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B. Schulze Stiftung für therapeutisches Lesen und Schreiben.

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Korax und das Geheimnis der Kürbisse (Band 4)

© Claudia J. Schulze, Bilder Anke Hartmann, 2020

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
www.dnb.de abrufbar.

Herstellung und Verlag: BOD - Books on Demand, Norderstedt

Lektorat: Phillo, Leipzig und Matthias Ziebarth, Frankfurt a.M.

ISBN: 9783743125520

Der Moment in dem man abstürzen kann

wie in einer Felsspalte

muss angehalten werden.

(Mia)

Kapitel 1 -
Bandit, Beethoven und die Musik

Bandit war eine scheue Katze, die Mia schon mehr als einmal aufgefallen war. Nicht nur wenn sie im Wald nach Fuchs gesucht hatte. Seine Hinterläufe waren etwas höher als die Vorderbeine, so dass er dadurch einen sehr besonderen, ja, einen geradezu atemberaubend eleganten Gang hatte. Sein Fell war enorm dicht und glänzend, seine Zähne sehr weiß, spitz dabei, und die schräg geschnittenen Augen reihten sich zwischen blau und grün ein. Eigentlich sah Bandit aus wie eine dieser teuren Rasse-Katzen, die man für sehr viel Geld bei bestimmten Züchtern erwerben konnte. Warum aber war er dann immer allein unterwegs?

Und warum war er so scheu? Mia war es bisher ein paar Mal gelungen ihn anzulocken. Er hatte sich sogar von ihr streicheln lassen und seinen Kopf an ihrem Handrücken gerieben.

Das war aber durchaus nicht selbstverständlich. Bandit machte diese Ausnahme fast nur bei Mia, manchmal auch bei Lukas oder Kai.

Sonst aber ließ er niemanden an sich heran. Mia ließ der Gedanke nicht mehr los, dass Bandit einfach kaltherzig ausgesetzt wurde.

Vielleicht war irgendetwas an ihm so wie es der Züchter nicht mochte? Es war eine andere Situation als bei Fuchs damals, da war sie sich sicher. Jemand, wahrscheinlich ein skrupelloser Katzenzüchter, musste ihn mutwillig ausgesetzt haben, weil er mit ihm kein Geld verdienen konnte. Mia war sich da ziemlich sicher. Bandit war absolut keine normale Hauskatze. Er war ein Zuchttier und, offensichtlich, für seinen Besitzer eine Enttäuschung gewesen.

Mia schossen die Tränen in die Augen, wenn sie sich das vorstellte. Noch nie hatte sie eine Katze gesehen, die so vollkommen, so perfekt aussah. Was konnte man denn nur an ihr aussetzen? War ihr Gesicht zu schmal oder zu breit? Stimmte die Farbe ihres Fells nicht? Und wer legte das überhaupt fest? Was Mia nicht wusste war, dass sie ganz richtig lag mit ihrer Vermutung. Der Grund, weshalb Bandit ausgesetzt worden war, hing mit der Farbe seines Fells zusammen. Es war von einem tiefen Dunkelbraun, fast schwarz. Schwarze Katzen verkauften sich nicht. Sie galten als Pechboten. Irgendjemand hatte sich das einmal ausgedacht, und seither hielten sich noch immer so viele Menschen daran, dass nicht nur Bandit von diesem Aberglauben betroffen war. Das Besondere an Bandit war aber nicht nur sein Aussehen. Es gab da noch etwas.

Bandit war ein leidenschaftlicher Musikliebhaber.

Wenn Agathe auf ihrem Klavier spielte, hörte er es schon von weitem.

Wie von einem Fieber erfasst, eilte er dann auf ihr Haus zu, legte sich unter die Veranda und hörte stundenlang einfach fasziniert zu. Nichts Anderes interessierte ihn in solchen Momenten. Deswegen rannte er wohl so schnell und genau deswegen war ihm von Mia auch der Name „Bandit“ verpasst worden.

Sie hatte ihn mehr als einmal hastig auf Agathes Haus zulaufen sehen, als sei er auf der Flucht oder hätte irgendetwas ausgefressen. Dabei war das Gegenteil der Fall. Aber meistens sehen wir nicht die ganze Geschichte. Wir halten den Ausschnitt, den wir gerade sehen, häufig für die Wahrheit. Davor war nicht einmal Mia gefeit. Und das wollte wirklich etwas heißen. Bandit aber störte das wenig- so lange er zu seiner Musik kam. Außerdem war es ja nur ein Name, und von Mia bestimmt nicht böse gemeint. Allerdings hatte er in seinem Leben auch schon andere Erfahrungen gemacht. „Schwarzer Teufel“ oder „Aas“ hatte man ihn zuweilen geschimpft, man hatte nach ihm getreten und wüste Flüche hinterhergeworfen. Er konnte allerdings sogar Flüchen ausweichen. So schnell wie er war durfte das niemanden verwundern. Einmal wäre er beinahe vergiftet, ein anderes Mal fast mutwillig überfahren worden. Gleich mehrere große Steine waren nach ihm geworfen, einer hatte ihn nur knapp verfehlt.

„Ich würde das Vieh am liebsten in einen Sack mit Steinen stecken und im Bach ersäufen“, hatte ein Mann, zitternd vor Wut, gerufen, und seine Frau hatte ihm beigepflichtet. Ein Kind wollte ihn behexen und murmelte: „Abrakadabra Simsalabim, dreimal schwarzer Kater.“ Natürlich war das nicht mal im Ansatz von Erfolg gekrönt gewesen. Das hätte man diesem Kind aber auch gleich sagen können. Solcherlei Sprüche dienen immer nur dazu den Verstand der Menschen zu benebeln. Bandit hatte etwas gelangweilt ausgesehen, dann schnell das Weite gesucht und war dem verblüfften Kind entkommen. An einem anderen Tag jedoch wäre er beinahe nicht mehr entkommen.

Er war in die Falle eines Fallenstellers getreten.

Agathe höchstselbst war damals seine Retterin gewesen. Bandit verfügte ganz offenbar, so wie man das Katzen nachsagte, über sieben Leben.

In Amerika wären es vermutlich noch mehr gewesen, mindestens neun. Dort ist alles ein bisschen mehr und ein bisschen größer als hier. Bandit kam aber auch mit den sieben Leben aus.

Glücklicherweise. Immerhin war er noch immer auf dieser Welt, obgleich man ihn nicht mochte und ihm sogar gelegentlich nach dem Leben trachtete.

Dabei tat er niemandem etwas. Er jagte noch nicht einmal. Das Futter, welches ihm Agathe wie zufällig regelmäßig unter die Veranda stellte, schmeckte ihm wesentlich besser. Es gab, so denke ich, weit und breit keinen harmloseren, liebevolleren und scheueren Kater als ihn. Menschen erschraken manchmal, wenn sie ihn sahen. Weil er so dunkel war, und weil es hieß, er brächte Unglück und Pech. Niemand schien zu sehen, um was für ein außerordentlich schönes Katzenwesen es sich da handelte. Die Angst, der Hass und das Vorurteil bewirken zuweilen diese selektive, sture Blindheit. Mia, die sich beim Namen „Bandit“ nichts gedacht hatte, sah hingegen seine Schönheit, und sie sah auch sein Wesen, seine Empfindsamkeit und Gutmütigkeit. Daher kam sie vom Namen „Bandit“ immer mehr ab und gab ihm allerlei Kosenamen. Er mochte sie, aber nur bedingt.

Denn auch sie war eben ein Mensch, und bei Menschen konnte man nie wissen. So richtig sicher fühlte er sich nur unter der Veranda bei Agathe, wenn er ihrer Musik lauschte. Sie hatte ihn längst bemerkt, aber sie tat so als sei dies nicht der Fall. Agathe hatte einen ganz anderen Namen für ihn. Bei ihr hieß er „Beethoven“. Aber ohnehin ist es ja so, dass eine Katze mindestens drei Namen hat. Einen richtigen Namen, zudem einen Kosenamen, und einen davon kennt nur die Katze selbst.

Niemals jedoch würde sie diesen verraten.

So sind sie eben, diese geheimnisvollen Wesen und Agathe fühlte jedes Mal ein kleines Glück in sich aufsteigen, wenn ihr flauschiger kleiner Zuhörer unter der Veranda lag. Sein Schnurren, wenngleich von der Musik übertönt, war ihr größter Beifall. Ich weiß nicht wie sie es machte, doch Agathe konnte dieses Schnurren tatsächlich sogar während ihres Spiels hören. Lukas natürlich auch. Im Winter sah sie dann diese verräterischen kleinen Fußspuren, die darauf hinwiesen, dass ihr Musikliebhaber ganz in der Nähe war. Beiläufig ließ sie die Tür immer ein wenig auf, in der steten Hoffnung er würde hereinkommen, um sich etwas aufzuwärmen, oder aber sie noch besser zu hören. Er blieb jedoch fast immer draußen.

Die Akustik unter der Veranda war nämlich weitaus besser als man sich das landläufig vorstellen konnte.

Kapitel 2 - Lukas´ Kraft

Räubers Tod vor etwas mehr als zwei Wochen hatte etwas ganz Wesentliches verändert. Lukas, der – von all den Tieren abgesehen - allein mit seiner Mutter im Wald wohnte, hatte in letzter Zeit nun wieder mehr Angst als sonst. Er war sich fast sicher, dass es mit dem Tod von Räuber, Kais Schäferhund, zu tun hatte.

Das Grab seiner älteren Schwester und seines Vaters zu besuchen war Lukas mittlerweile gelungen.

Abschied zu nehmen von Katha und seinem Vater ebenfalls, soweit er das wollte. Ganz würde er sie nie von sich weglassen, so viel stand fest. Das wollte er nicht, und das musste er auch nicht. Es war gut so. Er hatte zudem die Angst vor anderen Menschen abgelegt und Freundschaften geschlossen. Doch nun war eine andere Angst, groß, bedrohlich und schwer zu beschreiben, gemischt mit einem Gefühl ständiger Traurigkeit unweigerlich in ihm gewachsen und damit begonnen sich übermäßig auszubreiten, dann und wann drohte es von ihm Besitz zu ergreifen. In diesen Momenten zählte er vor sich selber auf, was ihm bereits alles gelungen war. Er war sogar als blinder Passagier mit seinem Freund Kai allein nach Holland gefahren, um dort dessen Mutter Heidi zu besuchen. Alles in allem sah es also recht gut aus mit ihm und seinen Ängsten. Doch eine Angst war übriggeblieben. Sie war riesig und hatte diesmal etwas mit seiner Mutter zu tun, (neben seiner Großmutter, genau genommen) die einzige Person, die ihm von seiner Familie noch geblieben war. Auch Lukas, der, seitdem seine Mutter einmal viele Stunden zu spät nachhause gekommen war seither von der mächtigen Angst besessen, sie könnte sterben.

Wie sollte er dann so ganz allein zurechtkommen? Seine Großmutter war alt. Wer würde für ihn da sein? Das mit Katha und Papa war eine Sache.

Mittlerweile hatte er überlebt, hatte weitergelebt, seine Mutter zuverlässig bei ihm. Was aber nun, wenn auch noch das letzte Familienmitglied durch eine Krankheit oder einen Unfall weggehen müsste, auf die andere Seite? Wie würde er dann mit dem Leben zurechtkommen?

Es war doch schon auch so, bei aller gelegentlichen Schönheit, schon schwer genug.

So fand er seinen Weg zu Agathe, einer alten Frau, mit der man über alles sprechen konnte. „Das war bei mir auch so, als ich so ungefähr in deinem Alter war", sagte Agathe. Meine Mutter hatte nämlich ein sehr schwaches Herz, und oft bekam sie wenig Luft. Ihre Lippen sahen meist blau aus, und sie war weiß wie ein Nachthemd.

„Zu meiner Zeit als Kind damals waren übrigens Nachthemden immer weiß", setzte sie hinzu. „Ich hatte deswegen auch keine Geschwister, denn der Arzt hatte meiner Mutter verboten überhaupt Kinder jemals zu bekommen. Lukas schwieg.

„Er hatte ihr prophezeit, dass sie spätestens bei der Geburt sterben würde.“

„Ich war auch nicht geplant", Agathe zögerte, dann lachte sie ein wenig und meinte schließlich: „Aber offenbar sollte es so sein, dass ich komme.“

Lukas dachte vor sich hin, dass er darüber auch ziemlich froh war, denn auf Agathe konnte keines der Kinder im Umkreis verzichten.

Zu wem außer Agathe konnte man wirklich gehen. wenn man etwas auf dem Herzen hatte? Gut, Mama war schon für ihn da, keine Frage.

Doch bei solchen Themen, wo es ja auch immerhin um sie ging, wollte er lieber mit Agathe sprechen. Niemand konnte so zuhören wie sie, abgesehen von Mia, und ihre Antworten halfen ihm meistens. Ja, bei Mia taten sie das auch, doch ab und zu, das spürte er, kannte keiner die Antworten auf solche Fragen besser als eben Agathe. „Wenn es meiner Mutter so schlecht ging“, fuhr Agathe fort, „dann habe ich mir oft überlegt was ich im Falle ihres Todes machen sollte. Lukas wusste genau was sie meinte. „Natürlich wusste ich damals nicht, dass meine Sorgen umsonst waren, denn sie wurde nicht weniger als 73 Jahre alt, was, zur damaligen Zeit und in Anbetracht ihrer schweren Erkrankung, tatsächlich ein hohes Alter war.

Doch selbst da, und damit hatte ich als Kind nicht gerechnet, fehlte sie mir sehr.

Als Kind denkt man manchmal, dass Erwachsene automatisch klarkommen, und dass es eine Leichtigkeit sei, seine Mutter zu verlieren wenn man selbst schon alt ist.

Jedenfalls hatte ich mir das als Mädchen so vorgestellt. Als Kind jedoch konnte ich noch nicht einmal diesen Gedanken ernsthaft zu Ende führen, zu undenkbar war er damals für mich.

Dabei hätte ich als Kind viel eher jemanden gehabt, der sich um mich gekümmert hätte: Meinen Vater, meine Tanten und meine Großmutter, die Familie einer Freundin.“ Sie goss sich Wasser in ein Glas und sprach weiter. „Als ich erwachsen war, war das nicht mehr der Fall. Ich fühlte mich zuerst sehr allein“. Sie dachte kurz nach, so als wäre sie nicht sicher, ob sie weitersprechen sollte oder nicht.

„Es hat sich dann etwas geändert“, brachte sie schließlich hervor. „Wie denn, was denn?“, wollte Lukas unbedingt wissen. „Na ja, es ist irgendwie ziemlich schwer zu erklären“. Sie sprach nun sehr leise, „aber plötzlich merkte ich, dass meine Mutter ständig bei mir war und mich begleitete.“ „Wie ein Engel?“, wollte Lukas nun von ihr wissen.

„Schwer zu sagen“, antwortete Agathe. „Vielleicht schon auch irgendwie wie ein Engel, aber das meine ich nicht.“

Sie stand auf, ging zum Regal und holte ein großes Kochbuch hervor. „Schau es dir mal an“, forderte sie Lukas auf. Das Buch war sehr alt, der Einband etwas fleckig, und in dem Buch standen Rezepte, die von Hand geschrieben waren. Lukas konnte die alte Handschrift nicht richtig entziffern, aber es waren trotzdem eindeutig Rezepte, das sah er an der typischen Anordnung. „Das ist nur ein Beispiel“, erklärte ihm Agathe. „Ich habe damit begonnen nach ihren Rezepten zu kochen, aber das war längst nicht alles. Immer wieder fiel mir plötzlich auf, dass ich so war wie ich bin, weil es sie gegeben hat. Sie hat mir gezeigt wie man verletzte Vögel und Igel füttert und wieder aufzieht, dass man freundlich zu den Menschen sein soll, weil keiner von ihnen es am Ende leicht haben wird – all dies. Und jedes Mal, wenn wieder einmal ein Vogel auf meiner Veranda meine Hilfe brauchte, oder mir jemand sagte wie freundlich ich sei, da war meine Mutter plötzlich bei mir, und es ging etwas von ihr aus, so etwas wie ein warmes, wunderbares Licht. Ich habe sie nicht wirklich gesehen“, setzte sie erklärend hinzu, „doch ich habe gespürt, dass sie da war.

Ich habe es in diesen Augenblicken einfach nur tief in mir gewusst. Und dann kam sie in meine Träume. Die ganze Nacht hindurch träumte ich von ihr. Das war so als wäre sie wirklich da. Ich habe damit begonnen die Nächte zu lieben – aber auch die Tage waren dann weniger schwer. In meinen Träumen war meine Mutter gesund und ihre Lippen rot anstatt blau. Wir sprachen, kochten und lachten. Diese Träume – warum sollten sie weniger wahr sein als der Rest?“