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Tillmann: Teilen statt Zuteilen



ilri Bibliothek Wissenschaft, Bd. 3

Frank Tillmann


Teilen statt Zuteilen


John Rawls und die Begründung

eines relativen Grundeinkommens


ilri Bibliothek Wissenschaft, Bd. 3

3., vollständig überarbeitete Auflage (bis zur 2. Aufl. unter dem Titel Philosophie des Teilens )

© Verlag Ille & Riemer, Leipzig–Weißenfels 2012 Druck und Einband: bookstation GmbH Anzing

Printed in Germany

ISBN: 978-3-95420-001-6 (Print)

ISBN: 978-3-95420-101-3 (epub)

ISBN: 978-3-95420-201-0 (pdf)


Für Anton


Inhalt

Vorwort

1. Fragestellungen

2. Wofür wir Utopien brauchen

3. Utopie und Objektivität

4. Philosophische Auffassungen vom Sozialvertrag

5. Grundzüge der Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls

6. Versuch einer sozialpolitischen Auslegung

7. Gesellschaftliche Konsequenzen

8. Ausblick

9. Literatur

Angaben zum Autor

Anmerkung



Vorwort

Im Herbst 2002 verstarb der Philosoph John Rawls, der mit seiner Theorie der Gerechtigkeit den wohl bedeutendsten Beitrag für die politische Philosophie des letzten Jahrhunderts geleistet hat1 . Bei aller Zustimmung, die seine Ideen in der philosophischen Fachwelt gefunden haben, kann bislang jedoch nicht die Rede davon sein, dass sie für das Leben der Menschen eine praktische Wirksamkeit entfaltet hätten.

Eine Gerechtigkeitsidee, die hingegen kaum mit Rawls in Verbindung gebracht wird, ist die des bedingungslosen Grundeinkommens, das als Antwort auf die soziale Frage ein wachsendes Interesse in der deutschsprachigen Öffentlichkeit auf sich zieht. Der vorliegende Band versucht zu analysieren, inwiefern in der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie Argumente enthalten sind, die für ein solches Umverteilungsmodell sprechen. Sicherlich findet das Fortschrittsgleichnis des Zisterzienserabts Bernhard von Clairvaux, wir seien „Zwerge auf den Schultern von Riesen“, angesichts des Rawlsschen Lebenswerks eine tiefe Entsprechung. Dennoch verfolgt diese Arbeit die Absicht, die von Rawls entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien nicht nur in ihrer Bedeutung für die Fragen der gesellschaftlichen Verteilung knapper Güter zu interpretieren, sondern sie auch dem Zustand ihrer politischen Verwirklichung einen Schritt näher zu bringen.

Der Beitrag entwirft auf der Grundlage einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeitskonzeption von John Rawls, deren Ideengeschichte zuvor nachgezeichnet wird, ein konkretes Umverteilungsmodell. Es soll gezeigt werden, dass in der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie ein umsetzbarer Gesellschaftsentwurf enthalten ist und dass ein gegenseitiges Teilen von Lebenschancen, Raum und Zukunft in jedermanns Interesse liegt. So versucht dieser Text aus dem philosophischen Werk von John Rawls Antworten auf die drängenden Probleme der Gegenwart zu schöpfen – von der Zukunft des Wohlfahrtsstaates bis hin zu den Grundlagen einer globalen Ethik. Dabei wird das Projekt dieser Arbeit von der Überzeugung getragen, dass es überhaupt möglich und sinnvoll ist, durch einen philosophischen Zugang zu wichtigen Anleitungen für ein globales gesellschaftliches Zusammenleben zu gelangen – so wie die Naturwissenschaften mit anderen nützlichen Erfindungen für die Menschheit aufwarten. Notwendigerweise bezieht sich der Text auf Aspekte verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen und bindet somit Beiträge aus Philosophie, Soziologie, der Volkswirtschaftslehre und der Ethnologie ein. Angesichts des theoretischen Vorlaufs, auf den ich bei Themen wie bedingungsloses Grundeinkommen, Rawlssche Gerechtigkeitsauslegungen, Wertschöpfungstheorien u.v.m. gestoßen bin, beschränkt sich mein Beitrag lediglich darauf, verschiedene Diskussionen miteinander in Bezug zu setzen. Dabei soll es hier darum gehen, der Diskussion um den philosophischen Nachlass von Jahn Rawls einige Gedanken hinzuzufügen, die seine Nützlichkeit für die Begründung positiven Rechts unterstreichen.

Der frühe Aufklärer Christian Thomasius hatte sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts leidenschaftlich dafür ausgesprochen, die Philosophie nicht nur für muffige Vorlesungssäle zu kultivieren, so dass möglichst viele Menschen daran teilhaben und so die Bedeutung philosophischer Fragen für ihr eigenes Leben erkennen könnten2 . Gerade bei der hier aufgegriffenen Themenstellung ist die Einbeziehung breiter gesellschaftlicher Schichten m. E. unverzichtbar, weil sie die allgemeinsten Regeln unseres Zusammenlebens betrifft. Diesem Anliegen hat sich der vorliegende Text verschrieben und bemüht sich deshalb um eine durchgehend verständliche Formulierung. So habe ich versucht, nur solche Gedanken aufzunehmen und zu behandeln, die für den Nachvollzug der beschrittenen Argumentation erforderlich sind. Demnach wurde auch auf die Berücksichtigung von philosophischen Nachbardiskursen und Vertiefungen weitgehend verzichtet.

Das für einen Einzelband ungewöhnlich magere Format von etwas über 100 Seiten hängt mit dem Umstand zusammen, dass die Publikation aus der überarbeiteten und erweiterten Fassung eines Artikels hervorging, der für zu lang befunden wurde.

Bedanken möchte ich mich bei meiner engeren sozialen Umwelt für die Unterstützung und entschuldigen für die meist ungebührlich lange entliehene Literatur. Dank schulde ich auch für die vielen Anregungen, die mir insbesondere von Mitarbeitern der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zuteil wurden.

Die vorliegende dritte überarbeitete Auflage wurde insbesondere um einige Vertiefungen zur Effizienz des Wohlfahrtsstaates und zur Begründung eines bedingungslosen Grundeinkommens durch den Rawlsschen Ansatz einer Gerechtigkeit als Fairness erweitert.

Frank Tillmann Leipzig, Januar 2012

1. Fragestellungen

Spätestens mit dem Zusammenbruch des Sozialismus ist eine direkte Konkurrenzsituation zwischen zwei Gesellschaftssystemen verschwunden, die das letzte Jahrhundert maßgeblich prägte. Der Wettbewerb der Systeme brachte eine Reihe beflügelnder technologischer und sozialpolitischer Entwicklungen mit sich, und dieser Motor der Geschichte scheint nun zum Stillstand gekommen zu sein. Dabei war das Angesicht des modernen Sozialstaates doch nicht zuletzt dadurch ausgeformt worden, dass ein Prinzip des freien Marktes jenseits des eisernen Vorhangs vom kommunistischen Drohbild der Planwirtschaft so radikal in Frage gestellt wurde. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Neugestaltung Westdeutschlands durch die Alliierten – England, Frankreich und den USA – aus einer tiefen Abneigung gegen die Verstaatlichung nach sowjetischem Beispiel heraus mit weitreichenden sozialstaatlichen Elementen verknüpft. Dabei zog man aus der Geschichte des Dritten Reiches und seiner Entstehung sozialpolitische Konsequenzen3 . Seither ist von einem „Ende der Geschichte“ die Rede, da nach dem Sieg des Kapitalismus’ kein grundsätzlicher Wandel des Gesellschaftssystems mehr zu erwarten sei 4 .

Diese Sicht der neuen Weltordnung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die heutige kapitalistische Wirtschaftsweise mit erheblichen Unzulänglichkeiten behaftet ist. Doch auch eine gesellschaftliche Ordnung muss sich am Kriterium der Leistungsfähigkeit messen lassen – im Sinne des Menschen, der „das Maß aller Dinge“5 ist. So ist sie offensichtlich nicht in der Lage, auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Wir brauchen uns nur den Fakt ins Bewusstsein zu rufen, dass nach Angaben der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) weltweit gegenwärtig 925 Millionen Menschen von Hunger betroffen sind.6

Auf der anderen Seite stehen einer unbefriedigten Nachfrage immense ungenutzte Produktionskapazitäten und tagtäglich vernichtete Lebensmittel gegenüber.7 Es mangelt sicherlich nirgends an Betätigungsfeldern, dennoch bleibt allein innerhalb der 34 OECD-Mitgliedsländer die Arbeitskraft von ca. 44 Millionen Menschen ungenutzt.8 Wir finden heute also einen Kapitalismus vor, der vielerlei irrationale Phänomene hervorbringt. Zwar überdauert er, aber grundsätzliche Mängel aufweist, und keinerlei Entwurf einer Alternative scheint in Sicht.9 Der frühere tschechische Bürgerrechtler und Präsident Havel hat angesichts dieser bis heute andauernden Ratlosigkeit von einer „ narrativen Krise “ gesprochen, da alle Erzählungen vom erfolgreichen Weg der Menschen zum Glück versagt hätten 10: Die faschistische Erzählung hatte gegenüber der „Volksgemeinschaft“ eine totale Unterordnung des Einzelnen eingefordert und dabei auch nur die Existenz jeglicher individueller Freiheit geleugnet11 . Sie pflegte eine Ideologie der Ungleichheit und verlangte von ihren Anhängern, andere Menschen aufgrund ihres Andersseins oder Andersdenkens zu verachten. Die kommunistische Erzählung pries hingegen die Gleichheit unter den Menschen, ließ aber ebenfalls wenig Raum für eine Freiheit des Einzelnen. Auch hier wurden Andersdenkende benachteiligt und verfolgt. Die ökonomische Handlungsfähigkeit des Individuums wurde somit um den Preis beschnitten, dass die Wirtschaftsleistung immer mehr abnahm12 .

Und schließlich verliert auch die liberale Erzählung immer mehr an Glaubwürdigkeit, die besagte, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied13 . Man brauche sich nur anzustrengen, um zu Wohlstand und Selbstverwirklichung zu finden. Schon das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit und die Erfahrung, trotz Vollzeit-Job und Überstunden seinen Lebensunterhalt nicht selbständig bestreiten zu können, spotten dieser Beschreibung 14 – erst recht der Blick über den Grenzzaun der Industrienationen. Wenn jedoch die Gegebenheiten als ungerecht anzusehen sind, wird nicht nur die Frage nach einer Messbarkeit von Gerechtigkeit aufgeworfen. Als Aufgabe stellt sich somit auch die Entwicklung eines Entwurfs gesellschaftlicher Kooperation, der für alle Menschen akzeptabel ist.

Der Titel dieser Schrift nimmt Bezug auf die an sich irrationale Handlung des Teilens – irrational deshalb, weil man anderen, die weniger haben, etwas von seinem Besitz abgibt, und das ohne zu wissen, ob man selbst jemals etwas von ihnen zurückbekommt. Der Ethnologe Brumann geht davon aus, dass eine freiwillige Bereitstellung persönlicher Güter für die Gemeinschaft nur in kleineren kommunenartigen Gruppen bis maximal 500 Personen gelingen kann, ohne dass der Fortbestand der Gruppe gefährdet wird. Verschiedene Erkenntnisse sprechen dafür: Der Beitrag eines Einzelnen zum Gemeinwohl kann ab einer bestimmten Gruppengröße nicht mehr ohne weiteres nachvollzogen und kontrolliert werden 15 – z.B. durch regelmäßigen Klatsch. Außerdem müssen größere kooperierende Menschengruppen mit den Problemen häufigerer Interessenkonflikte und des „Trittbrettfahrens“ umgehen. Beim letzteren ist die Gefahr gemeint, dass Individuen von Kooperationsgewinnen profitieren, ohne dafür eine Leistung erbracht zu haben, weil man sie von den gemeinsamen Errungenschaften – bedingt durch die Umstände bzw. durch festgelegte Verteilungsregeln – nicht ausschließen kann16 . Beispielhaft dafür ist das Gut einer sauberen Küche in Wohngemeinschaften, an der alle Bewohner ein Interesse haben. Aber jeder hofft insgeheim darauf, dass sich ein anderer die Mühe macht und man selbst ohne zu spülen in den gleichen Genuss kommt, wie derjenige mit ausgeprägterem Ordnungssinn. Für die mitunter fatalen Konsequenzen, die solche Interessenanordnungen bewirken können, liefern viele WG-Küchen lebendiges Anschauungsmaterial. Obwohl alle Beteiligten aus ihrer Sicht vollkommen rational handeln, sind die Konsequenzen insgesamt zu ihrem Schaden. Klar definierte Regeln, wie sanktionsbewehrte Putzpläne, sind im Kleinen wie im Großen für die Überwindung von Hindernissen dieser Art meist unerlässlich17 . Wenn wir aber von der simplen Annahme ausgehen können, dass Menschen auf diesem Planeten alles vorfinden, um in Frieden, Freiheit und Wohlstand miteinander leben zu können, schließt sich die Fragestellung an, wie die Regeln auf gesamtgesellschaftlicher Ebene beschaffen sein müssen, um eine effektive Kooperation und damit die Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zu sichern – und das obwohl wir alle gleichzeitig um knappe Güter miteinander konkurrieren. Oder sollte es denn nicht möglich sein, die weltweiten Kooperationsbedingungen auf eine Weise zu regeln, dass die unübersehbare Verschwendung als auch die bittersten Entbehrungen der Ärmsten nachhaltig überwunden werden? Dabei kann meiner Meinung nach gezeigt werden, dass durch ein Modell des Teilens der Grundwiderspruch des Menschen zwischen Eigeninteresse und der Abhängigkeit von der Gesellschaft18 überwunden werden kann.

Nun mag der Einwand berechtigt sein, die Sicherung der sozialen Stellung aller Gesellschaftsmitglieder sei in der Form des Wohlfahrtsstaates schon ausreichend gegeben. Aber spätestens seit Anfang der 90er Jahre weisen Vertreter aus Politik und Ökonomie mahnend darauf hin, die notwendigen Mittel zur Befriedigung steigender sozialer Bedürfnisse könnten von den dafür vorgesehenen Sicherungssystemen nicht mehr aufgebracht werden. Außerdem würde die Belastung des Sozialnetzes auch dadurch anwachsen, weil die Begünstigten des Sozialsystems ihre Flexibilität für den Arbeitsmarkt verlieren würden19 . Während zu Anfang der Diskussion die „Krise des Sozialstaates“ gerade von Gewerkschaftsseite als eine Erfindung der Unternehmerlobby abgetan wurde, gibt es nun unmissverständliche Anzeichen dafür, dass eine Reform überfällig ist. Angesichts kurzfristiger Auswege, die in Richtung einer fortwährenden Anhebung des Rentenalters, einer weiteren Reduzierung der Sozialleistungen oder einer Erhöhung der Umsatzsteuer weisen, fehlt es an Konzepten für einen dauerhaften Erhalt sozialstaatlicher Absicherung. Auch zu dieser aktuellen Problematik wird im Abschnitt 7 nach Alternativen gesucht. Dabei wird der Versuch unternommen, die „soziale Frage“ als Gegenstand einer gerechten Verteilungsregel grundsätzlich zu beantworten. Unter diesem Schlagwort wurde etwa seit 1830 das Problem diskutiert, wie in kapitalistischen Gesellschaften für Bevölkerungsschichten, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, gegen die überlegene Verhandlungsmacht der Unternehmerseite annehmbare Lebensbedingungen durchgesetzt werden könnten. Wie Villeneuve-Bargemont feststellte, würde ein Scheitern dieses Anliegens einen Umsturz der Weltordnung mit ungewissem Ausgang bedeuten. So wurde eine Beantwortung der sozialen Frage hauptsächlich in dem Bemühen gesehen, politische Maßnahmen zur Integration sozialer Randgruppen zu ergreifen20 . Hier jedoch soll gezeigt werden, dass diese Aufgabe nur durch eine ökonomische Verteilungslogik bewältigt werden kann, die eine zeitlose Verallgemeinerung individueller Interessen verkörpert und daher gegenüber Konjunkturflauten unanfällig ist. Schließlich sind es gerade die Zeiten ökonomischer Krisen, in denen sich die Leistungsfähigkeit eines Sozialsystems beweisen muss.

2. Wofür wir Utopien brauchen

Verschafft man sich einen Überblick über die Ereignisse des 20. Jahrhunderts 21 22. Bei der Diskussion in der Öffentlichkeit über die Ursachen terroristischer Aktivitäten diesen Ausmaßes, die durch nichts zu rechtfertigen sind, war auch eine „Neue Nachdenklichkeit“ zu spüren