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© 2019 Volker Himmelseher

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7504-4266-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Was sich spätestens im Sommer 1918 abzeichnete, wurde im September Gewissheit: Der Erste Weltkrieg ging für Deutschland verloren. Der Kaiser und seine Marineführung forderten im November zwar ein letztes sinnloses Himmelfahrtskommando der deutschen Flotte gegen die Royal Navy und erhofften damit noch eine Wendung des Kriegsglücks zugunsten Deutschlands. Doch die Marinesoldaten meuterten gegen ein weiteres Blutvergießen und zettelten eine Revolution an, die auch die Hansestadt Hamburg erfasste.

Deutschlands Kapitulation wurde von den gegnerischen Mächten mit vielen Demütigungen befrachtet. Die kriegsmüde Bevölkerung fand keinen Frieden, sondern durchlebte schlimme Turbulenzen.

Trotz staatstragender Bemühungen folgten Hungerjahre mit Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und immer wieder aufkommenden Revolten.

In dieser Zeit fand ein Kleeblatt von Freunden in Hamburg wieder zusammen und arbeitete in den angestammten Berufsfeldern. Einer wurde wieder Gefängnisinspektor. Er hatte für den Strafvollzug viele Verbesserungen im Sinn. Der zweite war an der Westfront als Kriegsberichterstatter und wurstelte sich nun nach der Heimkehr als freier Berichterstatter durch die Hamburger Medienwelt. Der letzte hatte als Kriminalinspektor seine Heimatstadt nicht verlassen, sondern dort auch während der Kriegszeit für Recht und Ordnung gekämpft.

Der Leser erlebt, wie diese Männer einzeln und als Team mit besten Absichten versuchen, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen. Sie kommen dabei einem Hurenmörder auf die Spur, dem es zunächst gelingt, seine Opfer unter den Toten dieser unruhigen Zeit zu verbergen. Wo kann man einen Wassertropfen besser verstecken als in einem Wasserfall?

Die Geschichte der Freunde und des Mörders ist eingebettet in das beschwerliche Tagesgeschehen. Gegen den Rat des Sprichworts »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um« lassen die mutigen drei keine Gefahr aus, um das Richtige zu tun.

Der damit einhergehende Spannungsbogen der Geschichte ermuntert die Leserschaft zur Zivilcourage, an der es heutzutage oft mangelt. Die Erschwernisse der Weimarer Zeit senden zudem Warnsignale aus, das zu bewahren und zu beschützen, was wir heute um so vieles besser als Lebensgrundlage haben.

Schleswig Holstein, Ende Oktober 1918

Eine Meuterei in der deutschen Flotte beschleunigt das Ende des Kaiserreichs und des Krieges.

Wilhelmshaven

Der Befehl der deutschen Marineführung am 29. Oktober war eindeutig: Die Schiffe der deutschen Hochseeflotte sollten für eine Entscheidungsschlacht gegen die Royal Navy in die südliche Nordsee auslaufen.

Unter ihren Besatzungen war der Teufel los. Auch dort waren die Wortbeiträge eindeutig: »Was soll das? Das Heer hat den Krieg doch längst verloren gegeben, und die Regierung verhandelt schon um einen Waffenstillstand. Da ist es doch Wahnsinn, jetzt noch einmal zu kämpfen!«, meinte einer.

»So etwas können sich nur verwöhnte Admiralsärsche in bequemen Sesseln und geheizten Konferenzräumen ausdenken!«, ergänzte ein zweiter. »Das wäre ein Himmelfahrtskommando und würde Tausende Tote kosten. Wir lassen uns nicht verheizen!«, beschloss ein dritter.

»Die wollen auf Kosten unserer Knochen ihren verdammten Ehrenkodex erfüllen!«, war die einhellige Meinung.

Die Schiffe lagen auf Schillig-Reede vor Anker.

In der Nacht vom 29. auf den 30. Oktober kam es auf drei Schiffen des III. Geschwaders zu Befehlsverweigerungen. Die Matrosen weigerten sich, die Kessel anzuwerfen und die Anker zu lichten. Die Offiziere brüllten herum und drohten mit drakonischen Strafen, doch es half alles nichts.

Auf den Schlachtschiffen des I. Geschwaders, SMS Thüringen und SMS Helgoland, gingen Teile der Besatzung zu Sabotageakten über. Erst als am 31. Oktober einige Torpedoboote ihre Geschütze auf diese Schiffe richteten, kamen die Meuterer fürs Erste zur Besinnung und gaben auf. Zweihundert von ihnen hatten sich unter Deck verschanzt. Nun ließen sie sich widerstandslos festnehmen. Der größte Teil von ihnen wurde in das Wilhelmshavener Gefängnis gebracht. Unter dem Druck der kommenden Ereignisse sollten diese Männer erst am 6. November wieder freikommen.

Der Seekriegsleitung war inzwischen klar geworden, dass die beabsichtigte Entscheidungsschlacht aufgegeben werden musste. Sie ließ ihre Schlachtpläne schweren Herzens fallen. Stattdessen bemühten sie sich nun, den allgegenwärtigen Ungehorsam der Mannschaften zu beenden. Die Leitung war sich ihrer Befehlsgewalt nicht mehr sicher.

Der Geschwaderkommandeur, Vizeadmiral Hugo Kraft, verlegte einen Teil der Schiffe von Wilhelmshaven in den Heimathafen Kiel. Am 31. Oktober brach der Konvoi Richtung Kieler Ostseehafen auf. Noch ahnte niemand, was diese Verlegung mit sich bringen und was in den nächsten Tagen abgehen würde.

Um die Disziplinbereitschaft der Mannschaften zu testen, ließ der Vizeadmiral in der Helgoländer Bucht eine Übung durchführen. Sie verlief ohne Störungen. Seine Befürchtungen verflogen langsam, aber sicher.

Bei der Fahrt durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal fühlte Kraft sich schon wieder stark genug, einige vermeintliche Rädelsführer der Meuterei festnehmen zu lassen. Er wollte sie in Kiel ins Gefängnis stecken. Es handelte sich um siebenundvierzig Matrosen der SMS Markgraf.

Kiel

Die Überführung der Schiffe erwies sich als strategischer Fehler. Die Hafenstadt war wegen der großen Werften eine Arbeiterstadt. Diese Männer hatten sich stark gewerkschaftlich organisiert. Werft- und Dockarbeiter solidarisierten sich mit der Schiffsbesatzung und den Festgenommenen.

Auch die Mannschaften der in Kiel stationierten Marineschiffe opponierten mit. Alle einte der Entschluss, sich der Obrigkeit nicht länger zu fügen.

Das Kieler Gewerkschaftshaus in der Legienstraße wurde zur Wiege eines deftigen Matrosenaufstands. Es handelte sich längst schon nicht mehr nur um einfache Befehlsverweigerung.

Um die zweihundertfünfzig Aufständische trafen sich in der Nacht des 1. November im Gewerkschaftsgebäude. Sie erarbeiteten einen Forderungskatalog und schickten ihn durch eine Delegation zu den Marineoffizieren. Sie forderten die Freilassung der Meuterer, die Beendigung des Krieges, Abdankung des Kaisers und für sich bessere Lebensmittelversorgung. Die Offiziere waren zu diesem Zeitpunkt noch so arrogant, die Delegierten nicht einmal zu empfangen. Am nächsten Tag sperrte die Polizei auf ihren Befehl hin sogar das Gewerkschaftshaus.

Die Aufständischen suchten daraufhin verstärkt Unterstützung durch Gewerkschaftsführer und Politiker der USPD und SPD. Schließlich hatten sie diese gewählt. Lothar Popp und Karl Artelt, beide Vertreter der USPD, übernahmen die Führung eines neu gegründeten Kieler Arbeiter- und Soldatenrates.

Am 3. November trafen sich mehrere tausend Arbeiter und Matrosen auf dem großen Exerzierplatz der Stadt. Von dort zogen sie zum Gefängnis, um die Gefangenen nun selbst zu befreien. Die Staatsgewalt schritt gegen sie ein. Ein Leutnant namens Oskar Steinhäuser befahl zunächst nur Warnschüsse. Als diese nichts bewirkten, schossen seine Männer scharf in die Demonstranten. Sieben von denen starben, knapp dreißig wurden verletzt. Die Demonstranten waren zum größten Teil selbst bewaffnet. Sie erwiderten das Feuer. Steinhäuser und zwei seiner Kameraden wurden ebenfalls verletzt, allerdings durch Gewehrkolben.

Die Nachricht von dem Blutbad erreichte binnen Stunden alle Flottenstützpunkte an der Küste und sorgte überall für Unruhen.

Nach dem Schlagabtausch zogen sich in Kiel beide Seiten erst mal zurück. Doch schon am nächsten Tag bekämpften sie sich noch massiver. Die Aufrührer durchstreiften die Stadt und säuberten sie von ihren Gegnern. Sie gewannen langsam die Oberhand.

Karl Artelt überzeugte viele Kieler mit seinen Beschwörungen für ihre Sache. Im Laufe des Tages brachten die Aufständischen alle öffentlichen Einrichtungen unter ihre Kontrolle. Die rote Fahne wehte über der Stadt. Paul Friedmann, ein Matrose aus Hamburg, hatte sie voll Stolz über dem Rathaus gehisst.

Vierzigtausend Aufständische wiederholten gebetsmühlenartig ihre Forderungen und ergänzten sie um eine weitere, nämlich nach freiem und gleichem Wahlrecht für Männer und Frauen. Diese Forderungen bekamen später den Namen »die Kieler Punkte«.

Am Abend kam der Reichstagsabgeordnete Gustav Noske aus Berlin in Kiel an. Der SPD-Politiker sollte für die Reichsregierung den Aufstand unter Kontrolle bringen. Noske erreichte mit Verhandlungsgeschick einen tragenden Konsens. Wenige Tage später wählte man ihn zum Gouverneur. Ihm gelang es mehr und mehr, die Räte zurückzudrängen. Aber die Revolution suchte schon längst ein Ventil in den anderen deutschen Ländern.

Hamburg, 4. November 1918

Der Regen peitschte um das Alte Stadthaus. So nannte man das Hamburger Polizeipräsidium, das in den Straßen Neuer Wall und Stadthausbrücke lag. Das Görtz’sche Palais, welches um 1711 für den holsteinisch-gottorpischen Gesandten Georg Heinrich von Görtz errichtet wurde, war 1814 an die Hamburger Polizeibehörde gegangen.

Schnell hatte Raumnot nach Erweiterungen verlangt. Zwischen 1888 und 1891 entstand an der Straßenecke Neuer Wall-Stadthausbrücke ein viergeschossiger Erweiterungsbau. Der Anbau erhielt die Hausnummern Neuer Wall 88 und Stadthausbrücke 4. Unter Neuer Wall 88 residierte nun der Polizeipräsident. Dort lagen auch die Leitstelle der Kriminalpolizei und die Räume anderer Dienststellen. Zwischen 1916 und 1921 wurden als weitere Anbauten das Portalgebäude sowie die Fleetüberbauung errichtet. In diesem Gebäudeteil hatte Kriminalinspektor Jörg Blum sein Amtszimmer.

Der Kriminalinspektor bevorzugte die Recherche an der frischen Luft, doch an Regentagen war Aktenstudium angesagt. In solchen Stunden ordnete er nicht nur Akten, sondern seine Gedanken, wenn nicht gar sein Leben. Er verteilte zurzeit mit heruntergezogenen Mundwinkeln und gelangweilt Papierhaufen auf seinem Schreibtisch.

Die Meldung über einen Marineaufstand in Kiel machte ihm Sorgen und band seine Gedanken. Jörg Blum befürchtete, die Unruhen würden auch in die Hansestadt überschwappen. Sie hatten hier selbst Probleme genug und brauchten sie nicht noch von außen eingeschleppt, erst recht keine, die blutig enden konnten.

Die politische Lage in der Stadt war so schon angespannt. Der Krieg, der verloren ging, zeitigte schlimme Folgen. Die Kämpfe fraßen die Männer an der Front hinweg, und in der Heimat litten die Zurückgebliebenen Hunger und hatten gegen alle möglichen Mangelerscheinungen zu kämpfen. Das Geld wurde immer weniger wert, weil die Regierung in der Kriegszeit so viel davon gedruckt hatte, als wäre es Spielgeld.

Blums politische Sicht auf die Dinge bekam langsam Risse. An seiner Sympathie für die Sozialdemokratie erwuchsen ihm langsam Zweifel. Letztlich hatten sie die vom Kaiser geforderten Kriegsanleihen durchgewinkt und taten sich auch jetzt schwer, Farbe für die kleinen Leute zu bekennen. Jörg Blum sah keine Erfolg versprechenden Hinweise, wie es weitergehen sollte.

Der Kriminalinspektor kratzte sich bekümmert an den dunklen Bartstoppeln seines kantigen Kinns.

Er war heute mit seiner BMW zum Dienst gekommen. Er liebte Motorradfahren, doch als er an das Dreckswetter dachte, fühlte er förmlich, wie der Regen auf dem Nachhauseweg mit feinen Nadelspitzen in seine Haut dringen würde. Er wollte in der Hoffnung auf spätere Wetterberuhigung heute länger arbeiten.

Ein resolutes Anklopfen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Svenja Möller, seine Sekretärin, stürmte in gewohnt guter Laune herein. »Kann ich noch etwas für Sie tun, Chef?«, wollte sie wissen. »Sonst würde ich heute gerne früher gehen. Ich muss noch Besorgungen machen.« Svenja zog hörbar die Luft in ihre niedliche Stupsnase. Sie mochte den frischen Duft seines Rasierwassers und fand es besonders anziehend, dass sein Eigengeruch nicht darunter verschwand. Der Kriminalinspektor war für sie der begehrenswerteste Junggeselle im Präsidium. Für ihn würde sie gerne ihr schon zu lange andauerndes Zölibat aufgeben.

Jörg Blum schaute mit einem Lächeln auf. Er war für die Ablenkung dankbar. Er mochte Svenja. »Dann mal los. Ich hab nichts für Sie.«

Seine Stimme klang tief und hart. Sie verlieh Autorität und verfehlte bei Verhören und Frauen ihre Wirkung nicht.

Ein Strahlen ging über Svenjas Gesicht. Sie verabschiedete sich mit einer liebevollen Ermahnung: »Arbeiten Sie auch nicht so lange. Das Leben ist kurz genug.« Sie zwinkerte ihm zu.

Der Kriminalinspektor quälte sich ein Lachen ab, aber verschwieg den eigentlichen Grund, der ihn noch hierbleiben ließ. Er schaute seiner Sekretärin hinterher. Ihre reizende Figur erweckte nicht zum ersten Mal sinnliche Empfindungen in ihm.

Als die Tür zufiel, merkte er erschrocken, dass er Svenja Möller immer noch träumend hinterhersah.

Hamburg, 5. November 1918

Der 5. November war ein trüber Herbstmontag. Kriminalinspektor Blum saß in seiner Amtsstube und las das »Echo«. Ihm stieg der ölige Geruch der Druckerschwärze in die Nase. Das Journal war tagfrisch. Er musste aufpassen, dass seine Handflächen nicht schwarz wurden. Der Hauptartikel berichtete ausführlich vom Aufstand der Matrosen im nur hundert Kilometer entfernten Kiel. Er sprach von schlimmen Entwicklungen, die bald auch über ihr Leben hereinbrechen konnten.

In Kiel hatten sich die Sozialdemokraten, denen der Kriminalinspektor in seiner Gesinnung nahestand, bei der Bewältigung der Krise recht wacker geschlagen. Aber für das Deutsche Reich allgemein und für Hamburg insbesondere trieben Blum große Sorgen um. Längst war über die Zukunft nichts entschieden. Der Fortbestand der Monarchie, eine Räterepublik oder eine demokratische Republik, alles war denkbar.

Jörg Blum ließ eine nicht angezündete Zigarette in seinem Mund auf und ab wippen. Er war dabei, sich das Rauchen abzugewöhnen. Aber einen Lungenzug ersetzt das »Kaltrauchen« wirklich nicht, dachte er verdrießlich.

In der Ferne hörte er die Sirene eines Feuerwehrwagens heulen. Was kann bei diesem Dauerregen eigentlich brennen?, fragte er sich, und seine Laune wurde nicht besser. Das änderte sich erst recht nicht, als Svenja Möller in sein Zimmer trat und meldete: »Ich bin nur die arme Botin von Kriminaldirektor Otto Lieder, Ihr Boss ruft zum Rapport.«

Jörg Blum rollte die Augen. Sein Vorgesetzter war wirklich nicht sein Freund. Wahrscheinlich brütete der wieder über Verbesserungsmöglichkeiten seiner Karriere. Wie eine Henne auf dem Ei, machte Blum sich über dieses Bild lustig. Der will immer nur für sich selbst etwas Großes schaffen. Dafür geht er sogar über Leichen.

»Bleiben Sie ruhig, Chef«, gab ihm Svenja Möller mit auf den Weg. Der Kriminalinspektor vergatterte sich, ihrer Empfehlung zu folgen. Ich höre einfach zu, bleibe stumm. Sein Monolog ist mir lieber als ein Streitgespräch. Der Kerl kann mich zu schnell in Harnisch bringen, entschied er. Das letzte Mal hätte ich ihn am liebsten vors Schienbein getreten. Aber ich musste inzwischen einsehen, dass ein Streit mit ihm mir nur selbst schadet.

Jörg Blum wurde schon erwartet. Lieders Sekretärin taxierte ihn durch die Lesebrille. »Moin, Sie müssen noch einen Moment warten.

Er telefoniert noch.« »Kein Problem«, antwortete Blum und blieb an der Tür stehen. Ein Sitzmöbel für Besucher war im Vorzimmer bestimmt bewusst nicht vorhanden. Ein Schreibtisch mit Stuhl, Schreibmaschine und Telefon darauf sowie Aktenschränke aus Metall waren das einzige Inventar.

Lieders Perle hatte längst schon wieder weitergetippt. Sie klimperte auf den Tasten mit einschläfernder Regelmäßigkeit. Jörg Blum ärgerte sich über ihre herablassende Art. Wie der Herr, so’s Gescherr, bewertete er ihren arroganten Empfang.

Endlich wurde er vorgelassen. Ein bauchiger Samowar blinkte und machte Geräusche.

Der zarte Duft von Darjeeling-Tee traf ihn verführerisch in der Nase. Warum haben in dieser schlimmen Zeit immer nur Kotzbrocken solche Schätze?

Leute wie ich trinken höchstens Früchtetee, dachte er vergrämt.

Der Kriminaldirektor, klein und schmächtig, war hinter seinem übergroßen Schreibtisch kaum zu sehen. Mit seinem Geierkopf schaute er ihn wichtig an. Unter seinen Augen lagen schwere Tränensäcke. Er hatte extrem schmale Lippen und einen kleinen, verbissenen Mund. Lieder wirkte nicht übertrieben sportlich, aber sein Bauch wölbte sich nur ein ganz klein wenig vor. Ohne einen Gruß begann er zu sprechen: »Sie wissen bestimmt schon, dass wir die Auswirkungen des Matrosenaufstands in Schleswig-Holstein nun auch in Hamburg erwarten?« Immer, wenn er beim Sprechen schluckte, rollte sein großer Adamsapfel am vorderen Hals hin und her.

Jörg Blum blieb geschäftsmäßig: »Das ist wohl die allgemeine Meinung, Herr Kriminaldirektor.«

»Der Gegner ist stark, die Bürgerlichen könnten glatt von den Bolschewisten zerrieben werden. Wenn die Inflation noch weiter zunimmt und Chaos ausbricht, rennen die Leute zu denen, die ihnen Brot versprechen.

Und das waren schon immer die Roten.

Die können nicht mit Geld umgehen.

Wir müssen alles tun, dass nicht auch bei uns Bürgerkriegsstimmung eintritt.

Ich habe Ihnen die Leitung einer Sonderkommission zugedacht. Wir müssen was gegen die Anfänge tun.«

Er ließ Jörg Blum gar nicht zu Wort kommen, sondern fuhr mit weiteren für den Kriminalinspektor schwer verdaulichen Sprechblasen fort: »Bedenken Sie, der Staat muss das Gewaltmonopol behalten. Wir können auf Dauer keine Übergriffe dulden.

Letztlich haben die Aufständischen sowieso keine Chance. Gehen Sie vorsichtig, aber bestimmt mit ihnen um. Enttäuschen Sie mich nicht.«

Jörg Blum hatte eine differenzierte Meinung zu seinen Erklärungen. Quatsch mit Soße! Gedanken oder gar der Widerstand gegen eine Regierung waren nicht dadurch lächerlich, dass sie keine Chance zu haben schienen! Ich würde unseren Staat gerne als eine makellose Maschine mit gut geöltem Getriebe sehen. Nur leider gibt es in diesem Getriebe Menschen wie Lieder, die nichts lieber tun, als Sand hineinzustreuen, war Blum sich sicher. Er antwortete süffisant und kurz: »Eine Enttäuschung ist das Schwinden einer Täuschung.«

Ansonsten sah er vor sich hin, blieb still wie ein pokergesichtiger Stoiker. Er antwortete nichts zur Sache selbst, es wäre nur etwas Falsches gewesen.

Freiheit ist auch die Freiheit, sich zu verweigern, dachte er voll Sarkasmus. Er fand Otto Lieder so unterhaltsam wie eine Steuererklärung.

Der Kriminaldirektor wurde langsam ungeduldig. Seine Stimme gewann an Schärfe, als wollte er mit ihr Bescheid geben, dass er immer Bescheid wusste: »Meine Entscheidung scheint Sie nicht zu begeistern?

Dieses rote Pack und ihre kommunistischen Pamphlete rufen eindeutig zum Umsturz auf. Das kann doch auch nicht in Ihrem Sinne sein?«

Der indirekte Vorwurf erwischte Jörn Blum wie ein Schlag auf den Solarplexus. Seine Zurückhaltung bröckelte.

Er hatte auch hierzu andere Gedanken:

Die Militärs und Adeligen hielten nach seiner Sicht beharrlich an ihrer gesellschaftlichen Stellung fest, die längst überholt war. Sie hingen zudem fragwürdigen politischen Ideen an. Sie trugen ein gerüttelt Maß an Schuld an dem Dilemma. Wer die Gegenwart nicht vertrug, verkroch sich eben in die Vergangenheit. Alles muss sich verändern, damit es bleibt, wie es ist, war seine Bewertung dieses Verhaltens.

Bruns Gesicht spiegelte weiterhin professionelle Aufmerksamkeit. In Wahrheit war er wutgeladen.

Mit seiner Antwort blieb er vage und verbindlich: »Nun ja, natürlich nicht, aber es ist wirklich nicht so, dass ich nichts zu tun habe. Wir stehen in meiner Abteilung vor einigen ungelösten Morden. Aber ich verstehe, hier muss man wohl Prioritäten setzen. Einfach wird das nicht werden. Wir müssen an Fäden ziehen, die noch gar nicht existieren.« »Wie meinen Sie das?«

»Na ja, wir denken doch nur alles theoretisch vor und wissen gar nicht, ob es so kommt.«

Er benutzte das »Wir«, um den Kriminaldirektor nicht zu sehr zu düpieren.

»Vordenken ist immer gut, dann ist man im Ernstfall gewappnet. Sie werden dann schon die richtigen Fäden finden«, antwortete der bissig.

»Zusammenführen und zusammen führen, ist mein Motto«, lenkte der Kriminalinspektor zweideutig ein. »Immer auf dem Quivive, Herr Kriminalinspektor«, kam von Lieder zurück. Doch das war mehr Spott als Belobigung.

Jörg Blum sah in Otto Lieders wässrig blaue Augen, deren Augenäpfel rot gerändert waren, und ging ins Detail. Er wollte wissen, wo er dran war: »Wir brauchen genügend Polizeikräfte auf den Straßen.« »Die sollen Sie haben. Für die Koordinierung der Schutzmannschaften stelle ich Ihnen Kommissar Helge Jansen an die Seite.

Aber keinen unverhältnismäßig brutalen Einsatz bitte.

Ich lasse Ihnen natürlich alle Freiheiten«, relativierte er die Ermahnung sofort wieder. Der Kerl hält sich immer ein Hintertürchen auf, dachte Blum.

»Freiheit birgt immer Risiken in sich«, löckte er deshalb gegen den Stachel.

»Wer völlige Sicherheit will, gibt jede Freiheit auf. Ja, Freiheit ist Risiko. Bedenken Sie jedoch, nur wer nichts macht, kann auch nichts falsch machen.«

Hör auf, mich mit Worthülsen dichtzusabbeln, dachte Jörg Blum genervt. Lächle, du kannst nicht alle töten, sagte er sich, um seine Wut herunterzufahren.

»Wir sollten nicht das tun, was unsere Gegner erreichen wollen. Eine Kapitulation würde sie nur zu weiterer Eskalation animieren«, antwortete er stattdessen.

Otto Lieder hatte die Grundstimmung des Kriminalinspektors durchaus erspürt und suchte die Deeskalation, er war vom Grunde her ein Feigling.

Holzauge, sei wachsam, dachte Jörg Blum trotzdem. Ich muss ihm wie ein fleißiges Zahnrädchen im Getriebe erscheinen, dann gibt der Kerl vielleicht Ruhe. In diebischer Freude dachte er: Wenn Svenja Möller Lieder nochmals am Telefon durchstellen muss, dann heißt es: Notiz an mich: Erst auflegen, dann erst Arschloch sagen. Er schenkte Lieder zum Abschied ein verlogenes Lächeln.

Er bekam nichts zurück. Die Verabschiedung verlief kurz und schmerzlos.

Als der Kriminalinspektor ging, hatte er immer noch eine »Sch…laune« im Gepäck. Das änderte sich erst, als er in seinem Büro auf die gut gelaunte Svenja Möller traf. Er stellte sich vor, wie schön es wäre, für das Wochenende gemeinsame Pläne zu schmieden. Mit Svenja allein, schmunzelte er schon bei dem Gedanken. Er würde mit ihr an der Elbe längsspazieren. Dort gab es ein Café mit der besten Johannisbeertorte der Stadt. Natürlich müsste sich der vergangene regnerische Himmel dafür lichten.

Zurück im wahren Leben wurde Jörg Blum wieder geschäftsmäßig: »Fräulein Möller, kurbeln Sie bitte mal für mich. Ich hätte gerne Kommissar Helge Jansen an der Strippe.« Svenja Möller machte sich sofort an die Arbeit.

»Kommissar Jansen, mit wem spreche ich?«, klang es in Blums Ohr. »Hier spricht Jörg Blum.« Er verzichtete auf seinen Rang. Er hatte den höheren.

Helge Jansen lachte an der anderen Seite schallend auf. »Das ist ja prima, mein Lieber, ich hatte dich auch auf der Liste, aber du warst natürlich wieder schneller.«

Die beiden Männer kannten sich, mochten sich und duzten sich.

»Lieder hatte dich bestimmt schon geimpft?«, wollte Jörg Blum wissen. Auf Jansens Bestätigung hin schlug er vor: »Können wir uns auf ein Bier treffen, um die Einzelheiten abzusprechen?« Sie einigten sich auf das Lokal Goldener Anker in der Kastanienallee. Das Gasthaus schien Blum für ihr Treffen besonders sinnig. Es war ein Treffpunkt der Linken, und er kannte es gut. Zu seinem Kollegen frotzelte er: »Segelschiffe hängen dort von der Decke, was will man mehr, wenn man Probleme mit Matrosen hat?«

»Schön, ich erwarte dich dort in einer halben Stunde«, beendete Jansen das Gespräch.

Knack, die Verbindung war unterbrochen.

Jörg Blum verabschiedete sich von Svenja Möller mit seinem charmantesten Lächeln.

Als er den Schankraum des Goldenen Ankers betrat, schlugen ihm Tabakdunst und der Geruch von frisch gezapftem Bier entgegen. Hafenarbeiter und Matrosen standen am Tresen und diskutierten. Die Zeitungen, die er zu sehen bekam, passten: Der »Rote Stern«, die Arbeiterillustrierte, und das Hamburger »Echo« der Sozialdemokraten standen im Zeitungsständer. Ganz hinten links sah Jörg Blum seinen Kollegen an einem Zweiertisch sitzen. Er hatte schon ein Bill-Bräu vor sich stehen. »So, wie man ihn kennt«, murmelte Blum belustigt.

Die beiden Männer begrüßten sich freundschaftlich. Als die Kellnerin auch vor Blum ein Bier hingestellt hatte, war die Welt für einen Moment in Ordnung. Sie stießen miteinander an und Blum meinte jovial: »Auf gute Zusammenarbeit.«

Nach einigem privaten Hin und Her gingen sie in medias res. Sie diskutierten die Probleme sachlich und schnell. Am Schluss standen klare Vereinbarungen. Jansen würde bei jedem aufkommenden größeren Problem mit Blum telefonisch Kontakt aufnehmen. Man wollte dann gemeinsam einen Lösungsweg suchen. Außerdem sollten dem Kriminalinspektor alle Tagesbefehle, Protokolle und Berichte aus der Abteilung I so schnell wie möglich zugehen. »Ich werde mich nur dann bei dir melden, wenn ich glaube, irgendwo Senf hinzutun zu müssen«, versprach Blum. Als alles besprochen war, lud er Jansen auf einen Brathering ein. Der schmeckte ihm hier besonders gut. Sie beendeten das Zusammentreffen zufrieden mit einem letzten Bill und einem Korn dazu.

Zur gleichen Zeit saß Bürgermeister Werner von Melle mit seinen Senatoren zusammen. Sie mutmaßten ebenfalls über die Entwicklung, die die Stadt erfassen würde. Mehrheitlich waren sie der Meinung, dass der Aufstand bald auf die Hansestadt übergriffe. Besonders beängstigend fanden sie, dass bei Blohm & Voss, in der Reiherstiegwerft und bei großen Werftzulieferern bereits Sympathiestreiks drohten. »Seiner« SPD, der MSPD (Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands) und den Gewerkschaften war es jedoch fürs Erste gelungen, einen Sympathiestreik für die Kieler Genossen zu vertagen. Bei Blohm & Voss war aber am Vormittag bei ersten Tumulten die Werkskantine zerschlagen worden. »Der Wind fegt zurzeit mit einer starken Brise von der Nordsee die Elbe herauf und weiter über Lübeck bis zum Ostseeufer. Ach, könnte er doch die Matrosenbrut mit seiner Kraft dort zurückhalten«, meinte von Melle verdrießlich.

Ein Senator wiegelte ab und erinnerte an die Januartage: »Über dreißigtausend Werftarbeiter hatten damals die Arbeit niedergelegt und das Ende des Krieges gefordert. Es herrschten in der Stadt kriegsähnliche Zustände.

Damals waren sich die politischen Führer aber nicht einig, und so bröckelte Anfang Februar bereits die Streikbereitschaft.

So wird es auch dieses Mal kommen.« Den meisten Herren im Rathaus schwante jedoch, dass es diesmal anders würde.

Die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) kündigten für den Abend eine Kundgebung im Gewerkschaftshaus am Besenbinderhof an. Der Treffpunkt ähnelte dem Ausgangspunkt für die Revolte in Kiel allzu genau.

Die Einladung erhielt große Resonanz. Am Abend drängelten sich über sechstausend Menschen vor dem Haus am Besenbinderhof. Es gab fast kein Durchkommen. Bald war der Versammlungsraum überfüllt. Wer in den hinteren Reihen stand, konnte nahezu nichts hören. Aber alle Anwesenden blieben trotzdem da. Sie wussten, worum es ging, und das war ihnen wichtig.

Wilhelm Dittmann von der USPD trat aufs Podium. Der hochgewachsene Mann mit langem schwarzem Haar und kühn geschwungenem Schnauzbart begann mit blitzenden Augen seine Rede. Die Zuhörerschaft verwandelte sich in ein einziges riesiges Ohr. In allen Augen brannte das Verlangen nach einer besseren Zukunft:

»Das Alte stürzt, und das Proletariat sieht sich über Nacht vor die Aufgabe gestellt, die politische Macht zu ergreifen«, schrie Dittmann in den Saal.

Seine Zuhörer verstummten sofort und lauschten gebannt. Der Politiker fuhr mit lodernden Worten fort und sprach nun über den Segen der Revolution. Störgeräusche entstanden.