Iván Repila

Der Feminist

Roman

Aus dem Spanischen von
Matthias Strobel

Suhrkamp

Der Feminist

Hört zu: Ich werde es euch singend sagen

Nacho Vegas

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Ich bin der größte Feminist der Welt.

Trotzdem habe ich meine Widersprüche. Gerade zum Beispiel werfe ich mit fünf Freunden Eier auf eine Gruppe von nackten oder halbnackten Frauen, die vor dem Rathaus demonstrieren. Die beiden ersten Wurfgeschosse haben, weil zu stark geschleudert, ihr Ziel verfehlt, aber die nächsten beiden sind den Frauen, die das Hauptbanner tragen, direkt ins Gesicht und auf die Brüste geknallt. Ich sehe unsere Eier in Zeitlupe fliegen, eine schöne Parabel beschreiben, erst von unten nach oben, dann von oben nach unten, aufplatzen und zu klebrigem Sabber werden. Ich muss an David und seine Schleuder denken, die Kurve, die sein Stein in die Luft malte, bevor er in Goliaths Stirn einschlug. Und ich kann nicht anders, als meiner eigenen These zuzustimmen, dass der Gewalt auch Schönheit innewohnt.

»Die mit der rasierten Muschi ist scharf«, sagt Hugo zu mir.

Ich könnte nicht genau sagen, wogegen sich der Protest eigentlich richtet, weil ich mich schon seit Wochen an solchen Aktionen beteilige und die Argumente durcheinanderbringe, was natürlich auch auf meine Mitstreiter zutrifft, also weiß ich nicht, gegen was oder gegen wen ich da Eier werfe. Es könnte auch meine Mutter sein. Oder meine Freundin. Oder meine Schwester. Oder meine tote Großmutter. Die Bereitschaftspolizei, die zwischen den Demonstranten und Gegendemonstranten postiert ist, wird nervös, als dreihundert Gramm Eigelb die Haare einer Blondine orange einfärben, aber die Menschenmasse bietet uns Schutz. Wir haben noch ein weiteres Dutzend Eiergranaten in den Taschen und ziehen unseren Plan durch. »Wir hören erst auf, wenn die Eier alle sind«, haben wir uns geschworen. Zugegeben: Eier zu werfen ist nicht sonderlich originell. Es ist sogar erbärmlich im Vergleich zu anderen Methoden der Stadtguerilla, die heutzutage in Mode sind. Doch mir fiel es leicht, die Truppe zu überzeugen: Eier sind billig, leicht zu besorgen und gut zu verstecken, sie zu werfen wird selten als Straftat ausgelegt, und vor allem repräsentieren sie die Manneskraft. Ihr braucht gar keine Eier, ja? Hier habt ihr unsere, habe ich gesagt oder so was Ähnliches. Die Eier, das sind wir. Das fanden alle super, vor allem Donovan, den seine Anabolikasucht in einen hundertzwanzig Kilo schweren, von seinen Genitalien besessenen Buben verwandelt hat. Ihn Bub zu nennen ist ein privater Scherz: Er ist fünfunddreißig, lebt aber noch bei seinen Eltern.

»Die links, die mit den Sommersprossen, ist auch scharf«, sagt Hugo zu mir.

Der Eierhagel hat die Gemüter erhitzt. Einige Frauen haben sich mit den Polizisten angelegt, andere mit einer Gruppe von Männern, von der sie beschimpft wurden: Zieht euch was an, ihr Nutten, wenn ich dein Bruder wäre, dass du dich so zu zeigen traust, zu meiner Zeit. Wenn ich etwas gelernt habe in diesen Monaten der Dauerbeschäftigung mit feministischen Themen, dann dies: Egal, was die Demonstrantinnen fordern, man kann ihnen immer vorhalten, dass sie Frauen sind. Das mag absurd klingen, aber es funktioniert. Es funktioniert sogar so gut, dass man auf eine a priori nicht kritisierbare Forderung wie »Keine Gewalt gegen Frauen« plump entgegnen kann: »Dann hört ihr auf zu provozieren.« Nicht in den sozialen Netzwerken natürlich, wo ein Aggressor vom sozialen Kollektiv, das den Geist der Korrektheit repräsentiert, sofort geächtet wird, sehr wohl aber in der realen Öffentlichkeit, im Schutz all der bestürzten Gesichter, wie zum Beispiel in einem Fußballstadion. An solchen Orten kommen Männer und Frauen jeglichen Alters, jeglicher Gesellschaftsschicht und Ideologie zusammen, und man kann ziemlich einfach etwas Beleidigendes rufen – »Geh lieber putzen« zum Beispiel – und kurz darauf einen wohlwollenden Blick ernten, ein komplizenhaftes Lächeln, ein Zwinkern. Du hast es voll erfasst, Kumpel. So muss man reden. Es lebe die Männersolidarität.

»Die Rothaarige ist auch scharf«, sagt Hugo zu mir.

Die Polizisten haben ihre Knüppel gezückt, und die Leute rennen weg. Ich sehe zu meinen Mitstreitern und stelle fest, dass wir alle Eier an die Frau gebracht haben. Auftrag erfüllt. Um in der Schlacht gut kommunizieren zu können, haben wir extra eine Gebärdensprache entwickelt. Ich gebe den anderen zu verstehen, dass wir uns verziehen und zum Auto zurückgehen sollten, bevor wir in der Hektik noch stolpern oder uns ein verirrter Knüppel trifft. Während ich mich eilig aus der Gefahrenzone entferne, wo zwei Polizisten gerade versuchen, mehrere Demonstrantinnen und einen älteren Herrn zu trennen, der die Faust reckt wie ein Jugendlicher, sehe ich aus den Augenwinkeln, dass fast alle Frauen sich wieder anziehen. Sie wirken unzufrieden, strahlen Traurigkeit aus, das Eingeständnis der Niederlage. Nur eine nicht, eine ganz junge. Nackt und provozierend steht sie an der Straßenecke und blickt uns nach auf eine Art, die ich schon kenne. Ich winke ihr zu, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Als sie mich bemerkt, ziehe ich mir die Vermummung vom Gesicht, werfe ihr eine Kusshand zu und zeige ihr den Mittelfinger.

»Nutte!«, schreie ich.

Sie weiß es noch nicht, aber sie steht kurz davor, den Schritt zu tun.

ERSTER TEIL

1

Dass ich einer Unbekannten, die einfach nur ihre Rechte einfordert, »Nutte« hinterherrufe, mache ich erst, seit ich Najwa kenne. Zum ersten Mal begegne ich ihr bei einem Vortrag von Siri Hustvedt. Der Saal platzt aus allen Nähten, es sind vor allem Frauen da, junge Frauen. Ich verstehe nicht viel von dem, was die Autorin sagt, teils, weil die Neurobiologie nicht gerade mein Spezialgebiet ist, teils, weil ich noch nie ein Buch von ihr gelesen habe, aber ich muss zugeben, dass die Themen, über die die Frau von Paul Auster spricht, wie sie in den Medien meist genannt wird, mich durchaus interessieren oder zumindest meine Neugier wecken. Die Fragerunde ist gruselig, wie so oft in diesen Fällen: Personen (Frauen), die zu zeigen versuchen, dass sie genauso viel oder mehr wissen als die Rednerin; Personen (Frauen), die die Gelegenheit nutzen, um von ihren privaten Dramen zu erzählen; Personen (Frauen), die Siri dafür danken, dass es sie gibt. Es wirkt wie ein afrikanischer Ritus, mit dem die Ankunft der Regenzeit gefeiert wird. Oder wie sein Gegenteil: wie eine Bande illustrer US-Bürger, die auf einen Orkan schießen, um ihn in die Flucht zu treiben. Kein einziger Mann stellt eine Frage, aber es schießt auch keiner. Ich schon gar nicht. Najwa ist die einzige Person (Frau), die in der Fragerunde Siri auf ihre Widersprüche hinweist und sie in die Mangel nimmt. Vielleicht übertreibe ich auch. Jedenfalls stellt sie ihr einige komplexere Fragen, ohne sich als akademische Intelligenzbestie aufzuspielen. Wobei gerechterweise erwähnt sei, dass Najwa sowieso hochqualifiziert aussieht, sprich: eine Brille trägt. Als die Veranstaltung zu Ende ist und die Besucher in Richtung Podium strömen, damit Mrs. Hustvedt ihnen ein oder mehrere Bücher signiert, sehe ich, dass die Frau mit der Brille in Richtung Ausgang geht. Ich schneide ihr den Weg ab und quatsche sie an. Typisch Mann.

»Ich fand deine Fragen gut«, sage ich.

Sie sieht mich abschätzig an.

»Ich fand deine Fragen wirklich gut«, sage ich. »Das ist keine billige Anmache. Von der Rede habe ich praktisch nichts verstanden, aber das, was du gefragt hast, schon.«

»Du hast ihre Bücher nicht gelesen, oder?«

»Nein. Ich würde über den Prolog nicht hinauskommen. Weißt du, ob es auch eine Version für Kinder gibt?«

»Ich muss los.«

»Okay. Aber vorher musst du mir noch ein Buch empfehlen. Dann lasse ich dich in Ruhe, versprochen.«

»Ein Buch worüber?«

»Über Feminismus. Damit ich wenigstens ein bisschen was begreife. Die Neurobiologie hebe ich mir für später auf.«

»Du kannst ja das Wort ›Feminismus‹ googeln.«

»Hab ich schon. Ich finde sogar den Eintrag bei Wikipedia schwer verständlich. Gibt es darüber nicht eine Art Foucault für Dummies

Zum ersten Mal bemerke ich so etwas wie ein Lächeln. Ist abgespeichert: »Foucault.«

»Hast du was zu schreiben?«, fragt sie.

Ich hole das Handy heraus und öffne die Notizen-App. Sie diktiert mir: Wenn Männer mir die Welt erklären von Rebecca Solnit und Sexus und Herrschaft von Kate Millett. Obwohl ich Geisteswissenschaften studiert habe, sagen mir die Namen nichts.

»Danke«, sage ich.

Sie lächelt erneut, aber nur mit der einen Seite des Munds, die andere hat wohl genug von mir. Dann geht sie los.

Ich eile in die Bibliothek, die um zehn zumacht, um die Bücher zu bestellen, die sie mir empfohlen hat. In der Ausleihe bedient mich eine Frau. Plötzlich fühle ich mich irgendwie benommen, wie umhüllt von östrogenübersättigter Luft, ähnlich der Giftglocke auf Fotos von Mexiko-Stadt. Siri, ihre Fans, Najwa, die Bibliothekarin. Mein seltsames Gefühl verstärkt sich noch, als meine Mutter mich anruft und mir bis ins kleinste Detail erzählt, dass ihre Mutter, meine noch lebende Großmutter, beleidigt sei, weil sie sie nicht oft genug besuche. In diesem Moment bringt die Bibliothekarin mir mit einem Lächeln im Gesicht die Bücher. Auf meinem Weg nach draußen tue ich so, als würde ich meiner Mutter zuhören, und frage mich, warum Frauen ständig lächeln: Warum lächeln sie, wenn es doch schon zehn Uhr abends ist und sie noch arbeiten müssen, warum lächeln sie, wenn jemand ihnen nach einem Vortrag hinterherläuft, warum lächeln sie, wenn jemand vor anderen Leuten eine unverschämte Bemerkung zu ihnen macht, was weiß ich, warum legen sie dieses schamlose Beharrungsvermögen an den Tag? Ich versuche mir vorzustellen, ich wäre so und würde so lächeln wie sie, rund um die Uhr, wäre mit stoischem Phlegma ständig gefällig. Gut fühlt sich das nicht an, sprich: Ich könnte es nicht. Dieses Gelächle verwirrt mich. Die treuherzige Art der Frau ist eine ihrer Schwächen.

Als ich wieder zu Hause bin, fällt mir ein, warum ich überhaupt zu diesem Vortrag gegangen bin.

Subjekt A: dreiunddreißig. Was er beruflich macht, weiß ich nicht. Ich wohne seit neun Monaten mit ihm zusammen. Seine Lieblingssuchbegriffe sind »gangbang« und »facefucking«. Er hat das neueste iPhone. An den Wochenenden fährt er mit einer Radsportgruppe in die Berge. Trinkt kaum Alkohol, raucht aber gern mal einen Joint. Macht nie den Klodeckel runter.

Subjekt B: Ende zwanzig. Was er beruflich macht, weiß ich nicht. Ich wohne seit sechs Monaten mit ihm zusammen. Seine Lieblingssuchwörter sind: »anal pain« und »anal pain teen«. Er hat ein chinesisches Handy mit einer großen Kamera. Geht jeden Abend aus. Frönt dem Alkohol und dem Essen, nicht aber dem Kokain. Macht in der Dusche nie die Haare weg.

Anfangs war es lustig. Drei Typen auf dem Sofa, die über Leben, Sex und Politik quatschen. Von meiner Arbeit erzählte ich nichts, zumal es nicht viel zu erzählen gab. Auf jeden geschmacklosen Witz folgte ein noch geschmackloserer. Alle Frauen im Fernsehen wurden auf der Basis ihrer weiblichen Attribute ausführlich analysiert. Entweder man ist ein Tittentyp oder ein Ärschetyp. Wir erzählten uns Sachen: Die Anekdote von meinem Professor für Sprach- und Literaturwissenschaft, wie er uns vor drei Jahren mit dem Wort Gambas kommt: »Kopf wegwerfen, Körper vernaschen.« Alle Studenten fanden es urkomisch. Wie ich meiner ersten Freundin an meinem fünfzehnten Geburtstag an die Brüste fassen durfte. Ich meine, sie hätte geweint, und ich erinnere mich noch, dass ich dachte, ich hätte zu fest zugedrückt. Keine fünf Minuten später erzählte ich es schon meinem besten Freund. Die von meinem ersten Blowjob, bei dem ich keinen hochkriegte, weil ich mich plötzlich in einer Situation wiederfand, die ich nur vom Bildschirm kannte. Ich fragte das Mädchen, ob wir uns vielleicht erst mal küssen sollten. Wozu, fragte sie zurück, wenn Jungs doch genau darauf abfahren. Solche Sachen erzählten wir uns.

Wir zeigten uns gegenseitig Fotos von Freundinnen, die noch Singles waren. Wir googelten Pornodarstellerinnen. Wenn wir Besuch hatten, hängten wir Schilder an unsere Zimmertür wie in einem Hotel (Do not disturb). Wir schickten uns gegenseitig Pornovideos. Wir pflegten eine kerngesunde Männerfreundschaft.

Mein Gemeinschaftsgeist erhielt einen Dämpfer, als Subjekt A uns ein selbst gedrehtes Video schickte. Es war deutlich zu erkennen, dass es ohne die Zustimmung der Protagonistin aufgenommen worden war: Es herrscht Schummerlicht, die Kamera ist in einer Ecke des Zimmers platziert, zwischen Klamotten versteckt, und die Frau blickt zu keinem Zeitpunkt direkt in die Linse. Er schon: Bei Minute 12:24 stellt er die Frau auf alle viere, den Hintern in Richtung Zuschauer, und bevor er weitermacht, zwinkert er und hebt zum Zeichen des Triumphs den rechten Daumen. Dann schlägt er ihr mit der flachen Hand auf die Arschbacke, und sie schnurrt wie ein glückliches Kätzchen. Das Video dauert insgesamt 16:45 Minuten, HD-Qualität.

Ich fand das nicht gut und sagte es ihm auch, anfangs noch ruhig und vernünftig, wie jemand, der für die Laster seines Gegenübers Verständnis hat, aber auch an seinen Anstand appelliert.

»Jetzt mach nicht so ein großes Ding draus«, sagte er.

Dass er die Frau heimlich gefilmt habe, sei schon ein Vertrauensbuch, argumentierte ich, aber dass er uns das Filmchen geschickt habe, sei wahrscheinlich sogar strafbar.

»Ich kann mich nicht mal mehr an ihren Namen erinnern, also ist es doch egal, ob es ein Vertrauensbruch ist. Und strafbar ist es auch nicht, solange die Polizei es nicht mitkriegt«, sagte er.

Würde jemand so was mit seiner Schwester machen, würde ihm das auch nicht gefallen, hielt ich dagegen. Ich habe nämlich eine Schwester. Solche Sachen landeten schnell im Internet und gingen dann viral, argumentierte ich.

»Was ist denn mit dir los, Alter?«, sagte er.

Die Diskussion wurde hitziger. Subjekt B schlug sich auf die Seite von Subjekt A, und ich verlor die Fassung. Wenn all meine Argumente abgeschmettert werden und die Frage »Bist du sicher, dass du auf Frauen stehst« als vernünftiges Gegenargument gilt, werde ich aggressiv.

»Ihr seid vielleicht Wichser«, warf ich ihnen an den Kopf.

Seit diesem Tag grüßten wir uns nicht mehr, wenn wir uns im Wohnzimmer oder in der Küche begegneten, und selbstverständlich schlossen sie mich von ihren Männerabenden aus. Mir war das egal: Ich hatte eine klare Vorstellung davon, was okay war und was nicht, und zwei Idioten würden mich nicht davon abbringen. Mir würde es auch nicht gefallen, wenn eine flüchtige Sexbekanntschaft mich heimlich im Bett filmen und das Video all ihren Freundinnen zeigen würde; wenn diese Freundinnen sehen würden, wie ich mich bewege, was ich sage, was sich in meinem Gesicht abspielt, wenn der entscheidende Moment naht, wenn ich aufstöhne; wenn sie sehen würden, wie groß mein Schwanz ist; mich in Zeitlupe betrachten; sarkastische Untertitel hinzufügen. Allein bei dem Gedanken wird mir schlecht.

Zum Glück sind Frauen anders als wir.

Im Laufe der Wochen, die geprägt waren von anhaltenden Haushaltsscharmützeln (Geschirr abwaschen, Bad putzen, rechtzeitig Internetanschluss und Strom bezahlen), verwandelte sich die latente Spannung in Abneigung und die Abneigung in Wut, was zur Folge hatte, dass wir uns nicht mehr beim Namen nannten, sondern uns gegenseitig Nettigkeiten an den Kopf warfen.

»Hey, du Clown.«

»Lass mich in Ruhe, Spast.«

»Zahl endlich deinen Anteil, du Wichser.«

Ich nahm mir diese Beleidigungen nicht zu Herzen. Bis zu dem Tag vor zwei Monaten, als ich ins Wohnzimmer kam und sie gerade vor dem Fernseher saßen und sich ein Fußballspiel ansahen. Ich ließ sie so elegant wie möglich links liegen, doch Subjekt B sagte:

»Guck mal, wie der hier rumschleicht, der Feminist.«

Die beiden konnten mir am Gesicht ablesen, dass sie einen Nerv getroffen hatten, den Hodensacktrigeminus, und seither nennen sie mich nur noch den »Feministen«. Ich muss zugeben, dass ich mich wundere, weil sie einfach nur ein Wort abschätzig verwenden, das für mich positiv besetzt ist. Jedenfalls nervt es mich aus irgendeinem Grund gewaltig.

Feminist, du heilige Scheiße, kommt mir ganz spontan.

Wenn ich an Feminismus denke, denke ich an meine Schwester und an meine Mutter, und dann rufe ich mir in Erinnerung, dass der Feminismus, soweit mir bekannt ist, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau einfordert, oder? Was kann man daran kritisieren? Trotzdem schwingt bei dem Wort Feminist etwas mit, das mir nicht gefällt, das mich in meiner Männlichkeit angreift, wie wenn einen als Kind jemand »du Mädchen« nannte, weil die Gummistiefel, die man anhatte, oder das Futter der Jacke, die man trug, eine bestimmte Farbe hatten. Mir wird bewusst, dass ich da nicht ganz kohärent bin, und plötzlich schlafe ich schlecht, habe ich grässliche Albträume, die sich am nächsten Tag negativ auf meine Leistung im Job auswirken. Wobei diese Leistung sowieso von niemandem geschätzt wird.

Mein wiederkehrender Albtraum: dass ich morgens als Frau aufwache.

Wie auch immer. Jedenfalls ist das der Grund, warum ich zu Siris Vortrag gegangen bin. Weil ich herausfinden will, woher dieses Paradox kommt, diese absurde Dialektik in mir. Vielleicht muss ich mich nur kontrolliert in diese Welt hineinbegeben, um zu entdecken, dass es keinerlei Grund gibt, mich unwohl zu fühlen. Oder umgekehrt: allen Grund, Angst zu haben, weil mit Monstern nicht zu spaßen ist.

»Gute Nacht, Feminist«, sagt Subjekt A zu mir.

Ich rede also nicht mehr mit meinen Mitbewohnern. Bevor ich jeglichen Kontakt mit ihnen abbrach, hatte ich ihnen noch mitgeteilt, per SMS, sie sollten sich keine Sorgen machen, ich hätte das Video gelöscht und würde keine Anzeige erstatten, ich sei kein Denunziant.

Feminist, du heilige Scheiße.

2

Einen Monat später sehe ich Najwa wieder, in einer Diskussionsrunde zum Thema »Neue Ziele des Feminismus«. Oft haben Veranstalter solcher Diskussionen kein gutes Händchen für Titel, was bestimmt auch der Grund dafür ist, dass nur rund zwanzig Leute da sind. Najwa erkennt mich nicht wieder. Im Saal ist außer mir nur noch ein weiterer Mann. Auf dem Podium berichtet eine Dame mit kurzen, leicht ergrauten Haaren ausführlich von Situationen, denen Frauen in aller Welt ausgesetzt sind: verweigertes Asylrecht wegen fehlender Anerkennung als Minderheit, Zwangsschwängerung auf Zuchtfarmen in Thailand, Gefängnisstrafen wegen eines Unfalls in der Schwangerschaft, Menschenhandel, Diskriminierung, Hypersexualisierung. Ich verliere den Faden. Sie belegt ihre Ausführungen mit Schaubildern, Statistiken, Fotografien, Videoschnipseln. In dieser Konzentration wirkt alles, was sie sagt, wie ein Scherz, wie der Monolog eines Stand-up-Comedians. Am liebsten würde ich loslachen und applaudieren oder umgekehrt. Ich überlege, ob ich in der Fragerunde nicht einen Machowitz erzählen soll, einen Witz der subtileren Art, nur um zu sehen, wie sie reagiert. »Warum haben Frauen mit fünfzig keine Regel mehr? Weil sie das Blut für ihre Krampfadern brauchen.« Über sich selbst lachen können ist ein Zeichen von Reife, heißt es doch. Als die Veranstaltung vorbei ist und Najwa aufbricht, eile ich ihr nach. Ich habe ein unangenehmes Déjà-vu, aber ich versuche erst gar nicht, es zu analysieren.

»Ich habe die Bücher gelesen«, sage ich.

Sie sieht mich abschätzig an.

»Was für Bücher?«

»Die, die du mir empfohlen hast. Beim Vortrag von Siri Hustvedt, Rebecca Solnit und Kate Millett.«

Der Groschen fällt, sie weiß wieder, wer ich bin.

»Ah, ja, ich erinnere mich. Und? Wie fandst du sie?«

»Gut. Solnit ist am einfachsten; am aktuellsten. Sogar ich war mit einigen der Themen vertraut, die sie anspricht. Das war ein guter Tipp für jemandem mit meinem Niveau. Millett hingegen … Millett ist was anderes; es fängt gut an, wie sie gegen Miller austeilt und so, aber dann wird’s ein bisschen trocken. Und das Buch ist lang. Hat sich ziemlich gezogen.«

»So, so.«

»Ich glaub, ich mach das auch. Ich erkläre den Frauen auch die Welt. Vor allem meiner Mutter. Jetzt weiß ich, warum sie sich immer so aufregt.«

»Du Glücklicher. Bei meiner weiß ich nie, was sie hat.«

»Das liegt vermutlich daran, dass du nicht genug mit ihr sprichst. Entschuldige. Siehst du, ich will dir schon wieder die Welt erklären.«

Ich höre so etwas wie ein ersticktes Lachen. Offenbar kommen wir uns näher. Ich begleite sie zur Treppe, rede weiter.

»Glaubst du, dass Männer Feministen sein können?«

»Glaubst du, dass du ein Feminist sein kannst?«

»Keine Ahnung, deshalb frag ich dich ja.«

»Warum willst du denn ein Feminist sein? Um deine Mutter zu belehren?«

Wir lachen. Ich habe schon Seitenstechen, aber wir lachen.

»Was Millett sagt, finde ich verwirrend.«

»Was genau?«

»Dass alles eine kulturelle Konstruktion ist. Dass es zwischen Frauen und Männern keine wesentlichen Unterschiede gibt. Außer dem offensichtlichen natürlich, dass Frauen Mütter werden können.«

Sie sieht mich an wie ein Boxer, der einem schwächeren Gegner klarmachen muss, wer hier der Champion ist und warum es manchmal nötig ist, darauf hinzuweisen.

»Gibt es denn welche?«

»Na ja, da wäre das mit der Regel und …«

»Los, keine Angst, immer raus damit.«

»Na gut. Normalerweise seid ihr netter. Nicht so gewalttätig. Kommunikativer. Diskreter. Nicht so laut.«

Was ich mir verkneife: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr euch gegenseitig ein ohne meine Zustimmung aufgenommenes Pornovideo von mir schickt.

»Und wir sind von der Natur darauf programmiert, für andere zu sorgen, richtig? Gehen jeglicher Konfrontation aus dem Weg. Und mit ›kommunikativ‹ meinst du eigentlich ›geschwätzig‹.«

»Es gibt natürlich Ausnahmen.«

Mir kommt das Wort Quatschtante in den Sinn.

»Was machst du beruflich?«, fragt sie.

»Ich bin Journalist. Einer von den schlechten. Was ich mache, könnte auch ein … Und du?«

»Ich schreibe an meiner Doktorarbeit. Aber am Wochenende mache ich Wrestling.«

Ich lache. Sie nicht.

»Du glaubst mir nicht?«

Ich sage nichts.

»Meinst du, ich schlage nicht gern zu, nur weil ich eine Frau bin?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich dachte nur …«

Sie unterbricht mich, holt ihr Handy hervor, sucht in den Fotos. Dann zeigt sie mir eins: sie in einem skurrilen Outfit, mit Umhang und bunten Stiefeln, in einem Fitnessstudio.

»Nicht zu fassen«, sage ich.

»Du solltest an deinen Vorurteilen arbeiten.«

»Ja, sieht ganz so aus. Worüber schreibst du deine Doktorarbeit?«

»Über Doppelagenten im Zweiten Weltkrieg. Aber nicht über die Männer. Über den berühmten Joan Pujol ist schon genug geschrieben worden.«

Ich weiß nicht, wer Joan Pujol ist, aber ich stelle das »berühmt« nicht zur Diskussion. Ich werde einfach später bei Wikipedia nachschauen. Wir unterhalten uns weiter, während wir zum Ausgang gehen, und danach vor der Tür. Ich entdecke ein Muster: Solange ich nichts Persönliches frage, läuft das Gespräch gut; andernfalls stockt es. Ich ahne, dass sie weiß, dass ich weiß. Na schön: Dann wollen wir mal mit dem Subtext spielen. Ich beschließe, so lange weiterzuplappern, bis ihr Widerstand gebrochen ist, so lange Antworten aus ihr herauszukitzeln, bis sie erschöpft ist, bis sie so viel Durst hat, dass sie ein Bier mit mir trinken geht. Ich frage sie nach all den Themen, die in den Büchern auftauchen: Postfeminismus, männliche Betrugsmanöver, positive Diskriminierung, Frauenquote. Ein Thema nach dem anderen hake ich ab. Ich bin ehrlich und sage, dass mir das alles wie ein Labyrinth vorkommt. Meine Ehrlichkeit scheint ihr zu gefallen. Sie denkt nach. Meine Kehle ist schon ganz ausgedörrt. Mein Blick fällt auf einen Mann, der einige Meter entfernt bequem auf einem Korbstuhl sitzt, weißer Schaum auf dem Schnauzbart nach dem ersten herrlichen Schluck Bier. Ich schätze, dass meine Chancen fifty-fifty stehen.

»Wollen wir ein Bier trinken?«, frage ich.

Sie ist einverstanden. Als wir uns setzen, nimmt sie die Brille ab.

Das ist eine Metapher. Nur verstehe ich sie nicht, zumindest nicht in diesem Moment, weil sie mit mir zu tun hat.

3

Normalerweise esse ich nicht bei meinen Eltern und schon gar nicht mit dem Rest der Familie. Doch ab und zu betreiben sie untereinander eine Art telefonische Verschwörung, zum Beispiel wenn ein Cousin oder eine Cousine von mir Geburtstag hat, und dann kann ich ihre Anrufe nicht ignorieren. Wie alle Lobbyisten bedienen sie sich dabei des Mittels der Erpressung, vor allem der emotionalen Erpressung, um ihre Dividende einzufahren: Opferhaltung, Depressionen, baldiges Ableben, Krankheit, Nostalgie. Bei diesen Treffen ist es strikt verboten, über Politik zu sprechen, über alles, was sozialen Sprengstoff birgt und zu ideologischen Wortgefechten führen könnte, was zur Folge hat, dass es dort belanglos zugeht, wie in einem Fahrstuhl. Je weniger man von dem Thema betroffen ist, desto besser das Thema. Blutsverwandtschaft: obligatorische kognitive Unterdrückung zur Aufrechterhaltung der Harmonie im Epizentrum unserer Herkunftsmiseren. Zu lang für einen T-Shirt-Spruch. Logischerweise erleichtert die Anwesenheit von Jugendlichen den Informationsaustausch beträchtlich. Frage an die Jungs: »Hast du eine Freundin?«; Frage an die Mädchen: »Hast du einen Freund?« Homosexualität kommt nicht mal als Hypothese vor, was viel darüber aussagt, wie die Familie an sich tickt. Was die Familiensozialisierung im 21. Jahrhundert betrifft, sind die Forderungen der Psychoanalyse womöglich nicht ganz zu Ende gedacht: Es genügt nicht mehr, nur den Vater oder die Mutter zu töten; töten muss man auch die Onkel und Tanten.

Wie in allen sozialen Gruppen herrschen auch bei uns spezifische Dynamiken.

Zum Beispiel: Frauen und Kinder decken den Tisch und räumen das schmutzige Geschirr ab. Die männlichen Familienmitglieder machen nicht mal Anstalten dazu. Wenn ich es trotzdem versuche, pfeift mich ein weibliches Familienmitglied zurück. Sollte eine der Frauen aus irgendeinem Grund gehandicapt sein, sagen wir wegen Ischiasbeschwerden, begehrt sie garantiert auf und erledigt doppelt so viel wie die anderen. Es ist eine Frage des Stolzes. Ist hingegen ein Mann gehandicapt, erhält er eine Sonderbehandlung: die besten Fleischstücke, eine Extraportion Schnittchen, ein ständig gefülltes Weinglas.

Zum Beispiel: Die Männer bestimmen die Inhalte. Die Frauen tragen natürlich ihre Meinung bei, aber sie schlagen praktisch nie ein Thema vor. Falls doch, läuft es normalerweise so ab, dass die anderen Frauen ihnen eine Weile zuhören, aus echtem Interesse oder aus Gefälligkeit, während die Männer sich über etwas anderes unterhalten. Jedenfalls ist die Strahlkraft dieser zweiten Unterhaltung so stark, dass sie die erste überstrahlt, ja ausblendet.

Zum Beispiel: Nach dem Dessert, wenn die hochprozentigen Getränke auf den Tisch kommen, setzen sich die Männer zu den Männern und die Frauen zu den Frauen.

Dann wird es doch noch interessant.

Der Satz des Tages: »Feministinnen sind verkappte Lesben.«

Ich weiß nicht, wieso ich den Mund aufgemacht habe. Vielleicht lag es am Wein. Vielleicht auch daran, dass ich seit zwei Monaten Vorträge und Konferenzen zum Thema Feminismus besuche und ich zu durchschauen beginne, welche versteckte Dynamik solchen Treffen zugrunde liegt. Vielleicht wollte ich auch nur irgendwie im Mittelpunkt stehen. Fakt ist, dass ich mich nicht zurückhalten konnte, vermutlich aus einem Grund, der von meiner Kindheit herrührt. Oder nicht direkt von meiner Kindheit, sondern davon, wie ich aus der Perspektive meines fünfunddreißigjährigen Erwachsenendaseins auf meine Kindheit blicke.

Ort: Wohnzimmer, nach dem Essen, Tag.

Figuren: mein Vater, meine drei Onkel, ich mit vierzehn, ich mit achtzehn, ich mit vierundzwanzig.

Szene:

»Heirate bloß nicht, Junge.«

»Wenn du weiter pimpern willst, darfst du nicht heiraten.«

»Frauen wollen nur vor der Ehe Sex. Danach ist Schluss.«

»Dann haben sie ständig Kopfweh.«

»Oder irgendwas anderes.«

»Dann kannst du es alle paar Monate mal versuchen.«

»Trotzdem werden sie sauer.«

»Sie tun’s auch, wenn sie sauer sind.«

»Trinken tun sie auch nicht.«

»Kaffee. Sie trinken Kaffee.«

»Und ausgefallene Sachen kannst du vergessen.«

»Total. Missionarsstellung und schnell, schnell.«

»Heirate bloß nicht, Junge.«

Ende der Szene.