3Hans-Peter Müller
Max Weber
Eine Spurensuche
Suhrkamp
Wozu denn noch ein Buch über Max Weber? Wer die ausufernde Sekundärliteratur zu Werk und Person konsultiert – sie füllt mittlerweile ganze Bibliotheken –, den beschleicht sogleich das Gefühl, zu Weber sei bereits alles gesagt. Das stimmt auch. Denn viel, in manchen Augen allzu viel, ist über Weber geschrieben worden. Was in der unerschöpflichen Rezeption und kleinteiligen Interpretation dabei leicht verloren zu gehen droht, ist die Botschaft Max Webers, die Eigenartigkeit und Einzigartigkeit seines Werks. Was wollte uns der mittlerweile zum Klassiker erhobene Autor mit diesem riesenhaften Torso, diesem Werkungetüm eigentlich sagen?
Eine Antwort darauf fällt erklärtermaßen schwer, hat sich Weber doch mit einer schier überbordenden Vielfalt von Themen und Problemen auseinandergesetzt, die einen roten Faden durchaus vermissen lassen. Denn was könnte wohl der kleinste gemeinsame Nenner sein von Themen wie der römischen Agrargeschichte nebst der Eigenart antiker Feldmesstechniken, dem Schicksal von ostelbischen Landarbeitern, dem Geschehen an der Börse und dem Schicksal von Industriearbeitern, der Fideikommissfrage und der Psychophysik der Arbeit, dem Einfluss des asketischen Protestantismus auf eine methodisch rationale Lebensführung und Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, den Aussichten auf eine politische Revolution in Russland, der Eigenart okzidentaler Musik, einer Typologie von Herrschaftsformen oder der Säkularisierung und Entzauberung der Welt sowie dem Schicksal Deutschlands in der Weltpolitik? Themen über Themen, Probleme über Probleme, Fragen über Fragen.
Das vorliegende Buch begibt sich deshalb nochmals auf eine Spurensuche, um in der Fülle der Themenvielfalt Webers zentrale Überlegungen und Einsichten herauszuarbeiten. Angesichts der komplexen Sachlage bietet es sich an, diese Spurensuche über die verschiedenen Argumentationsstränge hinweg zu verfolgen. Freilich, eine kohärente Interpretation als geschlossenes Ganzes wird nicht das Ergebnis sein. Sicher, Einheit ist zwar das Ziel, Vielfalt indes die Werkwirklichkeit. Selbst wenn eine Präsentation von Einheitlichkeit gelänge, wäre sie womöglich falsch; zu fragmentarisch 8und zerrissen präsentiert sich Webers Werk. Das macht auch die fulminante Max Weber-Gesamtausgabe mit ihren 47 Bänden, die kurz vor der Vollendung steht, nochmals mit Nachdruck deutlich. Stil und Form seines Werkes sind einer leichtfüßig-flüssigen Darstellungsweise ebenfalls nicht gerade zugänglich. Weber lässt sich nicht erzählen – er ist narrativ widerborstig. Das Leben, wissenschaftliches Arbeiten und Leiden, Forschen und Erkennen, das Denken und Schreiben ergeben keine schöne Erzählung. Wenn doch, dann ist es häufig genug eine Interpretation des Biographen, denn flotte Erzählungen lassen sich besser verkaufen, als mühselige und mühsam zu lesende Werkrekonstruktionen. Je tiefer und komplexer der Denker, desto flacher und verständlicher muss er gemacht werden. Das könnte man »narrative Anschlussfähigkeit« nennen.
Was ist nun seine Botschaft, um das Geheimnis gleich am Anfang ein wenig zu lüften? Auf seine Weise versucht sich Weber an einer Genealogie der Moderne, ohne dass er eigens und explizit so etwas wie ein klar geschnittenes Forschungsprogramm auflegen würde. Weber hat keine Gesellschaftstheorie vorgelegt, sondern bestenfalls eine Gesellschaftsgeschichte. Er hat kein System entwickelt, sondern allenfalls eine Systematik, darin seinem Kollegen und Freund Georg Simmel vergleichbar. Gerade diese Unabgeschlossenheit und Fragmentarität sind es eben, die immer wieder zur Rezeption und Interpretation des Werks reizen.
Diese Spurensuche soll kein Buch für Max-Weber-Spezialisten sein. Die Experten der Weber-Interpretationsindustrie werden wohl gelangweilt registrieren, dass hier »nichts Neues unter der Weber-Sonne« dargeboten wird, keine sensationelle Entdeckung einer neuen Quelle, keine bahnbrechend originelle Deutung, kein ganz »neuer Weber«. Das Buch richtet sich an eine Leserschaft, die einen Zugang zu dem übermächtigen Klassiker finden will. Webers »Größe« flößt Respekt ein, ja macht Angst, so dass manche vor einer eigenständigen Auseinandersetzung am Ende zurückscheuen mögen. Max Weber ins 21. Jahrhundert zu holen, heißt, seine Lektionen jeder Generation aufs Neue zur Verfügung zu stellen. Am 14. Juni 2020 begehen wir seinen 100. Todestag, dies mag als Hinweis dafür gelten, dass uns Weber immer ferner rückt. Es gilt, ihn uns wieder näher heranzuholen.
Dieses Buch macht aus der Not eine Tugend. Mit dem Anspruch eines verständlichen Stils versucht es zugleich, keinerlei Abstriche 9an der Komplexität und Verquertheit des Werkes zu machen. Was dabei an narrativer Geschlossenheit vielleicht verloren gehen mag, hofft es zu kompensieren, indem es wieder neugierig auf Werk und Autor selbst macht. Gerade wenn am Ende nicht alles restlos verständlich wird, könnte es die Leserschaft durchaus reizen, sich selbst ein Bild zu verschaffen. So viel sei eingangs versprochen: Max Weber eröffnet das wohl größte Lektüreabenteuer für jene, die die Moderne verstehen wollen. Auch wenn wir heute in der Spätmoderne leben mögen – mit dem Kollaps am Horizont kann es nicht schaden, nochmal den rumorenden Vulkan zu inspizieren, auf dem wir alle nervös sitzen.
Mein Dank gilt Freunden, Kollegen und Studierenden, die in den letzten Jahren mit mir das Leseabenteuer Weber immer wieder gewagt haben und nicht verzagt sind. Michael Makropoulos und Ingrid Gilcher-Holtey haben einzelne Partien des Buches in hilfreicher Weise kritisch kommentiert. Henri Band und Laurin Schwarz waren eine große Hilfe bei der zügigen Fertigstellung und Endredaktion des Bandes. Eva Gilmer, Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser teilten mit mir den Enthusiasmus, Max Weber auch im 21. Jahrhundert als lebendigen Klassiker zu lesen. Wie gewohnt, war die Zusammenarbeit mit ihnen vorzüglich, wofür ich mich sehr bedanke.
Hans-Peter Müller, im November 2019
Als Max Weber am 14. Juni 1920 unerwartet stirbt, sind die Zeitgenossen zutiefst bestürzt. Wie ein Blick auf die zahlreichen Nachrufe[1] offenbart, wird vor allem der eindrucksvollen Persönlichkeit, dem patriotischen Deutschen und dem großen Intellektuellen nachgetrauert. Über sein Werk fällt kaum ein Wort. Sicher, man kannte die Diskussion um die »Protestantische Ethik«. Wirtschafts- und sozialpolitisch informierte Kreise im Kaiserreich hatten seine Enqueten zu den Land- und Industriearbeitern verfolgt. Ökonomisch interessierte Kreise waren mit seinen Schriften über die Börse vertraut. Dass Max Weber jedoch ein Werk verfasst hatte, das ihn dereinst zu dem Klassiker der Kultur- und Sozialwissenschaften machen sollte, blieb den Zeitgenossen verborgen.
Selbst Menschen, die sich ihm nah fühlten und die mit ihrer eigenen Forschung in die Fußstapfen dieser eindrucksvollen Person treten wollten, waren recht ahnungslos. So bemerkte Karl Jaspers[2] in seiner Gedenkrede auf Max Weber vor Heidelberger Studenten im Jahre 1920:
Sieht man sein Werk an, wie es vorliegt, so findet man eine Fülle einzelner Arbeiten. Aber eigentlich sind alle Fragmente. […] Es ist kaum je ein Buch von ihm erschienen, früher einmal die Römische Agrargeschichte, eine Broschüre über die Börse, in den letzten Jahren einige Vorträge als Hefte, sonst nichts. Alles andere steckt in Zeitschriften, Archiven, Zeitungen.
Vor diesem Hintergrund wirft Jaspers die entscheidende Frage auf: »Ist es möglich, angesichts dieses fragmentarischen Charakters Max Weber als den geistigen Gipfel der Zeit zu empfinden?«[3] Seine weiteren Überlegungen machen sofort klar, dass dies einer 12rein rhetorischen Frage gleichkommt. Denn Jaspers sieht in Weber einen Philosophen, der den Geist der Zeit in seiner Person regelrecht verkörpert hat. »Einen existentiellen Philosophen aber haben wir in Max Weber leibhaftig gesehen. Während andere Menschen wesentlich nur ihr persönliches Schicksal kennen, wirkte in seiner weiten Seele das Schicksal der Zeit. […] Der Makroanthropos unserer Welt stand in ihm gleichsam persönlich vor uns.«[4]
Zu Beginn der Rezeption kurz nach seinem Tod überlagert die große Persönlichkeit das Werk. Zu dünn, zu verstreut und zu fragmentarisch wirken Webers Schriften auf seine wissenschaftliche Umwelt. Was bleibt, ist die Erinnerung an den charismatischen Genius mit kompetenter Urteilskraft, enzyklopädischem Wissen, überlegener Weitsicht und bemerkenswerter Ausstrahlung auf seine Mitmenschen. Weber gilt als der »Mythos von Heidelberg«,[5] dessen mächtige Stimme nun ein für alle Mal verstummt ist.
Dieses Weber-Bild, das ganz an seiner Persönlichkeit ausgerichtet war, sollte sich mit der Herausgebertätigkeit von Marianne Weber, von Johannes Winckelmann und den heutigen Herausgebern der Gesamtausgabe[6] ändern. Mit der Edition seiner Schriften in den Jahren nach seinem Tod wurden Güte und Umfang des Werkes von Max Weber einer größeren wissenschaftlichen Öffentlichkeit im In- und Ausland bekannt. Langsam, aber sicher trat die Person hinter das voluminöse Œuvre zurück, auch wenn die Neugier auf sein Leben und Leiden bis zum heutigen Tag kaum gestillt scheint. Davon zeugen gleich drei neuere Biographien,[7] die zu seinem 150. Geburtstag im Jahre 2014 erschienen sind und die sein Leben in 13allen Facetten ausleuchten. Außerdem macht ein Handbuch,[8] welches nun in der zweiten Auflage erscheint, den Versuch einer ersten Vermessung von Werk und Person.
Dieses eminente Interesse an Weber hängt auch mit seinem zwischenzeitlich gewonnenen Status als Aushängeschild wissenschaftlicher Schaffenskraft und intellektueller Redlichkeit zusammen. Der Name einer Person wird zur Programmatik eines Landes. Das begann bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in den Zeiten des Ost-West-Gegensatzes zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik. Max Weber wird im Kampf der politischen Systeme als Antipode zu Karl Marx in einer Art Kalter Krieg der Kulturen genutzt. Die 1973 beschlossene Max Weber-Gesamtausgabe, deren erster Band 1984 erscheint, wartet mit ähnlich eindrucksvollen Band-Zahlen[9] auf wie die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) in der Sowjetunion und die Marx-Engels-Werke (MEW) in der DDR. Im Schlepptau des Marx-Weber-Gegensatzes wird Max Weber zur Lichtgestalt des Westens als liberale Figur, gleichermaßen kapitalismus- wie demokratietauglich und hochgradiger Individualist. Was der Politik recht war, dem musste die Wissenschaft nicht folgen. Denn der Marx-Weber-Gegensatz interessierte hüben wie drüben, die wissenschaftliche Neugier ließ sich nicht aufhalten, und so setzte auch eine Weber-Rezeption im Osten ein wie zuvor eine Marx-Rezeption durch den Neomarxismus im Westen. Und je weiter der Vergleich getrieben wurde und das Wissen um die beiden Denker wuchs, desto eher stellten die Protagonisten verblüfft fest, dass sich allen Unterschieden in Philosophie und Kapitalismusanalyse zum Trotz doch auch viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden scharfsinnigen Denkern feststellen ließen. Christian Gneuss und Jürgen Kocka hatten noch vor dem Mauerfall 1989 eine Funkserie im Norddeutschen Rundfunk veranstaltet, die sie anschließend aufgrund der hohen Resonanz 14auch in Buchform[10] vorlegten. Schon dort wird die hohe Wertschätzung für die wissenschaftlichen und intellektuellen Leistungen Max Webers deutlich, die im wiedervereinigten Deutschland noch einmal wachsen sollte. Im Jahre 2014 wird Weber der erste Soziologe, dessen Kopf eine deutsche Briefmarke ziert mit seinem berühmten Ausspruch: »Der Einfall ersetzt nicht die Arbeit.« Auch die 2002 gegründete Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland schmückt sich ab 2012 mit seinem Namen. Die Max Weber Stiftung (MWS) unterhält zehn Institute in Beirut, Istanbul, London, Moskau, Paris, Rom, Tokio, Warschau und Washington D.C. »Weber 2.0« heißen die wissenschaftlichen Blogs der Institute. So wird eine Person nicht nur zur Institution gemäß dem klassischen Diktum von Arnold Gehlen: »Eine Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Fall.«[11] Vielmehr wird auf diese Weise über Länder- und Disziplingrenzen hinweg Webers Name verbreitet und bleibt so in aller Munde. Welchem Soziologen, außer Karl Marx vielleicht, wäre je eine solche Ehre und Auszeichnung widerfahren? Im digitalen Zeitalter zeigt sich in der Tat, dass Marx und Weber die Soziologen mit der größten globalen Prominenz[12] sind. Keine Autoren unter den ersten zwanzig Soziologen weltweit werden so häufig »angerufen«, weil am häufigsten zitiert.
Was aber mit wachsendem zeitlichem Abstand immer undeutlicher wird, ist die »Klassizität« dieses Klassikers: Wozu eigentlich Max Weber? Was hat er uns heute noch zu sagen? Wie steht es um ein »Weber-Paradigma«,[13] also ein Forschungsprogramm, dem 15heutige Kultur- und Sozialwissenschaften folgen sollten? Und wenn es eins gibt, warum existiert dann keine weberianische Soziologie mehr? Warum arbeitet man gern über Weber, wie die nicht abreißende Flut an Sekundärliteratur national und international beweist, aber weniger mit Weber? Ist uns Weber als Klassiker historisch geworden? Erleidet er also das gleiche Schicksal, wie der von ihm bewunderte Goethe? Also der unzweideutige Status als deutscher Nationaldichter, aber kaum noch gelesen, so dass es schon der Jugendfilme mit drastischem Titel[14] bedarf, um an seinen Namen ohne Kenntnis seines Werkes zu erinnern? Wird also, wie es M. Rainer Lepsius[15] ausdrückte, Max Weber zum Vertreter der »Maximen und Reflexionen« von Kultur- und Sozialwissenschaften ohne nähere Auseinandersetzung mit seinem Denken?
Tatsächlich ist Max Weber längst nicht mehr der »Makroanthropos unserer Welt«. Vieles von dem, was er wohl abgelehnt hätte, scheinen wir heute realisiert zu haben: eine Massendemokratie ohne politische Führung, einen umfassenden Sozialstaat mit ausgebauter Sozialpolitik von der Wiege bis zur Bahre, ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, dem es nur um die drei »Ws«, also Wachstum, Wohlstand und Wohlfahrt geht und nicht mehr um die Bildung von Menschen, die »den Adel unserer Natur«[16] ausmachen sollen. Max Weber scheint in der gegenwärtigen ideologischen Großwetterlage in Deutschland der berühmt-berüchtigte »alte, weiße Mann« zu sein: Ein Mensch mit ausgeprägter Männlichkeit, der sich in alle möglichen »Ehrhändel« verwickeln ließ, ein glühender Nationalist und Patriot mit Interesse an den Weltmachtambitionen Deutschlands, ein – wenn auch ambivalenter – Befürworter des Kapitalismus als vermeintliche Gegenmacht zu ausuferndem Staat und wuchernder Bürokratie, ein titanischer Mensch, der nach Größe strebte und sich zur methodisch-rationalen Lebensführung regelrecht zwingen musste, ganz im Dienste des eigenen Werkes. Ein entschiedener Befürworter einer Kultur der Freiheit und nicht der Gleichheit, zu der 16sich eine geistesaristokratische »Moral der Vornehmheit«[17] gesellte. Kein Zweifel: Max Weber würde heute weltanschaulich und politisch wohl eher im konservativen Lager verortet und nicht mehr in der (links-)liberalen Mitte, der er sich zeitlebens verbunden wusste.
Freilich ist das nur die eine Seite Webers, in der er uns fremd und regelrecht »unzeitgemäß« geworden ist. Die andere Seite würde seine Sorge um Deutschland hervorheben, sein Interesse an der Parlamentarisierung der Politik, der Einhegung der Bürokratie, ja der Weltoffenheit und des kosmopolitischen Weitblicks für das, was einst »Universalgeschichte« hieß. Neben dem bildungsbürgerlichen Kanon zieht ihn alles an, was modern und unkonventionell zu sein scheint. Seien es die erotischen Radierungen von Max Klinger, die er seiner Frau schenkt. Sei es sein Einsatz für die bürgerliche Frauenbewegung, in der sich Marianne Weber engagiert. Weber tritt dezidiert für Wissenschaftler jüdischer Abstammung in der deutschen Hochschule ein, wie etwa Georg Simmel, dessen Berufung nach Heidelberg er vergeblich betreibt. Im Kaiserreich, in dem die deutsche Jugend rechts und national eingestellt ist, provoziert er mit dem Gedanken, dass die Universität durch Sozialisten und Kommunisten durchaus bereichert werden könnte, wenn sie sich an das Postulat der Wertfreiheit in Forschung und Lehre halten würden. Weber lädt den Rassentheoretiker Alfred Ploetz zum Vortrag auf den Soziologentag ein, nur um ihm dann minutiös nachzuweisen, dass sein Rassenbegriff wissenschaftlich unbrauchbar, weil zu undifferenziert ist. Die weitreichenden Erklärungsansprüche der Rassenbiologie auch für gesellschaftliche Zustände seien völlig ungedeckt und die von ihm konstatierten Rassenunterschiede seien eher das Ergebnis von sozialen Vorherrschaftsansprüchen der Weißen denn biologischer Natur. In Berlin lernt er W. E. B. Du Bois kennen, den er auf seiner Amerikareise wiedertreffen wird. Du Bois hatte mit The Philadelphia Negro die erste brauchbare empirische Studie über das soziale Schicksal der Schwarzen vorgelegt. The Souls of Black Folk[18] begeistert Weber so sehr, dass er – ebenfalls vergeblich – eine deutsche Übersetzung anregt.
17Bei alledem ist Weber kein typischer Theoretiker der Moderne, der mit einem Begriff die Welt erklären will. Denn von Großtheorien hält er nichts, weil sie ein überlegenes Wissen vorspiegeln, wo es sich um wilde Spekulationen handelt. Diese fast instinktive Ablehnung von Gesellschaftstheorie und Weltanschauungsproduktion hat ihn lange vor dem seinerzeit und auch heute noch normativen Fach »Soziologie« zurückschrecken lassen. Mit Dilettanten und ideologischen Virtuosen wollte er nichts zu tun haben. Steril aufgeregtes Literatengeschwätz, also Aufmerksamkeit bloß um der Aufmerksamkeit willen, war ihm ein Gräuel.
Gleichwohl hat er sich für alle möglichen Visionen und Utopien interessiert, sofern sie neue geistige Horizonte zu erschließen versprachen. Überall da, wo er nicht Schau in der Selbstdarstellung gewittert, sondern metaphysische Leidenschaft im Denken gespürt hat, hat er sich sofort mit ihnen auseinandergesetzt. So diskutiert er im Februar 1920 eineinhalb Tage lang mit Oswald Spengler über dessen Untergang des Abendlandes im Münchner Rathaus, wie er überhaupt noch die radikalsten Ideensysteme erst einmal ernstgenommen hat, um sie dann mit überzeugenden Argumenten umso klarer kritisieren zu können. Nach Beendigung der Diskussion, in der Spengler sich über Nietzsche und Marx als veraltete Figuren des 19. Jahrhunderts lustig gemacht hatte, sagte Weber zu seinen Studenten:
Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, daß er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selbst geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.[19]
Weber steht auf den Schultern der Riesen Marx und Nietzsche,[20] nicht weil er Marxist oder Nietzscheaner ist, sondern weil sie ihn 18die Grundkonfiguration der Moderne besser verstehen lassen. Weber ist Marxianer insofern, als er methodisch die Hypothese der materialistischen Geschichtsauffassung als Kontrastfolie für seine eigene Arbeit nutzt und sachlich den Kapitalismus ebenfalls als die »schicksalsvollste[ ] Macht unsres modernen Lebens«[21] ansieht. Weber ist kein Nietzscheaner, aber methodisch folgt er den Spuren des großen ikonoklastischen Destrukteurs aller »-ismen« wie Materialismus, Historismus, Naturalismus, Evolutionismus und Positivismus. Sachlich teilt Weber Nietzsches Diagnose vom Tod Gottes. Marx und Nietzsche liefern Weber methodisch und theoretisch die Mittel zur Kritik der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Kritik des Kapitalismus folgt in ihrer Ambivalenz ganz der Marx’schen Linie: technischer und ökonomischer »Fortschritt« ja, aber um den Preis der Seelenlosigkeit der wirtschaftlichen Maschinerie. Nietzsche gibt ihm die Stichworte zur Auseinandersetzung mit und Kritik an der bürgerlichen Moral. Die Entzauberung und Säkularisierung der Welt untergräbt das alte Pathos des Christentums, ohne dass eine neue Religion und Moral es ersetzen könnte. Die Moderne wird eine »Gesellschaft ohne Baldachin«.[22]
Auch wenn Marx und Nietzsche zur grundlegenden Orientierung von Webers Denken beigetragen haben mögen, geht er doch seinen eigenen Weg. Ihn interessiert die Entstehung der modernen Welt, die verschlungenen Pfade und Verästelungen vieler Entwicklungen, die sie dann als überraschendes Ergebnis hervorgebracht haben. Die »okzidentale Moderne« – wie er sie nennt und eben nicht »Abendland« wie Spengler – lässt sich nicht durch eine geschlossene Gesellschaftstheorie verstehen, wie es Marx in seiner politökonomischen Kapitalismusanalyse versucht hat. Vielmehr hilft nur eine offene Gesellschaftsgeschichte, die nicht von einem System und seinen Gesetzen ausgeht, sondern den Entwicklungen auf vielen Feldern nachgeht, um dann die »Verkettung von Umständen« anzugeben, die zum Take-off der Moderne im Westen geführt haben. Wie Marx findet auch Weber spät zu seinem Lebensthema, und ähnlich wie bei Nietzsche spielen Fragen der Religion und Moral eine zentrale Rolle. Deshalb interessiert ihn nicht der Kapitalismus 19per se, sondern die Kulturbedeutung des Kapitalismus. Diese Anlage seines Denkens bringt es mit sich, dass er die moderne Gesellschaft in ihren zahlreichen Verzweigungen und Verästelungen historisch-empirisch untersucht und in komplexen Konstellationsanalysen zu fassen versucht. Und wie in einem guten Kriminalroman wird er die Auflösung seines »Falls der Moderne«[23] ganz auf das Ende seines Lebens verschieben und dann in der »Vorbemerkung« seiner Religionssoziologie buchstäblich verstecken.
Webers Weg zur Darstellung der Genealogie der Moderne zu erzählen ist deshalb gar nicht so einfach. Es ist ein krummer Weg, der bei ihm zum Ziel führt. Deshalb soll einerseits der konventionellen Dreiteilung seines Werkes gefolgt werden, andererseits werden jeweils Tiefenbohrungen in den folgenden Kapiteln vorgenommen. Die erste Phase reicht von seinen Qualifikationsarbeiten Dissertation und Habilitation bis zu seinem Nervenzusammenbruch im Jahre 1898. In seiner Dissertation »Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten« (1889), danach als Buch Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter[24] publiziert, studiert Weber die Trennung des Firmenvermögens von der Familiengemeinschaft als eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus. Die Habilitation Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht[25] diskutiert den umkämpften »ager publicus« und wie Gemein- in Privateigentum umgewandelt wurde. Bereits in den Qualifikationsarbeiten demonstriert Weber nicht nur den analytischen Scharfsinn des Juristen, sondern das Interesse des Historikers an den Wurzeln des Kapitalismus. Gleich danach stürzt er sich in empirische Enquetearbeiten. Er beteiligt sich an der Studie über »Die Verhältnisse der Landarbeiter in Deutschland« und wird sich mit Ostdeutschland beschäftigen, wo er die Transformation von einer patriarchalischen zu einer kapitalistischen Arbeitsorganisati20on aufzeigt. Hier demonstriert der junge Weber seine enorme Arbeitskraft, denn innerhalb eines Jahres erstellt er eine 891-seitige Studie,[26] die ihn schlagartig im Deutschen Reich bekannt machen sollte. 1894 steuert er seine Studie über Die Börse[27] für Friedrich Naumanns Reihe Göttinger Arbeiterbibliothek bei, um auch der Arbeiterschaft zu zeigen, wie notwendig eine solche Institution als Finanzbasis für einen dynamischen Kapitalismus ist. Fachlich strebt der gelernte Jurist in die Wirtschafts-, Rechts- und Sozialgeschichte mit dem thematischen Schwerpunkt »Kapitalismus«, ist aber trotz soziologischer Färbung seiner Studien von seiner »Soziologie« noch ziemlich weit entfernt. Das wird sich mit seiner Genesung ändern.
Mit dem Beginn der zweiten Phase im Jahre 1903/1904 tritt er mit methodischen und universalgeschichtlichen Arbeiten hervor, die ihn weiter bekannt und heute berühmt machen sollten. Er schreibt die wichtigen Texte, die dann Marianne Weber nach seinem Tod als Wissenschaftslehre herausgeben sollte. Er verfasst die »Protestantische Ethik«, die eine langanhaltende Diskussion auslösen sollte, die er 1910 mit einem »antikritischen Schlußwort« beendet. Zugleich betätigt er sich weiter in empirischer Sozialforschung und beteiligt sich an einer Enquete zu den Industriearbeitern. Das Thema der Arbeit lässt ihn nicht mehr los und deshalb schreibt er eine »Psychophysik der Arbeit«,[28] um die psycho-physiologischen Bedingungen und Folgen der Arbeitsproduktivität aufzudecken. In dieser zweiten Phase legt Weber die methodischen und sachlichen Grundlagen seiner »Soziologie«.
In der dritten Phase von 1910 bis 1920 widmet er sich schließlich seinen beiden, innerlich eng zusammenhängenden Großprojekten: seinem eigenen Beitrag zum Grundriss der Sozialökonomik Wirt21schaft und Gesellschaft, dessen ersten Teil er noch selbst zum Druck bringen kann, sowie den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, die seine Überlegungen zur Kulturbedeutung des Kapitalismus und des Aufstiegs der »okzidentalen Moderne« in eine vergleichende Religions- und Gesellschaftsgeschichte der Weltregionen einbetten. Beide Großprojekte sollten ihn bis zu seinem Tod 1920 beschäftigen, ohne dass er sie wirklich zu Ende bringen konnte.
Diese konventionelle Erzählung anhand der drei Phasen seiner Werkbiographie wird gebrochen durch Tiefenbohrungen in sein Werk, die vielleicht auch die bleibenden Einsichten und Erkenntnisse Webers zutage fördern können. Sie werden die Spuren offenlegen, die Weber in seinen zahlreichen Studien hinterlassen hat. Die Schlussbetrachtung »Max Weber und wir« wird am Ende nochmals die Frage aufnehmen, was wir mit diesem großen und großartigen Werk, mit diesem Riesentorso eines »Stoffhubers« und »Sinnhubers«[29] heute noch anfangen können. Der vorliegende Ein- und Ausblick soll zeigen, dass auch in der Gegenwart noch viel von Weber für das Studium und das Verständnis heutiger Gesellschaften zu lernen ist. Die Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland hatte wohl die richtige Intuition, sich diesen Namenspatron auszusuchen.