Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Burn – Blood & Roses #3
erschien 2014 im Verlag Smashwords.
Copyright © 2014 by Callie Hart
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Alexander Kopainski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-736-3
www.Festa-Verlag.de
EINS
Sloane
Julio Perez ist ein Killer.
Er mag lächeln und unbeschwert plaudern, als wir uns in seinem Arbeitszimmer mit ihm treffen, aber ich erkenne in dem Mann das, was er ist: eine gefährliche Kreatur. Vielleicht liegt es an all der Zeit, die ich mit Zeth verbracht habe – mittlerweile kann ich in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch. Jedenfalls erkenne ich, dass mein erster Eindruck von Julio in bestimmter Weise anders ist. Zeth und Julio sind aus demselben Holz geschnitzt. Zeth ist auf eine urtümliche, instinktive Weise gefährlich. Er ist einfach so. Das ist die Grundlage von allem, was ihn ausmacht. Julio hingegen ist nicht von Natur aus gefährlich. Er hat sich bewusst dafür entschieden. Er hat sich die Angst verdient, die ihn umgibt, und er trägt seine einschüchternde Persönlichkeit wie einen Mantel. Wie etwas, das er nach Belieben an- und ausziehen kann. Ich weiß nicht recht, wer mir mehr Sorgen bereiten sollte: ein Mann, der in Gewalt hineingeboren wurde, oder ein Mann, der sich dafür entschieden hat, in Gewalt hinabzusteigen.
»Und was haben Sie noch mal gesagt, womit Sie sich den Lebensunterhalt verdienen, Miss Hawthorne?«, fragt Julio und streicht mit einer fleischigen Hand über die polierte Platte seines Schreibtisches. Dabei mustert er mich mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen und wartet geduldig darauf, dass ich aufhöre, den Mund zu öffnen und zu schließen wie eine Vollidiotin, und ihm stattdessen antworte.
»Äh … ich …«
»Denn Sie sind offensichtlich keine Prostituierte«, sagt er und schwenkt eine Hand in meine ungefähre Richtung. »Zum einen sind Ihre Titten und Ihr Arsch nicht zur Schau gestellt. Und zweitens heißen Sie Naomi Hawthorne. Mir sind noch nicht viele Nutten oder Stripperinnen mit Namen wie Naomi Hawthorne untergekommen.« Er spricht meinen erdachten Namen aus, als wüsste er haargenau, dass er falsch ist.
Scheiße. Als er meinen Nachnamen von mir wissen wollte, habe ich ihm den ersten aufgetischt, der mir eingefallen ist – der meiner Spanischlehrerin aus der High School. Zu dem Zeitpunkt schien es mir eine gute Idee zu sein, allmählich jedoch begreife ich, wie falsch meine Einschätzung war. Ich hätte mir irgendetwas Ausgefalleneres, Schillernderes einfallen lassen sollen. Lovelace zum Beispiel. Einen Nuttennamen, nicht einen Namen, den man vielleicht mit einer Zahnärztin assoziierte. »Richtig«, gestehe ich. »Keine Prostituierte. Ich …«
»Naomi ist Ärztin«, wirft Zeth ein und dreht dabei müßig den Kopf, sieht sich im Raum um, als würde es ihn entsetzlich langweilen, hier zu sein. Dass er so ruhig und gefasst bleiben kann, übersteigt meinen Verstand. Ich schwitze ganze Sturzbäche. Und er sagt Julio die Wahrheit? Herrgott noch mal. Als wäre es für einen mexikanischen Mafiaboss nicht unheimlich einfach herauszufinden, in welchem Krankenhaus ich arbeite. Und dann bin ich völlig im Arsch. Er wird rauskriegen, dass ich nicht diese Naomi Hawthorne bin. Und dann bringt er mich um und verscharrt mich in einem flachen Grab irgendwo in der Wüste. Man wird meine Leiche nie finden.
»Ärztin?« Julio wirkt zugleich beeindruckt und verwirrt. »Was für eine Ärztin?«
»Unfallchirurgin.« Diesmal antworte ich, ohne zu zögern. Hat keinen Sinn mehr zu lügen.
»Hm. Interessant.«
Zeth schnaubt. »Ach ja?«
Julio wirft ihm einen scharfen Blick zu. »Natürlich, hijo. Die Frauen, die normalerweise hier landen, sind nicht so …«
»Gebildet?« Zeth hat üble Laune. Die nervöse Anspannung, die sein Körper auf dem Weg zum Arbeitszimmer erkennen ließ, hat er inzwischen abgeschüttelt. Er kommt nur noch stinksauer rüber. Und gelangweilt. Ich weiß nicht, ob es echt oder gespielt ist. Falls er es spielt, hat er den Beruf verfehlt und sollte nach Hollywood gehen. Aber sein schlagfertiger Einwand bringt Julio zum Lachen.
»Genau. Sie sind nicht ganz Ihr … sagen wir Kaliber, Naomi. Und wie um alles in der Welt sind Sie im Bett dieses kranken Mistkerls gelandet? Hatte er einen Unfall mit seinem Schwanz oder so?«
Zeth schnaubt, sagt aber nichts. Ich entscheide, den Köder zu schlucken – das ist eine erstklassige Gelegenheit, jegliche Zweifel auszuräumen, die Julio über meine Anwesenheit hier vielleicht hat. »Könnte man ungefähr so sagen.« Geziert lächle ich und werfe Zeth einen Seitenblick zu, als würde ich gleich ein obszönes Geheimnis preisgeben. »Ich war zu einer von Zeths Partys eingeladen. Nach einem Blick auf ihn wusste ich, was für eine Behandlung er braucht. Und ja, sein Schwanz hat dabei definitiv eine Rolle gespielt. Obwohl: Gelitten hab wohl eher ich unter dem Unfall.«
O … mein … gütiger … Gott.
Ich kann nicht fassen, dass ich mich tatsächlich dazu durchgerungen habe, solche Worte über die Lippen zu bringen. Das Blut schießt mir in die Wangen. Ich fühle bereits, wie sie brennen, und kann nur hoffen, dass Julio mein Erröten der Intensität der erlogenen Erinnerung zuschreibt, nicht meiner Verlegenheit.
Ein Flackern echter Belustigung blitzt in Zeths Augen auf. Plötzlich wird mir klar, dass man meine Äußerung irrtümlich für die Wahrheit halten könnte. Ich war ja wirklich bei einer seiner Partys, und ich habe dort wirklich mit ihm geschlafen. Und um ganz ehrlich zu sein, hat er mich wirklich geradezu lächerlich hart gefickt.
Ich bemühe mich redlich, nicht auf dem Sitz hin und her zu rutschen. Mich beschleicht das Gefühl, dass Zeth diese Entwicklung immens gefällt. Von irgendwo hat er einen Zahnstocher herbeigezaubert, mit dem er sich über die Unterlippe fährt, während er meinen Seitenblick erwidert. Anscheinend ist er nicht mehr gelangweilt.
»Klingt faszinierend. Haben Sie ihn geblasen?«
Mein Kopf schnellt zu Julio herum. Auch Zeth richtet die Augen langsam von mir zurück auf den Mexikaner, bis er den anderen Mann ungerührt anstarrt. Der Zahnstocher in seinen Fingern hält inne, und er presst ihn sich an die Lippen. Mir steigt Hitze in den Hals und lässt mich zweifellos noch dunkler anlaufen. »Wie bitte?«
»Haben Sie seinen Schwanz geblasen?«, will Julio erneut wissen und lacht. Er stellt die Frage, als wäre nichts dabei. Als wäre es nicht im Geringsten schräg, dass er sie stellt.
»Na ja, klar hab ich das.« Ich glaube nicht, dass ich den verführerisch belustigten Eindruck so gut rüberbringe, wie ich es möchte. Ich klinge mehr wie ein aufgeregtes Schulmädchen als jemand, der mit Zeth Mayfair das Bett geteilt und mitgehalten hat. Wie bin ich nur auf das schmale Brett des Irrglaubens gekommen, ich könnte das? Wird mir nicht gelingen, es über die Bühne zu bringen. Das ist einfach nicht drin. Allein der wissende Ausdruck in Julios Augen verrät es mir deutlich.
Zeth lümmelt neben mir auf seinem Sitz, legt den Kopf in den Nacken, starrt an die Decke und spielt wieder mit seinem Zahnstocher. »Sind wir dann bald fertig? Ich hab gehofft, ich könnte noch ein wenig den Kater würgen, der mich gebissen hat. Mein verfluchter Schädel bringt mich um.«
»Ich sag dir, was gut gegen einen Kater ist, ese«, sagt Julio und richtet seine Aufmerksamkeit auf Zeth. »Den Schwanz gelutscht zu bekommen.«
Zeth neigt den Kopf nach vorn. Beeindruckt wirkt er dabei nicht. Zum Glück ist Julio zu beschäftigt damit, Zeths Reaktion zu beobachten, um meine zu bemerken, denn mir schießt blankes Grauen in den Leib. Er will, dass ich es tue. Jetzt. Vor ihm. Das ist eindeutig ein Test.
Zeth lächelt, und das Lächeln wirkt fast wie eine Drohung. »Ich hab die Frau erst vor zwei Minuten gefickt. Hast du’s nicht gehört?« Er zeigt mit dem Zahnstocher über die Schulter, deutet nicht nur in den Korridor, sondern auch in die jüngste Vergangenheit, in der er mich übers Knie gelegt und mir den Arsch wund geschlagen hat.
Julio zuckt mit den Schultern. »Sicher, hat geklungen, als würdest du sie umbringen. Aber das hübsche Frauenzimmer sitzt ja noch hier und zwirbelt das hübsche Haar zwischen den hübschen Fingern, also weiß ich, dass du’s nicht getan hast.« Er grinst Zeth an und beugt sich auf seinem Schreibtisch vor. »Was ist los mit dir, Mann, hm? Kriegst du ihn so schnell nicht wieder hoch? Ich weiß, es liegt nicht daran, dass du schüchtern bist. Immerhin hab ich dich unter diesem Dach schon viele Weiber ficken sehen.«
Bei der Bemerkung ballen sich meine Hände unwillkürlich zu losen Fäusten. Wie bescheuert, dass ich mich ausgerechnet darüber aufrege statt über die Tatsache, dass gerade ein übergewichtiger mexikanischer Jabba von mir verlangt, ich soll vor seinen Augen auf die Knie gehen und einem Kerl einen blasen, vor dem ich mich mehr als ein wenig fürchte.
Zeth nickt langsam, scheint darüber nachzudenken. »Schon möglich. Aber das ist eine ganze Weile her. Inzwischen bin ich ein bisschen … zurückhaltender geworden.«
»Blödsinn!« Julio lacht, aber seine Wangen färben sich mit jedem verstreichenden Augenblick röter und röter. Dadurch kommt das spinnwebartige, feine Geflecht geplatzter Kapillaren in seinen Wangen zum Vorschein, dunkel und zornig – eindeutig ein Mann, der entschieden zu viel trinkt. Zu oft wütend wird. Und wahrscheinlich auch zu oft seinen Willen bekommt. Aber nicht heute.
»Es tut mir leid, Mr. Perez, aber heute Morgen liefere ich Ihnen keine Privatvorstellung. Sie haben ja bereits festgehalten, dass ich nicht wie Ihre Frauen hier bin. Wenn Sie sich von einer billigen Hure unterhalten lassen wollen, die Zeth einen Blowjob verpasst, dann bitte, nur zu. Aber ich fürchte, dafür müssen Sie sich jemanden suchen, der sich einen geringeren Wert beimisst als ich mir. Vielleicht kann Ihnen eine Ihrer Frauen den Gefallen tun. Ich denke, ich lege mich an den Pool und lese ein wenig.«
Damit erhebe ich mich. Ich kann mich nicht daran erinnern, es getan zu haben, aber ich stehe aufrecht und rücke mein Oberteil zurecht. Gleichzeitig richte ich einen hoffentlich ungerührten Blick auf die beiden verdutzten Männer, die mich anstarren. Zeth sieht aus, als hätte ich gerade einen Eimer Eiswasser über ihn geschüttet. Julios Mund steht offen, die Augen hat er zu verwirrten Schlitzen verengt, als hätte ich die Worte in einer fremden Sprache gesagt, die er eindeutig nicht beherrscht.
Zu behaupten, ich würde aufkeimende Panik verspüren, wäre eine glatte Untertreibung. Nicht einmal Zeth, ein Berg von einem Mann, der sich vor niemandem fürchtet, hat sich Julios Wünschen so unverhohlen widersetzt. Etwas zu spät wird mir klar, dass sich diesem Mexikaner wahrscheinlich noch niemand so unverhohlen widersetzt hat. Ich glaube, wenn sich Zeth die Augen zuhalten könnte, würde er es tun.
Julio räuspert sich. Eine Weile blickt er auf seinen Schreibtisch, während ich mich bemühe, nicht vor dem gigantischen Gefühl von Besorgnis zu kapitulieren, das sich plötzlich in meiner Brust ansammelt.
»Also hätten Sie nichts dagegen, wenn ich eine andere Frau hereinkommen ließe, Miss Hawthorne?« Julio stellt die Frage langsam und lässt beachtliche Zurückhaltung erkennen. Auf meinen Handflächen bricht unkontrollierbarer Schweiß aus.
»Natürlich nicht. Wieso auch?« Trotz meiner klammen Hände und immer noch schillernden Wangen weiß ich, dass ich es diesmal richtig hinbekommen habe. Es ist mir gelungen, ein Flair von völliger Gleichgültigkeit gegenüber Zeth zu vermitteln, was mich innerlich jubilieren lässt, während sich äußerlich nur eine leicht hochgezogene Augenbraue zeigt. »Ich fürchte, Sie schätzen die Dynamik der Beziehung falsch ein, die ich mit Zeth unterhalte, Mr. Perez. Ich bin nicht diejenige, die auf Knien um Bröckchen seiner Zuneigung bettelt. Das Gegenteil ist der Fall.«
Zeth hustet heftig. Nur einmal. Ich glaube, ich habe ihn mit meiner Äußerung genauso sehr schockiert wie mich selbst. Aber ich versuche, keine Reaktion zu zeigen, als ich den Raum seelenruhig verlasse.
Die Tür ist noch kaum geschlossen, bevor ich gegen die Wand sacke. Mein Herz droht in der Brust zu explodieren, wummert wie ein Presslufthammer gegen die Rippen. Mist, Mist, Mist! Was zum Teufel habe ich getan? So sollte das Treffen nicht ablaufen. Aber etwas an diesem abstoßenden Mann bringt mein Blut zum Kochen. Er hat für Frauen unübersehbar nur Geringschätzung übrig. Und so selbstverständlich aufgefordert zu werden, mich vor ihm zu erniedrigen … Das wäre auf keinen Fall passiert.
Allerdings habe ich wegen meines unbesonnenen Temperaments gerade ein ziemlich ernstes Problem heraufbeschworen. Ich sollte Julio glauben lassen, ich wäre eine Hure … und anscheinend habe ich gerade angedeutet, Zeth sei stattdessen das männliche Pendant.
ZWEI
Sloane
Den restlichen Tag bekomme ich Zeth nicht zu sehen. Ich bekomme überhaupt niemanden zu sehen. Keine Frauen, keine Wachen, niemanden. Alle scheinen verschwunden zu sein. Die Villa vermittelt ein wenig das Flair des Geisterschiffs Marie Celeste – halb aufgegessene Mahlzeiten auf den Arbeitsflächen in der Küche, eingeschaltete Fernseher, auf denen mexikanische Seifenopern für ein unsichtbares Publikum laufen. Irgendetwas ist los, und ich ertappe mich dabei, zu hoffen und zu beten, dass es nichts mit einem bestimmten dunkelhaarigen Freund von mir zu tun hat.
Ich gehe hinaus zum Pool und lese, wie ich es angekündigt habe. Allerdings wandern meine Augen bloß über die Seiten, nehmen die Schrift nur als schwarze Schnörkel auf weißem Hintergrund wahr, während ich die vergangenen 24 Stunden Revue passieren lasse.
Ich bin auf der Flucht gewesen, habe mich damit auseinandergesetzt, meinen Vater zum ersten Mal seit zwölf Monaten wiederzusehen, bin mit Waffen bedroht worden und habe Zorn zu spüren bekommen – den Zorn eines wutentbrannten … ja, was eigentlich? Lovers? Bekannten? Jedenfalls ist mir für meinen Ungehorsam gnadenlos der Hintern versohlt worden.
Und jetzt habe ich als Draufgabe noch einem mexikanischen Bandenboss vorgeflunkert, ich hätte bei Zeth Mayfair das Heft in der Hand. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Nichts. Bestimmt hat Julio durchschaut, dass ich völligen Quatsch geredet habe, oder? Ich meine, man braucht nur einen Blick auf Zeth zu werfen, und schon ist ziemlich offensichtlich, dass er kein Mann ist, der sich irgendjemandem beugt. Schon gar nicht jemandem, der ihm körperlich so unterlegen ist. Einer Frau. Mir.
Es ist mindestens vier Uhr, als ich das nächste Mal eine Menschenseele zu Gesicht bekomme. Eine Frau, groß und gertenschlank, mit Haaren der Farbe von Kupfer und Zimt. Sie stolziert über den Hof, die Augen unter einer riesigen, dunklen Sonnenbrille verborgen. Ihr Weg führt sie zu mir. Bei ihrem Gang schwingt sie betont die Hüften. Sie trägt einen einteiligen Badeanzug, doch die Ausschnitte an den Seiten zeigen jede Menge nackter Haut. Ihre Möpse entsprechen der Art, die man sonst nur in Musikvideos sieht. Der Art, bei der man sich sagt, sie müssen einfach künstlich sein, obwohl man nur allzu gut weiß, sie sind echt. Beeindruckend wippen sie bei jedem Schritt, mit dem sie sich nähert.
Als sie unmittelbar vor mir steht, stemmt sie die Hände in die Hüften und streckt ein Bein zur klassischen Laufstegpose eines Supermodels vor. Ihr ernster Gesichtsausdruck ist zugleich einschüchternd und schwer zu deuten, vor allem wegen der gewaltigen Sonnenbrille auf ihrer Nase.
»Marica Dela Rosa«, sagt sie.
»Marica Dela Rosa?«
»Ja.« Die Rothaarige lässt sich mit der Eleganz eines Schwans, der das Gefieder faltet, auf der Sonnenliege vor mir nieder. »Julios Mutter war in den 1950ern eine spanische Schauspielerin. Sie hat Opern gesungen, ob du’s glaubst oder nicht. Niemand konnte die Casta Diva damals klarer geben. Sie war die Letzte, die Julio so verärgert hat wie du heute Morgen.« Aus einem kleinen Schwimmbeutel, den sie mitgebracht hat, holt sie eine Zigarette und zündet sie an. Ihre Lippen bilden einen Schmollmund mit einem perfekt runden O. »Das war vor sieben Jahren. Und er wird deswegen immer noch wütend.«
»Und was hat Marica Dela Rosa, die Opernsängerin, getan, um Julio so schlimm zu verärgern?«
»Na, sie ist gestorben.« Die Rothaarige zieht an der Zigarette, behält den Rauch eine Weile in der Lunge, neigt den Kopf dem Sonnenschein entgegen und atmet dann aus. Der Rauch kräuselt sich in dünnen Ranken aus ihrem Mund und ihrer Nase, wie eine gespenstische Hand, die ihr Gesicht liebkost. »Julio hat das alte Miststück geliebt. Ich glaube, wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte sie ewig gelebt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wahrscheinlich auch, wenn ich so darüber nachdenke.« Die Rothaarige brummt und lächelt kurz. »Schätze, das Universum hat sie beide enttäuscht. Eines Morgens beim Frühstück hatte sie einen schweren Herzinfarkt und ist mit dem Gesicht mitten in ihren huevos rancheros gelandet.«
Bei den Worten mutiert ihr Lächeln zu einem vollwertigen Lachen – einem glockenhellen, perfekten und femininen Lachen, dennoch empfinde ich es auf Anhieb als gekünstelt. Genauso künstlich wie den Busen. Aber vermutlich ist mein erster Eindruck falsch und voreingenommen. Diese Frau erscheint mir … sie erscheint recht entgegenkommend, wenn auch ein bisschen abrupt.
Sie schiebt die Sonnenbrille auf der Nase nach unten, um mich darüber mit leicht schrägen, dunkelblauen Augen anzusehen. Katzenaugen. Und eine merkwürdige Farbe für jemanden mit so rotem Haar. »Ich schätze mal, du weißt nicht, wer ich bin, oder?«, sagt sie.
»Leider nicht«, antworte ich. Dabei frage ich mich, ob ich ihr die Hand schütteln soll oder so. Ist das etwas, das Prostituierte tun? Ist sie überhaupt eine? Julio hat angedeutet, dass die Mehrheit der Frauen in der Anlage nicht unbedingt Freidenker sind, aber dieses Exemplar scheint mir aufgeweckt und teuflisch intelligent zu sein. Sie legt den Kopf schief und mustert mich von Kopf bis Fuß. »Ich bin Alaska. Julios Geliebte. Du musst dann wohl Zeths verrückter Eindringling sein, richtig? Da du unangekündigt mitten in der Nacht aufgekreuzt bist, hattest du wohl vor, dich umzubringen, vermute ich.«
Da lache auch ich und zucke mit einer Schulter, versuche so, einen der furchterregendsten Augenblicke meines Lebens herunterzuspielen. »Ja, das bin ich. Freut mich, dich kennenzulernen.«
Das scheint sie zu überraschen, als käme mein verhaltener und rein unterbewusster Versuch von Höflichkeit völlig unerwartet. »Tatsächlich?« Sie verstummt, starrt mich weiter an. Offenbar wartet sie auf eine Antwort.
»Na ja, schon. Ich meine, du bist seit meiner Ankunft die erste Person, die mich nicht anbrüllt, mir keine Kanone vors Gesicht hält oder von mir verlangt, dass ich vor ihren Augen sexuelle Handlungen vollziehe.«
Darüber jedoch lacht Alaska nicht. Nur ein amüsiertes Lächeln zupft an ihren Lippen. Nach einem weiteren Zug an der Zigarette bläst sie den Rauch ungefähr in meine Richtung aus. »Ach, Schätzchen. Wart’s ab.« Dann verzieht sie das Gesicht, wirft einen angewiderten Blick auf die Zigarette in ihrer Hand und schnippt sie zerstreut in den Swimmingpool. Ein leises, kurzes Zischen ertönt, als die Kippe im Wasser landet und erlischt. »Ist zu verflucht heiß zum Rauchen.« Sie steht auf, schiebt die Sonnenbrille wieder die Nase hoch und verbirgt dadurch diese intelligenten, leicht gefährlich wirkenden Katzenaugen. »Julio sagt, wegen deines Arrangements mit Zee steht es dir frei abzulehnen, aber die Mädels beginnen alle bald, sich für die Party morgen vorzubereiten. Wenn du dich ihnen gegenüber nicht arschig verhältst, werden sie auch nett sein. Liegt ganz bei dir.«
Alaskas Ton hat sich in der Zeit, die sie mit mir redet, nicht stark verändert, aber ihre schnippische und unverhohlen passiv-aggressive Haltung verrät mir eine Menge. Ich habe mich geirrt. Sie ist überhaupt nicht entgegenkommend. Sie ist alles andere als glücklich über meine Anwesenheit hier, und sie ist definitiv nicht glücklich über mein Arrangement mit Zee. Vermutlich hat man ihr erzählt, dass ich heute Morgen behauptet habe, ich hätte bei uns die Hosen an. Oder vielleicht hält sie mich auch bloß für Zeths Fickstück.
So oder so, ich bin schlau genug zu merken, dass es ihr nicht passt. Als Ärztin oder Arzt verbringt man viel Zeit des Tages damit, von Menschen, mit denen man zu tun hat, angelogen zu werden. Über die Drogen, die sie eingeworfen haben. Über das Warum und das Wie ihrer Schussverletzungen. Darüber, wie viele Drinks sie hatten. Ob sie diejenigen hinter dem Lenkrad waren. Für mich fällt mittlerweile alles unter dieselbe Kategorie. Es gibt Menschen, die Dinge verbergen, und Menschen, die tun es nicht. Und Alaska verbirgt eindeutig etwas.
»Sie treffen sich nach dem Abendessen hinten im Damenhaus. Du musst den Wachen sagen, dass Julio sein Okay dazu gegeben hat, bevor du rübergehst. Wahrscheinlich knallen sie dich sonst ab.«
Sie wartet keine Erwiderung von mir ab, sondern geht hinüber zum Pool und hechtet hinein. Ihr Körper beschreibt in der Luft einen so perfekten Bogen, dass kaum Wasser aufspritzt. Ich greife mir mein Buch und kehre zurück in die Villa, bevor Alaska das Becken durchqueren kann. Irgendetwas an ihr behagt mir ganz und gar nicht. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich noch nicht die echte Alaska kennengelernt habe. Und ich bezweifle stark, dass sie eine Verbesserung gegenüber der Version sein wird, die sich mir gerade vorgestellt hat. Immerhin hat sie es selbst angedeutet. Ach, Schätzchen. Wart’s ab. Und ich kann mir die rothaarige Alaska gut mit einer Schusswaffe in der Hand vorstellen.