr Auswahl. Sie konnte jetzt bei Whole Foods oder der Balthazar Bakery oder sogar bei Olivier’s Asian Rice Bar bestellen, das gut und gerne zehn Häuserblocks entfernt war.
Edek war kein Weg zu weit und kein Taxi zu kostspielig, wenn es darum ging, den Lunch zu holen. Damit das warme Essen warm blieb, fuhr er selbst dann mit dem Taxi zurück, wenn er ganz in der Nähe des Büros war. Für sich selbst kaufte er gern in einem Feinkostgeschäft an der Duane Street Lasagne oder Spaghetti Bolognese oder überbackene Makkaroni. Dort konnte er sich selbst bedienen und soviel nehmen, wie er wollte. »Ich habe zu viele Lasagne gegessen« (oder Spaghetti oder Ravioli), sagte er jedesmal anschließend zu Ruth und hielt sich den Bauch. »Aber es war sehr gut«, fügte er hinzu, bevor er mehrere Nuß- oder Schokoriegel verspeiste.
Wenn Ruth morgens zur Arbeit kam, saß Edek oft in ihrem Büro und blätterte in Aktenordnern. Oder er plauderte mit Max. Edek gab Max gern Ratschläge. Über das Leben und die Liebe oder über Wohnungen und die U-Bahn. Er erzählte ihr aus seinem Leben, und sie saß da wie gebannt und nahm den Hörer nicht ab, wenn das Telefon klingelte. Sobald Edek Ruth erblickte, sprang er auf und verließ den Raum. Er lief mit den kurzen, abrupten, schnellen Schritten, mit denen er sein ganzes Leben lang gelaufen war. Er verschwand in die Abstellkammer. Oder auf die Toilette oder in die Teeküche. »Ich bin schon fertig«, sagte er, während er davonlief. »Ich will nicht im Weg sein«, fügte er hinzu.
»Ihr Vater ist großartig«, sagte Max mehrmals täglich.
Wenn Ruth Max nicht so dringend im Büro benötigt hätte, wäre Max genau die richtige Gesellschaft für Edek gewesen. Sie konnten sich den ganzen Tag unterhalten. Max redete sehr gerne. Max konnte sich über die einfachsten Dinge sehr umständlich äußern. Jahrelang hatte Ruth Max eingebleut, sich kürzer zu fassen. »Schnitt, Max, Schnitt«, sagte Ruth, wenn Max Dutzende von überflüssigen Wörtern verwendete, um zu erklären, was sie sagte. »Es dauert nur eine Minute«, pflegte Max zu sagen, wenn sie Ruth unterbrach, »es dauert nur eine Minute, ich muß nur Mr. X zurückrufen und die Rechnungen rausschicken, bevor die Post schließt.« Oder weil der Schlosser sich angemeldet hatte oder der Kammerjäger oder der Fensterputzer. Edek fand nicht, daß Max sich zu wortreich ausdrückte. Er hörte sich alle Wörter an, die Max sagte, und fügte seine eigenen hinzu.
Ruth wünschte sich, Edek würde eine nette Frau kennenlernen. Eine Jüdin, die vielleicht Jiddisch sprach und sogar ein bißchen Polnisch. Ruth erwartete nicht, daß Edek der Liebe seines Lebens begegnete. Das war bereits geschehen. Er hatte Rooshka innig geliebt. Und lange. Ruth wünschte sich nur, daß ihr Vater eine Gefährtin fand. Jemanden, mit dem er ins Kino gehen konnte. Jemanden, mit dem er etwas unternehmen konnte. Jemanden, der ihm Gesellschaft leistete. Wenn sie jemanden fand, der dafür sorgte, daß Edek tagsüber beschäftigt war, dann wären ihre eigenen Tage weniger chaotisch.
Aber Edek war nicht interessiert. »Ich habe soviel Gesellschaft, wie ich nur will«, hatte er mehrmals gesagt. »Ich habe dich, das ist die Hauptsache, und ich habe Gatt.« Garth sprach er immer wie Gatt aus. »Und ich habe Zelda und Zachary und Kate, was sehr nette Enkelkinder zu mir sind. Nicht viele Leute haben sich solche nette Enkelkinder«, fügte er hinzu. »Ich habe jede Menge Gesellschaft. Du mußt dir machen keine Sorgen um mich. Ich bin hundert Prozent in Ordnung. Ich sollte mir machen Sorgen um dich. Du arbeitest viel zuviel. Und ich bin sehr glücklich, daß ich dir kann helfen bei deiner Arbeit.«
Ruth war ratlos. Aber sie hatte es nicht über sich gebracht, Edeks Selbstbewußtsein als Mitarbeiter von Rothwax Correspondence anzukratzen. Wenn er ihr berichtete, daß er Versandkuverts oder Wellpappe zu Sonderkonditionen ausfindig gemacht hatte, setzte sie eine erfreute Miene auf. Rothwax Correspondence hatte noch nie Wellpappe als Verpackungsmaterial verwendet. Ruth hoffte, daß die Rollen nicht zu groß waren. Sie bat Max, dem Lieferanten zu sagen, er solle die Rollen direkt in den Keller bringen. Ruth mußte die achtzig Quadratmeter Kellerraum, die zu ihrem Büro gehörten, allmählich benutzen. Bisher hatte sie sie nie gebraucht.
Ruth schlug Edek vor, sich einem Seniorenlesezirkel anzuschließen, von dem sie gehört hatte. Die Gruppe traf sich im East Village und stand in Verbindung mit den dortigen Temple-Beth-Zaddik. Edek hielt nicht viel von dieser Idee.
»Bist du blöd geworden?« fragte er.
»Ein Lesezirkel ist eine Gruppe von Leuten, die sich treffen, um sich über ein Buch zu unterhalten, das sie gelesen haben«, sagte Ruth. »Du erfährst, was andere Leute von dem halten, was in dem Buch steht, wie sie darüber denken, wie sie es interpretieren.«
»Denkst du, ich bin blöd?« sagte Edek. »Denkst du, ich könnte kein Englisch? Wozu sollte ich gehen zu so einer Gruppe, wo Leute diskutieren, was in dem Buch steht, was sie haben gelesen?«
Ruth sah ihn an. »Warum verstehst du nicht, was ich sage zu dir?« sagte er und rollte die Augen. »Ich lese am liebsten diese Kriminalbücher. Das weißt du. Du hast mich gesehen Kriminalbücher lesen fast mein ganzes Leben lang. Du hast mir solche Bücher gekauft oft genug. Und Zelda kauft mir noch mehr solche Bücher, als du es tust.« Ruth sah ihn noch immer verständnislos an. »Was passiert in solchen Büchern, was ich lese, das ist genau, was passiert«, sagte Edek. »Einer bringt um einen anderen, und dann ein anderer findet heraus, wer den anderen hat umgebracht. Manchmal einer erpreßt einen anderen oder mehrere. Und fast immer weiß man, wer ist dieser Erpresser, bevor man hat das Buch ausgelesen. Was passiert in dem Buch, ist genau das, was passiert. Es gibt nichts darüber zu reden. Vielleicht man kann sagen, ob es ist ein gutes Buch oder ein schlechtes Buch, aber man muß sich nicht extra treffen mit anderen, um zu sagen, ob ein Buch ist gut oder schlecht.«
Ruth nickte zustimmend. »Das war keine gute Idee von mir«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir dir einen Masseur besorgen. Regelmäßige Massagen würden dir sicher guttun.«
»So was ist nichts für mich«, sagte er und rannte aus dem Zimmer, um für Max Büroklammern aus der Abstellkammer zu holen.
»Du kannst nicht schwimmen«, sagte Ruth einige Tage später zu ihrem Vater. Edek sah sie an, als spräche sie Mandarin. »Ich dachte mir, du hättest vielleicht Freude am Schwimmunterricht«, sagte sie. »Vormittags gibt es solchen Unterricht im Y in der 92nd Street.«
Edek beäugte sie, als hätte sie den Verstand verloren. »Ich bin in meinem ganzen Leben nicht geschwommen«, sagte er. »Ich wollte nicht schwimmen als Junge in Polen, und warum sollte ich schwimmen wollen jetzt als alter Mann?«
Ruth hatte es im ersten Moment für eine gute Idee gehalten. Sie hatte sich vorgestellt, daß Edek es vielleicht genießen würde, schwimmen zu können, wenn sie Familienausflüge machten. Es war an den Haaren herbeigezogen und absurd. Aus vielen Gründen. Zum Beispiel weil Edek helle Haut hatte und sich schnell einen Sonnenbrand holte. Edek sah sie erwartungsvoll an. »Du hast recht«, sagte sie. »Warum solltest du schwimmen lernen wollen?«
»Gott sei Dank du kannst das einsehen«, sagte Edek. »Für so ein kluges Mädchen, was du bist, Ruthie, sagst du manchmal Sachen, was sind sehr wenig klug.«
»Du behandelst deinen Vater, wie manche Eltern in dieser Stadt ihre Kinder behandeln«, hatte Sonia erst kürzlich zu Ruth gesagt. »Sie wollen jeden Augenblick im Leben ihrer Kinder ausfüllen und planen. Die Kinder werden zum Tanzunterricht, zum Schwimmen und in Skikurse geschickt. Sie haben Flöten-, Posaunen-, Klavier- und Saxophonunterricht. Ein Instrument genügt nicht. Sie lernen Französisch, Italienisch, Spanisch, Japanisch. Zweisprachig ist für ein Kind in Manhattan heutzutage nicht mehr ausreichend. Man muß dreisprachig sein. Man muß einen persönlichen Fitneßtrainer haben und Kampfsport lernen, bevor man in die erste Klasse kommt. Sprachen muß man lernen, bevor man überhaupt sprechen kann, Tanzkurse besuchen, bevor man laufen kann. Man muß tanzen können, essen, schwimmen und Japanisch sprechen, während man mit dem Kindermädchen Spanisch und mit der Mutter Englisch spricht. Und man muß Bewerbungstaktiken beherrschen, um in die Vorschule aufgenommen zu werden.«
»Warum muß man Bewerbungstaktiken beherrschen, um in die Vorschule aufgenommen zu werden?« fragte Ruth.
»Um in die richtige Vorschule zu kommen«, sagte Sonia. »Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht um die Frage, warum du alle Leute manipulieren willst.«
»Ich will niemanden manipulieren«, sagte Ruth. Sie fand nicht, daß sie andere Leute manipulieren wollte. Sie wollte nur ihre Firma führen. Und ihren Vater glücklich sehen. Beides.
Am Vortag war Edek nach der Arbeit plötzlich sehr aufgeregt gewesen. »Sieh mal, die Frau da drüben«, hatte er gesagt und auf eine braungebrannte, nicht mehr ganz junge Blondine mit glänzender Haut, großem Busen und Stachelfrisur gedeutet, die den West Broadway entlangging. »Findest du nicht, daß sie aussieht wie Zofia?« hatte Edek gerufen. »Nicht so nett, wie Zofia aussieht, aber sehr ähnlich, wie Zofia aussieht.« Ruth und Edek hatten Zofia und deren Freundin Walentyna vor einem Jahr im Hotel Mimosa in Krakau kennengelernt. Edek war zum erstenmal seit mehr als fünfzig Jahren in Polen gewesen. Zum erstenmal, seit er nach Auschwitz deportiert worden war. Sein Zuhause in Lodz hatte er zum letztenmal als Dreiundzwanzigjähriger gesehen.
Edek hatte nie Interesse daran geäußert, Ruth auf einer ihrer zahlreichen Reisen nach Polen zu begleiten. Warum sie immer wieder hinfuhr, hatte er nicht begreifen können.
Auf ihrer ersten Reise nach Polen hatte Ruth zum erstenmal gesehen, woher ihre Eltern stammten. Sie hatte zum erstenmal die großen Mietshäuser und das kleine Stadtpalais gesehen, die den Eltern ihres Vaters gehört hatten. Sie hatte sich zum erstenmal in dem kleinen Innenhof aufgehalten, in dem ihre Mutter die Hausaufgaben gemacht hatte. In diesem Hof hatte Rooshka davon geträumt, Kinderärztin zu werden. Ruth war immer wieder die Wege gegangen, die ihre Mutter auf dem Schulweg und auf dem Nachhauseweg gegangen war. Sie hatte auf dem Balkon der Wohnung gestanden, in der ihr Vater aufgewachsen war. Auf dem Balkon, von dem aus der Vater ihres Vaters seinen jüngsten Sohn im Auge behalten hatte, um sicherzugehen, daß er seine Jarmulke trug, wenn er aus der Schule kam. Edek hatte Ruth erzählt, daß er seine Jarmulke immer aufgesetzt hatte, bevor er um die Ecke kam und in die Ulica Zakatna einbog. Ruth hatte an dieser Ecke gestanden. Und geweint. Sie hätte am liebsten den Flügel gekauft, der noch immer in der Wohnung stand, die Sofas und die Sessel. Und das Bett. Alles war noch da.
Und vor einem Jahr hatte Edek plötzlich ganz unerwartet zu Ruth gesagt, er wolle mit ihr nach Polen fahren. In Polen war Ruth ihrem Vater nicht von der Seite gewichen. Sie wollte nicht, daß er in Polen eine Sekunde lang allein war. Sie wollte nicht, daß er sich allein vorkam.
Edek und Ruth hatten in Krakau im Speisesaal des Hotels Mimosa, in dem sie wohnten, gefrühstückt, als Ruth auffiel, daß Zofia und Walentyna sie beobachteten. Ruth hatte den beiden grüßend zugenickt. Edek hatte aufgeblickt und sie angelächelt. Beide hatten zurückgestrahlt. Von da an, so war es Ruth erschienen, waren ihnen Zofia und Walentyna auf Schritt und Tritt gefolgt. Jedenfalls im Hotel. Sie begegneten ihnen im Aufzug, auf der Treppe, an der Rezeption, im Speisesaal und im Foyer.
Am Abend von Edeks und Ruths zweitem Tag im Hotel Mimosa war Zofia zu ihnen gekommen und hatte sich und Walentyna vorgestellt. Zofia richtete jedes Wort, das sie sagte, an Edek. »Sie und Ihre Tochter müssen etwas mit uns trinken«, hatte sie gesagt. »Sie sehen beide aus wie sehr interessante Leute. Oder hätten Sie und Ihre Tochter vielleicht Lust, heute abend einen Spaziergang durch Krakau zu machen?« hatte sie gesagt, wieder an Edeks Adresse. »Ich und Walentyna, wir kommen aus Zoppot und sind schon seit ein paar Tagen in Krakau, und wir kennen alle schönen Stellen von Krakau.«
Edek, der kein Freund ausgedehnter Spaziergänge war, solange sie nicht damit verbunden waren, daß man essen ging oder etwas zu essen besorgte, nickte und sah Ruth an.
»Es wäre uns ein Vergnügen«, sagte Ruth. »Aber leider haben wir heute abend verschiedenes zu erledigen und können Sie deshalb nicht begleiten.«
»Was ist das, was wir müssen erledigen?« fragte Edek Ruth.
»Wir müssen unsere Fahrt nach Auschwitz besprechen«, sagte Ruth.
»Die haben wir schon besprochen«, sagte Edek.
Das Wort Auschwitz brachte die zwei Polinnen zum Verstummen. »Das ist ein schrecklicher Ort«, sagte Walentyna, die stillere der beiden.
»Das weiß mein Vater«, sagte Ruth.
»Hätten Sie vielleicht Lust, morgen mit uns spazierenzugehen?« sagte Zofia.
Bevor Edek antworten konnte, hatte Ruth gesagt: »Das ist gut möglich« und ihren Vater am Arm ergriffen. »Auf Wiedersehen«, hatte sie gesagt und war mit ihm gegangen.
»Auf Wiedersehen«, hatte Edek hastig und ein wenig verstört gerufen.
»Sie sehen aus wie zwei sehr nette Frauen«, hatte Edek zu Ruth gesagt.
»Sie sind sicher in Ordnung«, hatte Ruth geantwortet und dann das Thema gewechselt.
Jetzt blickte Ruth zu der Frau auf dem West Broadway, auf die Edek deutete. Eine leichte Ähnlichkeit mit Zofia war zu erkennen. Mehr nicht. Diese Frau war wesentlich zierlicher. Zofia war weitaus kräftiger. Nicht dick. Nur kräftig. Sehr kräftig. Sie sah kräftig und robust aus. Zofia hatte riesige Brüste. Einen kraftvollen Händedruck. So kraftvoll wie ihr Auftreten. Die Frau auf dem West Broadway trug einen kurzen, engen Rock. Zofia schien immer nur kurze, enge Röcke und tiefe Dekolletés zu tragen. Dekolletés, die von Tag zu Tag gewagter wirkten. Eins tiefer als das andere.
»Warum denkst du an Zofia?« fragte Ruth Edek.
»Ich denke nicht an Zofia«, erwiderte Edek. »Ich habe nur eben eine Frau gesehen, was mich hat erinnert an Zofia, das war alles.«