Der Außenseiter (Band 1)
Das Gesetz der Savanne (Band 2)
Die Steppe vereint sich (Band 3)
Jagende Schatten (Band 4)
Goldene Wölfe (Band 5)
Hinter dem Namen Erin Hunter verbirgt sich ein ganzes Team von Autorinnen. Gemeinsam konzipieren und schreiben sie die erfolgreichen Tierfantasy-Reihen WARRIOR CATS, SEEKERS, SURVIVOR DOGS und BRAVELANDS.
Besonderen Dank an Gillian Philip
Noch war das Wasser still und grün, die Oberfläche von den sich jagenden Schatten überhängender Zweige gesprenkelt. Schluckmaul, der weiße Pelikan, paddelte träge durch die Untiefen und hielt Ausschau nach Bewegungen unter ihm. Seine Brüder und Schwestern waren eifrig am Fressen, steckten ihre Köpfe unter Wasser und schaufelten Fische in ihre Schnäbel. Schluckmaul erspähte im düsteren Wasser einen silbrigen Fisch, spreizte seine Flügel und tauchte nun ebenfalls mit dem Kopf unter.
Er hatte einen dicken, köstlichen Fisch gefangen. Schluckmaul warf seinen Kopf nach hinten und schluckte ihn herunter, ließ dabei aber das Ufer wegen möglicher Gefahren nicht aus den Augen. Alles blieb still. Was für ein schöner Tag: Die Sonne schien heiß aus dem beinahe wolkenlosen Himmel auf die Wasserstelle, eine sanfte Brise kitzelte ihn unter den Federn. Am Ufer grasten Weidetiere. Sie wühlten den Schlamm auf, schnippten mit ihren Schwänzen und verscheuchten die Fliegen von ihren Augen. Zwei Zebrastuten kratzten sich mit den Zähnen gegenseitig über den Rücken und putzten einander. Ein Büffel tapste träge schenkeltief ins Wasser und genoss die wohltuende Kühle. Ein Stückchen weiter, dort, wo das Wasser etwas tiefer war, suhlte sich eine Herde von Flusspferden. Sie entblößten gähnend ihre Zähne und tauchten hin und wieder unter, um auf dem Grund des Sees zu weiden.
Eigentlich hatte Schluckmaul keine Angst vor Großtieren, trotzdem hielten er und die Seinen Abstand von den Flusspferden. Und vor den Krokodilen mussten sie sich wirklich in Acht nehmen. Am nahen Ufer sonnten sich ein paar dieser großschuppigen Raubtiere und suchten mit ihren kalten Augen den See nach unachtsamer Beute ab. Schluckmaul hatte mehr als einmal zusehen müssen, wie ein Pelikan von einem Krokodil geschnappt, unter Wasser gezogen und gefressen worden war. Er streckte seine Flügel aus, tauchte nach einem weiteren Fisch und sah beim Auftauchen wieder zu den Krokodilen hinüber.
Plötzlich wurde er von einem hohen Dreiklang abgelenkt, er schaute nach oben, das Wasser rann in kleinen Bächen von seinem Gefieder. Eine kleine, pfeifende Ente flatterte über ihm. Sie hatte sich aus ihrer Schar gelöst und näherte sich den Pelikanen. Ihr weißes Gesicht leuchtete hell.
»Habt ihr es schon gehört?«, quakte sie. »Es gibt einen neuen Großen Vater!«
Schluckmauls Herz klopfte aufgeregt, sein Geschwader versammelte sich um ihn und alle starrten zu der Ente hinauf. Bravelands hatte schon so lange keinen Großen Anführer mehr gehabt. Seit dem Tod der Großen Elefantenmutter hatte es nur Falsche Anführer gegeben – erst das Nashorn Dickhaut, dann der böse Pavian Stachel, der Dickhaut betrogen und vernichtet und sich dann selbst zum Großen Vater gemacht hatte.
Sollte endlich ein wahrer Großer Vater gefunden worden sein, der den Geist von Bravelands in sich trug? Schluckmaul wagte kaum, daran zu glauben.
»Wirklich? Bist du sicher?«, rief er nach oben.
»Es ist wahr, wahr, wahr!«, pfiff die kleine Ente. »Wir haben es von einem Storch erfahren!«
»Einem Storch?« Schluckmauls Freund Kelle legte zweifelnd den Kopf auf die Seite. »Einem Storch würde ich nicht trauen.«
»Das wäre ein Fehler!«, trillerte die Ente. »Der Storch hat es von einem Milan und der von einem Geier und Geier lügen niemals!«
»Da hast du recht«, erwiderte Schluckmaul und sah Kelle aufgeregt an. »Geier lügen niemals!«
»Dann ist es also wahr!«, rief Kelle. »Nach so langer Zeit!«
»Wahr, wahr, wahr«, quakte die Ente und flatterte in einer Wolke aus Flügeln mit ihrer Schar davon, um anderen Vögeln die Nachricht zu überbringen. »Sagt es weiter!«
»Das ist zu schön, um wahr zu sein«, rief Kelle aus. »Ein neuer Großer Vater!«
»Ich glaube den Enten«, erklärte Schluckmaul fröhlich. »Wenn die Nachricht von den Geiern stammt, sollten wir feiern.«
»Hoffentlich stimmt das auch«, sagte der kleine Schöpfling. »Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, dass wir jemals von einem Großen Anführer geleitet wurden. Ist das denn so wichtig?«
»Es verändert das ganze Leben!«, erwiderte Schluckmaul. »Ein Großer Anführer leitet, gibt Rat und schlichtet Auseinandersetzungen. Bravelands wäre alle Probleme auf einen Schlag los!« Er wühlte die Wasseroberfläche mit seinem riesigen Schnabel auf. »In der letzten Zeit ist alles in Unruhe geraten. Du wirst sehen, Schöpfling, dass wir …«
»Schluckmaul! Pass auf!« Kelle richtete sich auf und schlug wild mit den Flügeln.
Schluckmaul sah sich aufgeregt um, ein riesiger, schuppiger Rücken trieb auf ihn zu. Hektisch ruderte er davon, schlug kräftig mit seinen Flügeln und erhob sich, Warnschreie ausstoßend, aus dem Wasser.
Doch das Krokodil tauchte nicht unter, um hinterrücks anzugreifen, und es schoss auch nicht aus dem Wasser, um zuzuschlagen. Als die verängstigten Pelikane in einem Gestöber aus weißen Flügeln in sicherem Abstand auf das Krokodil hinabblickten, schwamm es einfach ziellos weiter.
»Seht nur! Seine Augen!«, krächzte Kelle erschrocken.
Schluckmaul glitt wieder ins Wasser und paddelte vorsichtig näher. Kelle hatte richtig beobachtet. Jetzt, da das Krokodil im seichteren Wasser trieb, konnte Schluckmaul sehen, dass seine Augen milchig und leblos waren. Die kurzen Beine hingen leblos im dunklen Wasser.
»Es ist tot.« Erleichtert klapperte er mit seinem Schnabel, als der Krokodilkadaver an das Ufer stieß.
Nun kamen auch die anderen Pelikane neugierig näher. Ein Pelikan würde niemals ein totes Krokodil betrauern, trotzdem fragte sich Schluckmaul, wodurch es zu Tode gekommen war. Das Krokodil sah noch jung aus, und es war ziemlich groß, in der Blüte seines Lebens. Vorsichtig stupste er mit seinem Schnabel den harten Schuppenpanzer an, aber es rührte sich nicht.
»Ich habe noch nie ein so großes Krokodil gesehen«, bemerkte Kelle ängstlich.
»Ich fürchte mich nicht«, krähte der kleine Schöpfling und schwang sich in die Luft. Triumphierend landete er auf dem gezackten Rücken des Krokodils, schwankte aber etwas unsicher auf seinen Schwimmfüßen.
Unter seinem Vogelgewicht kam der tote Körper in Bewegung und drehte sich auf den Rücken, sodass der Unterbauch frei lag. Mit einem entsetzten Krächzen hob Schöpfling wieder ab, aber Schluckmaul achtete nicht auf ihn. Er hatte nur noch Augen für den Bauch des Krokodils.
Durch die dicke Haut zog sich eine klaffende Wunde. Nirgends waren getrocknete Blutklumpen – diese waren alle vom Wasser weggespült worden –, sodass Schluckmaul einen vollen Blick auf die Brusthöhle hatte.
Kelle schlug wild mit den Flügeln und verzog sich nach hinten, Schluckmaul klapperte hektisch mit seinem Schnabel.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte er leise.
Seine Schar flatterte und quiekte aufgeregt, er sah Entsetzen und Furcht in ihren Augen.
Und das war auch kein Wunder. Seine eigenen Federn sträubten sich und ihn fröstelte vor Grauen.
Ich hoffe, der neue Große Anführer kommt wirklich, dachte er. So vieles ist schlecht und in Unordnung geraten.
Es schien, als wäre in Bravelands ein neues, schreckliches Zeitalter angebrochen. Es würde einen sehr fähigen Großen Anführers erfordern, das Land wieder auf den richtigen Weg zu bringen.
Fassungslos zog Aurora die Luft ein. Es dauerte, bis sie wieder klar denken konnte. Hier oben, in der flachen Senke auf der Spitze des Berges, war die Luft dünn, und die Sonne prallte gleißend hernieder. Konnte sie ihren Augen wirklich trauen?
Aber warum sollte ihre Fantasie ihr einen so seltsamen, verblüffenden Anblick vorgaukeln? Ein Pavian, der mit leerem Gesichtsausdruck im heiligen Tümpel kauerte, um ihn herum Geier mit gekrümmtem Rücken, die ihre schwarzen Augen auf ihn richteten. Sie kannte den Pavian.
Aurora blinzelte unsicher. Zögernd streckte sie ihren zitternden Rüssel aus.
»Dorn?«
Seine Lider zuckten, dann öffnete er langsam seine Augen. Er sah sie ein wenig verwirrt an. Doch als sie überrascht seinen Blick erwiderte, hatte sie den Eindruck, dass eine stille Entschlossenheit von ihm ausging.
»Aurora Wanderer.« Seine Stimme schien von weit her zu kommen, aber sie war alles andere als schwach.
»Dorn … was geschieht hier?« Sie schlug verwirrt mit den Ohren. »Ich bin hergekommen, um den Großen Anführer zu finden. Ich muss mit ihm sprechen.«
Dorns dunkle Augen blickten sie eindringlich an, schienen bis in das Innerste ihres Seins vorzudringen. Aurora wurde von einem unbeschreiblichen, starken Gefühl ergriffen.
»Dann bist du an den richtigen Ort gekommen«, sagte Dorn ruhig. »Und zu dem richtigen Geschöpf.«
Aurora starrte ihn an, sie brachte kein Wort hervor. Meinte Dorn wirklich, was er sagte? Verstand er, was er da sagte?
Ja, natürlich tat er das. Ein Schauer lief über Auroras Rücken und sie war sich mit einem Mal ganz sicher: Alles passte zusammen.
Ich habe sein Leben gerettet, erinnerte sie sich. Sie hatte den jungen Löwen Heldenmut angegriffen, als er gerade dabei war, Dorn zu töten. Sie hatte aus einem plötzlichen Instinkt heraus gehandelt, als wäre sie von einer höheren Gewalt geleitet worden. Nun erkannte Aurora, dass der Große Geist die ganze Zeit ihr Tun bestimmt hatte. Der Große Geist hatte Dorn Hochblatt gebraucht und sich darauf verlassen, dass Aurora, die seit dem Tod von Großer Mutter den Großen Geist in sich getragen hatte, für ihn handelte.
War es nicht seltsam, dass der Große Anführer ausgerechnet ein Pavian war? Vor allem, dachte Aurora und schauderte innerlich, nachdem der Pavian Stachel, der Falsche Anführer, diese Rolle an sich gerissen hatte. Doch Bravelands machte immer noch schwierige Zeiten durch. Ein kluger, erfindungsreicher Pavian mochte das Land besser führen als ein stoischer Elefant.
Diese Gedanken brachten Aurora wieder auf den Grund, warum sie hergekommen war. Sie holte tief Luft, neigte ihren Kopf und schloss ihre Augen.
»Es gibt eine neue, schreckliche Gefahr für Bravelands«, sagte sie leise, »und du bist der Einzige, der sie abwehren kann.«
Aurora öffnete flatternd ihre Augen und sah ihn an. Ein eigenartiges Gefühl erfasste sie. Als seien die Probleme von Bravelands einen Augenblick lang nicht mehr so unüberwindbar. Sie empfand eine innere Ruhe, die das ganze Chaos, die Qualen, die schrecklichen Ängste seit der Ermordung von Großer Mutter ganz weit weg erscheinen ließ. Die Welt um sie herum – die Berge, die Felsen, der Himmel – pulsierten wie von einer leuchtenden Hoffnung erfüllt, und Aurora wusste, dass der Große Geist ihr wieder nahe war. Es fühlte sich ein wenig so an, als wäre die Familie zu ihr zurückgekehrt, die Familie, die sie geliebt und verloren geglaubt hatte.
Großer Geist, ich habe dich vermisst.
»Bitte hilf uns«, flehte sie Dorn an. Sie neigte ihren Kopf, dann sah sie ihn fest an. »Großer Vater.«
Dorn biss angespannt die Zähne zusammen und wirkte zum ersten Mal nicht mehr so gelassen. Kein Wunder, dachte sie. Dorn Hochblatt hatte eben erst die größte und furchteinflößendste Verantwortung von Bravelands auf sich genommen – und sie hatte ihm sofort eine Probe dieser schweren Bürde überbracht.
Dorn schüttelte sich und stieg aus dem Tümpel. Aurora stürzte vor und streckte ihm helfend ihren Rüssel entgegen. Die umstehenden Geier gerieten in Unruhe und sträubten besorgt ihre Federn, doch Dorn hielt sich unbeirrt an ihr fest.
»Auch ich habe den Großen Geist in mir getragen«, sagte sie und zog vorsichtig ihren Rüssel zurück, damit er auf eigenen Pfoten stehen konnte. Kein Wunder, dass er überwältigt ist, dachte Aurora, denn es ist eine Bürde, den Großen Geist in sich zu tragen, für einen Elefanten und erst recht für einen kleinen, aufgeregten Pavian. »Ich kann einigermaßen nachvollziehen, wie es dir geht, Dorn.«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. Seine Stimme klang rau, aber seine Augen waren voll Dankbarkeit.
»Du bist nicht allein«, sagte sie. »Ich werde dir helfen. Alle deine Freunde werden dir helfen.«
Dorn ließ seinen Kopf hängen und atmete ein paarmal tief ein. Als er seinen Blick wieder hob, lächelte er kläglich. Der junge Pavian sah sich selbst wieder viel ähnlicher.
»Wirklich, Aurora? Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Ich habe mich lange dagegen gesträubt – bis ich keine andere Wahl mehr hatte.« Er lächelte schief. »Aber ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Erzähle mir, was du mir berichten wolltest.«
Aurora seufzte. »In den vergangenen Jahreszeiten sind in Bravelands eigenartige Dinge geschehen. Das weißt du so gut wie jedes andere Tier, Dorn. Aber dies … dies ist eigenartiger als alles Gewesene und noch viel schrecklicher. Ein Rudel Goldener Wölfe treibt seit Kurzem sein Unwesen in Bravelands.« Sie zögerte. Wie sollte sie ihm das erklären?
»Sprich weiter«, drängte Dorn sie.
»Sie brechen das Gesetz.«
»In letzter Zeit haben viele Tiere das Gesetz gebrochen«, bemerkte Dorn.
»Aber das ist etwas anderes.« Aurora rührte mit ihrem Rüssel den weißen Staub auf, während die Geier sie weiter teilnahmslos ansahen. »Dorn, diese Wölfe töten Tiere, um ihnen ihre Seelen zu rauben.«
Er schaute finster und verwirrt drein »Sie tun was???«
»Sie fressen ihre Beute nicht – mit Ausnahme des Herzens. Die Wölfe glauben, dass sie die Seele und die Fähigkeiten eines Tieres in sich aufnehmen, wenn sie sein Herz fressen.«
»Sturm und Strom«, murmelte Dorn schockiert.
»Und das Schlimme ist, dass sie recht haben.« Aurora sah ihn verzweifelt an. »Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass die Wölfe auch die Stärken ihrer Opfer aufnehmen können, aber sie nehmen ihnen ihre Seelen. Und wenn einem Tier die Seele genommen wird, kann es nicht mehr zu den Sternen wandern. Die Wesen sind dann für immer verloren.«
Dorn fletschte seine Zähne. »Das ist das Böse schlechthin, Aurora. Da diese Wölfe das Gesetz nicht achten, werden sie wahrscheinlich auch nicht auf den Großen Vater hören, aber darum geht es nicht. Ich muss versuchen, sie aufzuhalten. Das darf so nicht weitergehen.«
»So viele sind ihnen schon zum Opfer gefallen«, sagte Aurora mit zitternder Stimme, denn sie dachte an Hurtig, die tapfere Gepardin, die ihnen in der großen Schlacht gegen Stachel geholfen hatte. Sie hatte überlebt, aber dann war sie von den Wölfen getötet worden, die ihr das Herz aus dem Leib gerissen hatten. Ihre beiden Jungen waren verwaist zurückgeblieben.
»Wir müssen die anderen Tiere warnen«, bemerkte Dorn und strich sich das nasse Fell glatt. Beunruhigt zupfte er an seinen Lippen. »Aber wie? Bravelands ist riesig – es würde Wochen dauern, alle zu erreichen –, aber ich möchte verhindern, dass auch nur noch ein einziges Tier diesen Bestien zum Opfer fällt.«
»Dann musst du eine Große Versammlung einberufen«, sagte Aurora entschieden. Auf diese Weise hatte auch Große Mutter alle Bewohner von Bravelands erreicht. Und denen, die nicht hatten teilnehmen können, wurden Rat und Neuigkeiten von anderen überbracht. »Es muss sowieso eine Große Versammlung geben, Dorn. Ganz Bravelands muss erfahren, dass du jetzt unser Großer Vater bist.«
Dorn rieb sich über die Schnauze. »Das Problem ist, dass ich nicht weiß, wie das funktionieren soll, Aurora. Ich weiß nicht einmal, wie man eine Große Versammlung einberuft.«
»Aber die Geier wissen es.« Aurora drehte sich zu Windreiter um. Die strenge, alte Geierdame stand in vorderster Reihe. Windreiter war es gewesen, die Großer Mutter Nachrichten und Knochen überbracht hatte. Die Gegenwart des würdevollen, wachsamen Vogels schüchterte Aurora etwas ein und sie wich dem Blick der glänzenden schwarzen Augen aus. »Sie wissen, was zu tun ist. Ich glaube, die Vögel verbreiten die Nachricht nicht nur an ihresgleichen, trotz der verschiedenen Zungen.«
Dorn trat einen Schritt vor, erhob sich auf seine Hinterläufe und sah Windreiter feierlich an. »Ich glaube, dass Aurora recht hat«, sagte er und neigte ehrerbietig seinen Kopf. »Können du und deine Schar die Große Versammlung ausrufen, Windreiter?«
Die riesige Geierdame breitete ihre Flügel aus und reckte ihren Hals. Sie öffnete ihren gefährlichen Schnabel und stieß ein paar scharfe, lang gezogene Schreie aus. Aurora hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten, aber Dorn verstand offenbar die Himmelszunge wie alle Großen Anführer. Er wartete, bis Windreiter verstummte, dann nickte er und murmelte: »Danke.«
Dorn wandte sich wieder Aurora zu. »Wir sollten so bald wie möglich beginnen«, sagte er. »Wir müssen sofort los.«
»Setz dich auf meinen Rücken«, schlug Aurora vor. »Dann sind wir schneller.«
Dorn nickte dankbar und kletterte über ihr ausgestrecktes Vorderbein auf ihre Schultern hinauf. Es fühlt sich gar nicht so fremd an, dachte Aurora, als sie die kurze Steigung des Gipfelkraters erklomm. Sie hatte schon so viele Tiere auf ihrem Rücken getragen – vor Kurzem erst die beiden armen Waisenkinder von Hurtig. Dorn kletterte zwischen ihre Schulterblätter und hielt sich an ihren Ohren fest. Schon bald hatte er sich an ihren schaukelnden Gang gewöhnt.
Obwohl der Weg bergab lang war, verspürte Aurora keine Müdigkeit – das Auftauchen des neuen Großen Anführers versetzte sie in eine hoffnungsvolle Erregung. Sie hatte natürlich nicht voraussehen können, dass es ihr alter Freund und Verbündeter Dorn Hochblatt sein würde.
Wir haben nebeneinander in der Schlacht um Bravelands gekämpft, als ich selbst noch den Großen Geist in mir trug. Der mir nichts verriet. Ich hätte nie gedacht, dass der Große Geist Dorn aussuchen würde.
Aurora hatte immer fest daran geglaubt, dass der Große Geist weise handelte.
Über und neben ihnen flogen die Geier, angeführt von Windreiter. Aurora war froh darüber, denn diesen Augen entging kein Raubtier, sie konnte sich also ganz darauf konzentrieren, den Weg über Felsgeröll und auf den Abhängen weiter unten durch trockenes Gestrüpp zu finden. Die Sonne brannte erbarmungslos auf die schattenlose Landschaft, aber sie nahm die gleißende Hitze kaum wahr.
»Und was hast du jetzt vor, Aurora?«, fragte Dorn. »Wirst du deine Herde suchen und zu ihr zurückkehren?«
Aurora hörte eine Spur von Unbehagen in seiner Stimme. Dorn glaubte wohl, sie würde ihn allein lassen. Aber das wird nicht geschehen, dachte sie, erst, wenn alles überstanden ist. Sie fühlte sich dem Großen Geist immer noch verbunden und verpflichtet, auch wenn er jetzt in Dorn wohnte.
»Meine Herde kann warten«, beruhigte sie ihn. »Außerdem habe ich noch keine genauen Pläne. Ich bin schon so lange meiner eigenen Wege gegangen – erst wegen der Nachwirkungen von Stachels Gewaltherrschaft und dann wegen meiner Suche nach dem Großen Anführer. Für mich ist jetzt wichtig, den Großen Geist zu beschützen … ich habe mich ohnehin daran gewöhnt, ohne meine Familie zu leben.«
Natürlich gab es auch Dinge, die sie Dorn nicht erzählen wollte: ihre verheerende Liebe zu Fels, jenem Elefantenbullen, der in einem Wutrausch ihre Cousine getötet hatte. Ihren vergeblichen Versuch, die Gepardenjungen bei einer von Hurtigs Schwestern in Sicherheit zu bringen. Aber eine von ihnen war tot und die andere hatte die Jungen nicht nehmen wollen. Und als Aurora entsetzt und traurig geflohen war, nachdem die Elefantenbullen ihr das Verbrechen von Fels offenbart hatten, hatte sie noch ein Junges aufgenommen: Quälgeist, die Tochter der Löwin Arglist und des wahnsinnigen Löwen Titan. Aurora hatte kaum Zeit zum Nachdenken gehabt und schon gar keine Zeit, ihre Familie wiederzufinden.
Und doch hatte Dorn recht – sie sollte bei ihrer Herde sein. Eine Elefantendame ihres Alters sollte mit anderen Elefantenkühen zusammenleben, ein Kalb großziehen, die Familie schützen, die Wanderrouten so gut kennenlernen, dass sie sie auch in einer sternenlosen, mondlosen Nacht fände …
Vielleicht werde ich niemals ein normales Elefantenleben führen, dachte sie traurig. Sie konnte sich nicht einmal einen Gefährten suchen – ihre übereilte Verlobung mit Fels hatte sie für immer an ihn gebunden. Gab es in der Herde überhaupt noch einen Platz für sie?
Sie hatten fast den Fuß des Berges erreicht. Aurora blinzelte und holte tief Luft. Genau unterhalb des letzten seichten Abhangs stand die Bullenherde, die von ihrem Bruder Brocken angeführt wurde. Er sah ihr entgegen und schlug in freudiger Erwartung mit den Ohren. Nicht weit von den Bullen waren die beiden kleinen Geparden Wiesel und Mops und etwas entfernt davon die herrische kleine Löwin Quälgeist.
Auch die Pavianfreunde von Dorn waren da – Aurora vermutete zumindest, dass es seine Freunde waren. Zwei von ihnen kannte sie nicht, aber sie wusste, dass der schüchterne kleine Matsch Dorns bester Freund war. Die anderen beiden mussten dann wohl ebenfalls vertrauenswürdig sein, obwohl sie ganz anders aussahen. Der eine war groß und kräftig und hatte ein stark vernarbtes Gesicht, das von einer wilden Vergangenheit zeugte. Der andere … Aurora legte überrascht ihre Ohren zurück. Es war ein schlaksiger Pavian mit unstetem Blick, der in einem fort auf Sandzunge auf eine hellrot und blau gemusterte Eidechse einsprach, die auf seiner Schulter saß.
Alle Tiere, mit Ausnahme des Pavians, der auf die Eidechse einredete, sahen ehrfürchtig zum Himmel, wo die Geier ihre Kreise zogen und Sturzflüge vollbrachten. Für Fragen war keine Zeit, denn Dorn kletterte bereits an Auroras ausgestrecktem Vorderbein hinunter und sprang vorwärts. Er blieb kurz stehen, um den Geiern etwas zuzurufen.
»Ruft alle herbei!«, rief er. »Bringt ganz Bravelands zu meiner Großen Versammlung.«
Für einen flüchtigen Augenblick trafen sich die Blicke von Windreiter und Aurora. Der alte Vogel sah sie eindringlich an. Dann neigte die Geierdame ihren Kopf in Richtung Dorn, zuckte mit den Flügeln und stieg in einer steilen Kurve himmelwärts. Ihre Schar folgte ihr und nach wenigen Augenblicken waren sie im gleißenden Sonnenlicht verschwunden.
Was hatte Windreiters Blick bedeutet? Aurora schluckte. Sie meinte, es zu wissen, und fühlte sich schuldig. Windreiter weiß, dass ich mir nicht sicher bin.
Doch Windreiter würde niemals zweifeln. Das Vertrauen der alten Geierdame in den Großen Geist beschämte sie. Aurora richtete sich auf und reckte ihren Kopf ein wenig höher.
Windreiter weiß, dass mein Glaube erschüttert ist, und doch vertraut sie mir die Obhut des Großen Vaters an. Sie verlässt sich darauf, dass ich Dorn mit meinem Leben schützen werde.
Und sie würde sich dieses Vertrauens würdig zeigen. Mit frischer Entschlossenheit beobachtete Aurora, wie Dorn seine drei ungleichen Pavianfreunde umarmte. Ich werde ihn beschützen, versicherte sie sich. Und es wird mir eine Ehre sein. Ich habe dem Großen Geist gedient und ihn bewacht. Nun werde ich dasselbe für den Großen Vater tun.
Sie spürte ein Prickeln auf der Haut, das ihr verriet, dass auch sie beobachtet wurde. Sie drehte ihren Kopf nach hinten und sah ihren Bruder Brocken.
»Gut gemacht, Schwester.«
Er trat auf sie zu und verschränkte seinen Rüssel mit dem ihren.
»Wir haben einen neuen Großen Anführer«, flüsterte sie und drückte ihren Kopf liebevoll gegen seinen. »Es ist der Anfang einer ganz neuen Zeit für Bravelands.«
»Das ist richtig.« Dorn war zu ihnen getrottet und sah lächelnd zu ihr hoch. »Und nun werden wir uns zur Wasserstelle aufmachen. Die Geier rufen die Herden zusammen.«
Matsch löste sich aus der Gruppe der anderen Paviane und klopfte Dorn auf die Schulter. Seine Augen leuchteten.
»Ja, die Zeit ist gekommen«, sagte er überglücklich. »Die erste Große Versammlung unseres neuen Großen Vaters!«
Titan konnte nicht mehr am Leben sein. Das war unmöglich.
Aber wo war sein toter Körper?
Heldenmut streifte durch die Schlucht, die immer noch in dämmeriges Morgenlicht gehüllt war. Am Fuß der steil abfallenden Felswände war es kühl, dem jungen Löwen lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der schreckliche Löwe mit der schwarzen Mähne war von der hohen Felskante gestürzt und im Nebel verschwunden.
»Er ist nicht hier«, rief Eifer. Er hob den Kopf und blähte seine Nüstern, um noch einmal Witterung aufzunehmen. »Wir haben ihn verloren, Heldenmut. Er muss entkommen sein, es sei denn, ein Riesenfalke hat ihn sich geschnappt.«
Heldenmut schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Riesenfalken«, knurrte er. »Er muss hier irgendwo sein.«
»Wir haben hier jedes Fleckchen abgesucht.« Eifer wölbte seine schmalen Schultern. »Hier gibt es nicht die Spur einer Witterung. Mehr können wir nicht tun. Tut mir leid, Heldenmut.«
Heldenmuts Kehle schnürte sich vor Enttäuschung zusammen. Er starrte zu der unglaublich hohen Felskante hinauf. »Er muss tot sein.«
»Stimmt.« Eifer leckte Heldenmuts Schnauze. »Er kann unmöglich über die Schlucht gesprungen sein. Das würde kein Löwe schaffen. Und vor allem würde kein Löwe einen solchen Sturz überleben! Auch Titan nicht.« Er warf Kaltschnauze einen schuldbewussten Blick zu. Titans verstoßener Sohn trottete niedergeschlagen zu ihnen. Leise sagte Eifer: »Vielleicht war er doch nicht ganz tot, als er unten aufschlug. Er hat sich zum Sterben wahrscheinlich in irgendeine Höhle geschleppt.«
»Nein. Wäre Titan hier, tot oder lebendig, hätten wir ihn gefunden.« Es war eine Erkenntnis, die Heldenmut schwer zu schaffen machte. Wieder hatte er eine Chance verpasst, Gallant, den Löwen, der ihn aufgezogen hatte, zu rächen. Und es war ihm auch missglückt, Gerechtigkeit für Loyal Ohnerudel zu erlangen, der sein leiblicher Vater gewesen war.
Heldenmut zog scharf die Luft ein. »Titan hat überlebt, das spüre ich. Womöglich versucht er, zum Titanrudel zurückzukehren. Wir müssen das klären.«
»Ja, das müssen wir«, sagte Kaltschnauze kläglich.
Trotz seiner Enttäuschung fühlte Heldenmut mit dem kleinen Löwen. Kaltschnauze hatte seinen Vater geliebt, hatte als Löwenjunges geglaubt, dass sein Vater ihn ebenso liebte – das war, bevor Titan vor Machthunger verrückt geworden war und rücksichtslos das Gesetz der Savanne gebrochen hatte, indem er nicht ausschließlich getötet hatte, um zu fressen. Selbst Kaltschnauze hatte erkannt, dass Titan aufgehalten werden musste.
»Ich glaube, es wäre ein Fehler, das Titanrudel herauszufordern«, knurrte Eifer. »Wir sind nicht stark genug, um es zu übernehmen.«
Das findest vielleicht du, dachte Heldenmut, sagte es aber nicht laut.
»Ich möchte sie nicht direkt angreifen«, erwiderte er. »Wir sollten uns aber so nah anschleichen, dass wir sehen, ob Titan zurückgekommen ist.«
Eifer leckte sich über die Lippen. Auf seinem Nacken zeigte sich der erste zarte Flaum einer Mähne. Für einen Augenblick fühlte Heldenmut sich unterlegen, obwohl er wusste, dass auch bei ihm bald eine Mähne sprießen würde.
»Also gut«, sagte Eifer schließlich. »Wir müssen aber ganz vorsichtig sein!«
Heldenmut ging vor den anderen den steilen Abhang hinauf, den sie heruntergekommen waren, setzte seine Pranken vorsichtig auf loses Geröll und rutschige Felsen, auf denen noch der Tau des Morgens lag. Kaltschnauze trödelte ein wenig, aber als Heldenmut sich nach ihm umblickte, sah er, dass der kleine Löwe traurig, aber entschlossen dreinschaute. Armer Kaltschnauze, dachte er. Das muss ihn furchtbar mitnehmen.
Weiter oben hatten die Sonnenstrahlen die Felswände erreicht und in goldenes Licht getaucht. Die letzten Nebelschleier, die ihnen die Suche erschwert hatten, lösten sich auf. Als Heldenmut schließlich den Rand der Schlucht erreichte und auf das Grasland sprang, keuchte er von der Hitze und Anstrengung. Er spürte, dass Eifer seinem Plan noch immer nicht so recht folgen wollte.
»Ich hätte ihn töten müssen«, knurrte Heldenmut, als sie über die Ebene trotteten. »Da oben auf dem Fels hätte ich eine Chance gehabt. Und ich habe sie vermasselt.«
»Du meinst wohl, er hat sich vor dem Kampf gedrückt«, erinnerte ihn Eifer freundlich. »Titan hatte Angst vor dir, das hat man genau gesehen, und du bist noch nicht einmal ausgewachsen. Deine Zeit wird kommen, Heldenmut.«
Heldenmut war sich dessen gar nicht so sicher. Titan war schon in Reichweite seiner Klauen und Zähne gewesen. Er wusste, dass er ihn hätte besiegen können. »Wir wollen vor Titans Sohn lieber nicht weiter darüber sprechen«, knurrte er. Und etwas lauter rief er nach hinten: »Geht’s dir gut, Kaltschnauze?«
»Geht schon«, keuchte dieser und beschleunigte seine Schritte, um mit den anderen Schritt zu halten. »Es ist nur – es ist irgendwie komisch, das Rudel wieder zu treffen.«
Heldenmut bekam bei diesen Worten ein schlechtes Gewissen. Natürlich war Kaltschnauze verunsichert. Seine Mutter Arglist war die mächtigste Löwin des Titanrudels gewesen. Erst kürzlich hatte er erfahren, dass sie von den Elefanten zu Tode getrampelt worden war. Wie konnte ich nur so gemein sein? Ich habe nur an mich gedacht.
»Vielleicht solltest du mit Eifer ein Stück zurückbleiben«, schlug Heldenmut vor.
»Was ist das?« Eifer blieb plötzlich stehen und knurrte.
Auch Heldenmut blieb stehen und schnüffelte. Ein betäubender, übler Todesgeruch zog in seine Nüstern und er verzog angewidert das Maul.
»Das waren die Wölfe«, fauchte er. »Diese Bestien ernähren sich von den Seelen der Tiere.«
»Kein Wunder, dass sie diese Route gewählt haben«, sagte Eifer mit zuckenden Ohren. »Wir befinden uns hier im Todeswald.«
Die drei Löwen standen reglos da und starrten in die Bäume hinauf. Der Todeswald trägt den Namen zu Recht, dachte Heldenmut. Die Bäume waren dürr, trocken und leblos, ihre Rinde von einer ungesunden weißen, fleckigen Pilzschicht bedeckt. Selbst das Gras unter den Bäumen war schlaff und verkümmert. Der ganze Ort schien nach Wolf zu stinken.
»Vielleicht haben die Wölfe Titans Körper geholt«, sagte Eifer gedämpft.
»Aber warum?« Heldenmut krümmte seine Schultern. »Sie fressen doch nur die Herzen.«
Eifer knurrte ergeben. »Stimmt.«
»Wir müssen weiter und das Titanrudel finden.« Heldenmut riss sich zusammen und trottete unter den kranken Bäumen weiter. Selbst der Boden unter seinen Pranken fühlte sich klebrig und weich wie verwesendes Fleisch an. Er beschleunigte seine Schritte.
Der Weg schien nicht enden zu wollen. Die Sonne stieg höher und brannte durch die skelettartigen Zweige auf sie herab, was den Todeswald aber nicht freundlicher machte. Die Stille wurde mit jedem Schritt bedrückender. Als Eifer schließlich etwas sagte, war es, als würde seine Stimme einen schrecklichen, todbringenden Albtraum durchbrechen.
»Du bist so still, Kaltschnauze«, sagte er leichthin.
»Tut mir leid.« Kaltschnauze zuckte schuldbewusst mit seinen Schnurrhaaren. »Ich habe über meinen Vater nachgedacht.«
Heldenmut warf Eifer einen Blick zu. Diesem schien es ebenso unbehaglich zu sein wie ihm.
»Er ist ein schlechter Löwe«, fuhr Kaltschnauze fort. Seine Pfoten bebten bei jedem Schritt auf dem nachgebenden Boden. »Er hat schreckliche Dinge getan. Ich weiß, dass er den Tod verdient, und ich weiß, dass Bravelands ein besserer Ort wäre, wenn es ihn nicht gäbe.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern. »Aber er ist mein Vater … oder war mein Vater.«
»Das wissen wir, Kaltschnauze«, sagte Eifer. »Und wir verstehen dich.«
»Junge«, sagte Heldenmut, blieb stehen und wandte sich zu ihm um, »du musst auch verstehen, was getan werden muss. Was ich vorhabe. Ich weiß, wie es dir geht – ich habe selbst alles andere als meinen Vater verloren –, und ich weiß, dass das für dich nicht leicht ist. Aber sollte Titan noch leben, werde ich ihn töten.«
»Ja«, sagte Kaltschnauze, »ich weiß.«
»Titan hat mir zwei Väter genommen.« Heldenmut ging weiter, der kleine Löwe folgte hinter ihm. »Er ermordete Gallant und stahl sein Rudel. Er quälte meine Mutter Flink und ließ zu, dass Arglist sie blendete. Dann tötete er meinen leiblichen Vater Loyal. Ich habe einen Eid geschworen, Kaltschnauze, und ich muss das zu Ende bringen. Ein Löwe darf niemals seinen Eid brechen.« Er stockte und spürte einen Hauch von Schuld. Loyal selbst war ein Eidbrecher gewesen. Mein eigener Vater. Er hatte niemals diesen Eid brechen wollen und er hatte es zeitlebens bereut, aber er hatte es getan.
Rasch sprach er weiter. »Aber ich weiß, Kaltschnauze, wie hart das für dich ist. Du musst nicht bei uns bleiben. Und du musst mir natürlich nicht helfen.«
Die eiligen Tapsgeräusche von Kaltschnauzes Pfoten verstummten und Heldenmut drehte sich überrascht um. Der kleine Löwe sah ihn ruhig, aber bestimmt an.
»Heldenmut, du und Eifer haben mir mehr Wärme geschenkt, als es mein Vater jemals getan hat«, sagte Kaltschnauze. »Es wird hart für mich sein, das ist richtig. Aber ich werde bei euch bleiben. Was auch immer geschieht, ich werde euch zur Seite stehen.«
Heldenmut schluckte vor lauter Rührung. Er nickte, dann drehte er sich schnell wieder um und ging weiter. Seine Schwanzspitze zuckte betroffen. Wer hätte jemals vorhersehen können, dass einer seiner treuesten Freunde, der ihm, komme was da wolle, folgte, ausgerechnet der Sohn von Titan sein würde?
Heldenmut glaubte schon, der Todeswald würde kein Ende nehmen, sie würden nie mehr aus ihm herausfinden, als endlich ein anderer Geruch als der Wolfsgestank in seine Nase zog. Löwen. Kaum hatte er die Witterung aufgenommen, sah er, dass sich hinter der letzten Baumreihe die offene Ebene erstreckte. Heldenmut schüttelte sich, als könnte er so die klebrige Fäule des Waldes loswerden.
»Das Territorium von Titans Rudel ist ganz in der Nähe«, flüsterte Eifer neben ihm. »Wir müssen vorsichtig sein.«
Die drei Löwen schlichen geduckt durch das hohe Gras hinter dem Todeswald. Unendlich vorsichtig näherten sie sich dem vertrauten Lager. Nichts rührte sich, keine goldenen Mähnen wurden zurückgeworfen, kein Schwanz scheuchte Fliegen fort. Kein furchtbarer, schwarzmähniger Rudelführer erhob sich auf seine Pranken und stieß ein herausforderndes Brüllen aus. Heldenmut war zwischen Erleichterung und Enttäuschung hin- und hergerissen. Aber wo waren die anderen – Resolut, Gloria, Leichtsinn und der Rest?
Ein leichter Wind strich über die Ebene und wehte einen Geruch herbei, der Heldenmut zum Würgen brachte. Er schnüffelte, blieb stehen und erhob sich über das Gras, um mehr zu sehen.
»So viele Fliegen«, flüsterte Kaltschnauze.
Das Lager brummte vor lauter Fliegen, schwarze Massen von Fliegen, die sich wie Sturmwolken hin und her bewegten. Heldenmut erschauderte. Geier kreisten über ihnen und ließen sich nach und nach nieder. Ein einsamer Schakal sah zu ihm herüber und verzog sich ins ferne Gestrüpp, im Maul einen Rippenknochen, an dem noch Fetzen von schwarzem Fleisch hingen.
»Was ist hier passiert?«, flüsterte Eifer. Seine Vorsicht vergessend, richtete er sich auf und ging rasch weiter.
Heldenmut überholte ihn und starrte ungläubig auf das Gemetzel, das einmal das Titanrudel gewesen war. Die toten Löwen waren über das Grasland verstreut. Er drehte sich schnell zu Eifer um und knurrte: »Titan muss unter den Toten sein. Halte Kaltschnauze zurück.«
Widerwillig blieb Eifer stehen, drehte sich um und versperrte Kaltschnauze den Weg. Heldenmut ging zu den zerfetzten Leichnamen des Titanrudels.
Der Gestank drehte ihm fast den Magen um, obwohl er sie noch nicht einmal erreicht hatte. Seine Schritte wurden langsamer, das Blut stockte in seinen Adern. Als er näher kam, erkannte er dort ein Maul, hier einen verdrehten Schwanz, eine markante Mähne, eine alte Narbe. Es waren nicht nur die Schwachen und Kleinen, sondern auch starke männliche Löwen darunter.
Heldenmut vermied es, zu atmen. Seine Nüstern zuckten. Aber in der drückenden Hitze gab es kein Entkommen vor dem sauren Geruch nach Tod und Verwesung. Er schritt zwischen den Leichen umher, dann war er gezwungen kurz stehen zu bleiben, weil ihm schwindelig wurde. Er erkannte so viele dieser Löwen. Nur wenige hatte er gemocht, aber was für ein schauriges Ende war das für ein gefürchtetes, hochmütiges Rudel? Dort lag Gnadenlos, einer von Titans Stellvertretern. Seine bösen goldenen Augen waren leblos, blickten in erstarrtem Entsetzen auf einen unsichtbaren Feind. Er lag ausgestreckt auf einem Stück trockener roter Erde, unter ihm ein großer, noch viel röterer Fleck von geronnenem Blut. Fliegen tanzten mit beinahe ohrenbetäubendem Surren lüstern darüber. Schaudernd wich Heldenmut zurück und ging weiter.
Er erkannte einen unförmigen Klumpen mit ungewöhnlich fahlem Fell – Gloria, eine Löwin, die einst zum Gallantrudel gehört hatte. Der Gestank brachte Heldenmut zum Würgen. Sie lag auf dem Rücken, die Pranken nach oben gekrümmt, als wollte sie sich sonnen. Aber ihr Schwanz zuckte nicht, um die Massen von Fliegen zu verscheuchen, und ihre Augen starrten wie die von Gnadenlos ins Leere.
Heldenmut schüttelte heftig den Kopf und ging zaghaft auf sie zu. Geier, die Fleischstreifen verschlangen, an denen noch Fell haftete, wichen zurück und sahen ihn misstrauisch an. Einer empörte sich krächzend über die Störung. Aus dem Augenwinkel bemerkte Heldenmut den Schakal, der sich vorsichtig wieder näherte.
Aber seine Aufmerksamkeit galt nur Gloria und ihrem zerrissenen Leib. Ihr Brustkorb lag offen da, Bruchstücke von Knochen staken weiß aus dem toten Fleisch. Ihr Herz war verschwunden, herausgerissen.
Heldenmut schluckte. Eifer war leise neben ihn gekrochen. Zusammen standen sie zwischen den Leichen. So viele Leichen. Es war beinahe das ganze Titanrudel.
Aber wo waren die Anderen?
»War es eine Krankheit?«, fragte Eifer mit rauer Stimme. »Oder sind sie verhungert?«
»Weder noch.« Heldenmut trat zur Seite, um ihm einen Blick auf Glorias Wunde zu geben. Sein Freund keuchte entsetzt.
»Die Wölfe?«
»Es müssen die Wölfe gewesen sein.« Heldenmut ging zwischen den Leichen umher und vermied es, zu tief einzuatmen. »Seht nur. Die Löwen haben alle die gleiche schreckliche Wunde.«
»Aber diese Goldenen Wölfe sind doch so klein.« Eifer schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie können sie das ganze Titanrudel umgebracht haben?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, was gerade in Bravelands geschieht. Und ich weiß nicht, was mit Bravelands geschieht.«
Über ihnen erscholl ein unwirklicher, durchdringender Schrei, der Heldenmut einen Schreckensschauer über den Rücken jagte. Er warf seinen Kopf zurück und spähte zum Himmel hinauf.
»Noch mehr Geier«, bemerkte Eifer. Schaudernd zog er seine Pfote zurück, die aus Versehen einen Leichnam gestreift hatte.
Natürlich, dachte Heldenmut. Der Gestank dieses Gemetzels zog die Aasfresser von überall an. Er beobachtete die neue Geierschar, die über ihm kreiste. Die Vögel, die sich an den Löwen gütlich getan hatten, traten auf ihren Klauen hin und her, dann breiteten sie ihre schwarzen Flügel aus und erhoben sich flatternd in die Höhe.
Ohne ein Wort drehte Heldenmut sich um und rannte, Eifer ganz dicht hinter ihm, zu Kaltschnauze zurück. Der Junglöwe zitterte und starrte zum Himmel, der von den schlagenden Flügeln ganz schwarz geworden war.
»Was war das für ein Schrei? Die Geier klingen anders als sonst.«
»Ich weiß auch nicht«, knurrte Eifer, »aber du hast recht, Kaltschnauze. Es klingt anders. Und ich habe noch nie erlebt, dass sich Geier eine solche Mahlzeit entgehen lassen.«
»Ich glaube, ich weiß es.« Eine große Erregung erfasste Heldenmut, die sogar das Entsetzen über die Zerstörung des Titanrudels erstickte. »Das ist der Aufruf zu einer Versammlung. Der Großen Versammlung!«
Die beiden anderen Löwen sahen ihn verwirrt an. »Der was?«, fragte Eifer.
»Der Versammlung aller Tiere von Bravelands«, erklärte Heldenmut. »Es gibt nur ein Tier, dass einen solchen Aufruf aussendet.«
Kaltschnauze sah ihn mit großen Augen an, dann blickte er wieder zu den Geiern hoch. Sie formierten sie zu einer organisierten Schar und richteten ihre breiten Flügel in einer Linie aus, um südwärts zu fliegen. Der kleine Löwe blinzelte erstaunt. »Nämlich …?«
»Ein wahrer Großer Anführer«, knurrte Heldenmut und schlug mit einer Pranke auf die Erde. »Das bedeutet, dass Bravelands wieder hoffen kann!«
Auf Auroras Schultern näherte sich Dorn dem See und sah, wie eine schiere Menge an Tieren zur Seite wich, um die beiden durchzulassen. Doch nicht seinetwegen, natürlich nicht – sie wollten nur nicht von den Elefantenfüßen niedergetrampelt werden. Über ihnen lärmten die Vögel, Geier, aber auch viele andere Vögel: eine Schar von blau schillernden Staren, eine würdige Abordnung von Pelikanen, Bienenfresser, die hin und her schossen, ein einzelner Marabu, der sich flügelschlagend unweit von Dorn niederließ und erstaunt mit dem Schnabel klapperte, als er ihn erblickte.
»Willkommen!«, riefen die Vögel im Chor. »Willkommen, Großer Vater Dorn vom Lichtwald! Willkommen, neue Hoffnung von Bravelands!«
Sie zu hören, erfüllte Dorn mit neuer Kraft, obwohl die Angst ihm den Magen zuschnürte. Für die Tiere auf dem Boden hatte das Kreischen der Vögel keine Bedeutung. Sein Leben lang, bis zum vorherigen Tag, hatte auch er nur Kreischen gehört. Nun aber, da er mit der Macht des Großen Geistes ausgestattet war, verstand er die schönen Reden der Himmelsbewohner, die ihn ermutigten und zugleich erschreckten. Die Tatsache, dass er Himmelszunge verstand, war der endgültige Beweis: So unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte, er war der Große Vater von Bravelands.
Aber wie soll ich das schaffen?
So viele Hoffnungen, so viele Erwartungen waren zu erfüllen. Er wusste doch nicht einmal, wie er Bravelands führen sollte.
Schon scharten sich die Herden am See zusammen. Ihre Füße wirbelten große Staubwolken auf, die den Horizont und den ganzen Himmel mit einem ockerfarbenen Nebel überzogen. Verzweifelt suchte Dorn die Menge ab und entdeckte endlich seine drei Freunde Nuss, Matsch und Spinne. Die drei kämpften sich mühsam zu ihm durch, immer auf der Hut vor größeren Tieren, Hufen und schwingenden Hörnern. Der Anblick seiner Freunde beruhigte Dorn etwas, trotzdem prickelte sein ganzer Körper vor Aufregung.
Zebras, Gazellen, Antilopen und Büffel drängten sich so eng am Ufer zusammen, dass die verschiedenen Herden sich vermischten. Die Luft hallte vom Brüllen, Blöken und Schreien wider, da die Tiere ständig aneinanderrempelten. Die Giraffen verweilten am Rand der Menge und beobachteten das Treiben selbstgefällig von oben herab. Ein paar Giraffengazellen stemmten ihre Vorderhufe gegen die Bäume und nutzten die Wartezeit zum Fressen. Ein Leopard lagerte auf einem Ast und beobachtete alles mit gelassener Neugier. Selbst auf dem Erdboden wimmelte es von huschenden Ratten, Erdhörnchen und kleinen Perlhühnern. Ein fetter, kleiner Schliefer reckte seinen Kopf, um Dorn auf dem Elefanten vorbeiziehen zu sehen.
»Der Große Vater ist unter uns!«, sangen die Vögel über ihnen. »Alles wird gut! Alles wird gut!«
»Sie erwarten, dass ich sämtliche Probleme löse«, flüsterte Dorn Aurora ins Ohr. »Sie setzen so viel Vertrauen in mich. Ich weiß nicht, ob ich dem jemals gerecht werden kann.«
Aurora rollte ihren Rüssel nach hinten und berührte ihn leicht. Etwas zerstreut sagte sie: »Der Große Geist weiß, was er tut. Glaube mir.«