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© 2020 Piper Verlag GmbH, München

»Abfahrt in den Tod« erschien bereits 2017 unter dem gleichen Titel bei der Emons Verlag GmbH, Köln

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Marc Girardelli, Jahrgang 1963, ist einer der erfolgreichsten alpinen Skirennläufer aller Zeiten. Er gewann u. a. fünfmal den Gesamtweltcup. Seit seinem Rücktritt vom Spitzensport ist er als Unternehmer und Kolumnist für verschiedene Zeitungen tätig.

 

Michaela Grünig, geboren in Köln, engagierte sich lange Jahre in der Entwicklungshilfe. Seit 2010 arbeitet sie hauptberuflich als Autorin in der Schweiz, wo sie zusammen mit ihrer Familie lebt. Außer Krimis schreibt sie noch heitere, bisweilen tiefgründige Unterhaltungsromane.

 

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

Für unsere beiden geliebten Familien

 

Als mein langjähriger Freund Marc mir mitgeteilt hat, dass er zusammen mit seiner Co-Autorin einen Ski-Krimi geschrieben hat, der im Profi-Milieu spielt, bin ich als ehemaliger alpiner Skirennläufer natürlich sehr neugierig gewesen. Würde es das Buch tatsächlich schaffen, die einzigartige, atemberaubende Atmosphäre der großen Rennen einzufangen? Wie wirklichkeitsnah kann man eine fiktive Krimihandlung in die realen Abläufe des Ski-Weltcups einbauen?

Aber der Krimi hat meine Erwartungen noch weit übertroffen, so authentisch wird der Adrenalinrausch des Rennläufers geschildert, der hochkonzentriert am Start steht und sich kurz darauf der gefährlichen Piste stellt. So realistisch werden die vielen Details des Profi-Skisports wie zum Beispiel die Startnummernvergabe und die Anwendung des FIS-Reglements in Szene gesetzt, was das Buch bestimmt für Profis und Laien gleichermaßen interessant macht.

Richtig überrascht war ich allerdings darüber, wie sehr mich die Handlung gefesselt hat: Ein Rennläufer in tödlicher Gefahr soll ausgerechnet von seiner Ex-Freundin gerettet werden – da fliegen die Seiten nur so dahin. Spannung pur. Und last but not least hat es mich natürlich sehr gefreut, dass ein Teil des Buchs in meiner wunderschönen Heimat Kitzbühel spielt, inklusive der Schilderung des Hahnenkammrennens und der berühmten »Weißwurstparty« im Stanglwirt.

Hut ab, Marc. »Abfahrt in den Tod« ist ein wirklich gelungenes Werk, das ich gerne weiterempfehle.

 

Servus,

Dein Hansi

1. Kapitel

Eine Hundertstelsekunde konnte das Rennen entscheiden. Ein Wimpernschlag. Und das bei einer Abfahrt von fast viereinhalb Kilometern Länge und tausendeinhundert Metern Höhenunterschied. Es war der blanke Wahnsinn. Warum tat er sich das nach seiner endlos langen Verletzungspause nur an? Wäre es nicht klüger, aufzugeben und etwas anderes mit seinem Leben anzufangen? Die ersten vier Rennen lagen ihm wie Blei in den Knochen … aber seine geflickten Knie hatten gehalten. Er stand auf Rang zwei des Gesamt-Weltcups. Damit hatte er den Jungspunden gezeigt, wo der Hammer hing, hatte bewiesen, dass man einen Marc Gassmann auch mit zweiunddreißig Jahren nicht abschreiben oder unterschätzen sollte. Und genau deshalb wollte er es noch einmal wissen: Er war noch immer hungrig. Verdammt hungrig auf Erfolg.

Marc federte ein paarmal tief in die Rennhocke, um sich aufzuwärmen. Er hatte bei der Verlosung Glück gehabt und eine Startnummer ziemlich weit vorn ergattert. Es waren nur wenige Läufer vor ihm, und die Piste sollte noch in einem relativ guten Zustand sein, wenn der Starter ihn gleich zu sich rufen würde.

Es herrschte Königswetter: blauer Himmel und herrlichster Sonnenschein. Die aktuelle Temperatur und die Luftfeuchtigkeit waren gerade per Funk von einem Betreuer des Schweizer Teams durchgegeben worden, und Marc hatte noch einmal auf die für diese Schneeverhältnisse präparierten Skier gewechselt. Jedoch nicht, bevor er sich davon überzeugt hatte, dass auch bei diesem Paar die Kanten absolut perfekt geschliffen waren. Das war sein Ritual. Der einzige abergläubische Akt, den er sich vor jedem Rennen gönnte. Er fuhr dazu mit der Kuppe seines rechten Daumens über die rasiermesserscharfen Kanten. Ganz langsam. So lange, bis seine Haut aufgeritzt war und ein winziger Blutstropfen sichtbar wurde. Dann zog er seine Handschuhe an und setzte sich den Helm auf. Es war seine Art, einen Schwur abzulegen. Sich selbst zu versprechen, sein absolut Bestes zu geben.

Die Zuschauer schrien seinen Namen, und er verzog den Mund zu einem kurzen abwehrenden Lächeln. Offenbar glaubten die Fans, die gedrängt wie die Ölsardinen das Startareal belagerten, dass er tatsächlich ausgerechnet jetzt Zeit für ein Selfie oder ein bisschen Small Talk hatte. Jetzt … nach dem monatelangen quälenden Training und der punktgenauen Vorbereitung. Nein. Ganz sicher nicht.

Offenbar sah Peter Winkler, sein österreichischer Erzrivale, das anders. Großkotzig wie immer gab er Autogramme und legte den Arm um jede dralle Blondine, die sich digital mit ihm verewigen wollte. Schulterzuckend wandte Marc sich ab. Das war nicht sein Problem. Wenn Peter den Start verpasste, konnte es ihm nur recht sein. Schließlich lag der bullige Möchtegern-Charmebolzen – zumindest momentan noch – mit ein paar Weltcup-Punkten in Führung. Aber Peter hatte auch nicht, wie er letztes Jahr, mit einem doppelten Bänderriss im Krankenhaus gelegen und sich dann, nach einer schier endlosen Rehazeit, zurück an die Weltspitze gekämpft.

Er spürte die respektvollen Blicke der restlichen Konkurrenten auf sich ruhen – für die teilweise zehn Jahre jüngeren Rennläufer war er noch immer ein Idol. Doch er versuchte, dieses Interesse an seiner Person nach besten Kräften zu ignorieren.

Gleich würde er sich der berühmt-berüchtigten Lauberhorn-Abfahrt stellen. Mann gegen Piste. Das war immer eine Sache auf Leben und Tod – obwohl er aus Wengen stammte und es praktisch ein Heimspiel für ihn war. Viele Läufer hatten sich hier schon brutal verletzt. Einige waren als Verlierer aus dem Duell hervorgegangen und hatten ihr Leben dabei gelassen. Man musste ein Idiot sein, um vor so einem grausamen Gegner keine Angst zu haben. Aber die Angst war schon immer Marcs Freund gewesen, machte ihn gleichzeitig wachsam und aggressiv. Schon bei der Besichtigung der Piste, die seit fast fünfzig Jahren den Rekord der längsten Strecke des Weltcups hielt, pulsierte wütend brodelndes Adrenalin durch seine Adern. Er hatte Respekt vor den gefährlichen Sprüngen, engen Brückenpassagen, dem Hanegg-Schuss und dem, im wahrsten Sinne des Wortes, tödlichen Ziel-S.

Heute Nacht hatte er kaum ein Auge zugemacht. Immer wieder war er im Halbschlaf die Ideallinie gefahren, hatte sich die Sprünge und Kanten vorgestellt. Und jetzt war es fast so weit. Nur noch wenige Minuten, dann würde er an der Reihe sein.

 

Die Trauer verbrennt mich, all meine Gedanken gehen nur in eine Richtung: Rache!

 

Der Tag des Rennens hatte immer eine besondere Atmosphäre. Die Leute zogen schon frühmorgens in Scharen zum Zielauslauf hoch, beladen mit Fahnen, Kuhglocken und »Hopp Schwiiz«­Transparenten. Auch österreichische, italienische und deutsche Fanklubs reisten zuhauf an. Der Alkohol floss in Strömen.

Manchmal war sich Marc nicht sicher, was die Leute lieber sahen: den Sieg ihres Favoriten oder die Niederlage aller anderen. Und natürlich gab es auch einige wenige Zuschauer, die sensationslüstern auf möglichst spektakuläre Unfälle hofften. Auch auf solche, die zu dem fürchterlichen Tod von Gernot Reinstadler geführt hatten, den es 1991 kurz vor dem Ziel-S buchstäblich zerrissen hatte: Er hatte so unglücklich verkantet, dass beim Sturz einer seiner Ski im Netz hängen geblieben war.

Marc schüttelte sich. Daran durfte er jetzt nicht denken. Aber es war wohl wahr, was eine Journalistin mal geschrieben hatte: Abfahrtsläufer waren moderne Gladiatoren. Wie im alten Rom ergötzten sich die Massen vor Ort und an den Bildschirmen an ihrem Wagemut und Können.

 

Gestern habe ich den Teufel am Pistenrand beobachtet. Er hat gelächelt. So als ob er kein Wässerchen trüben könnte. Seine Unbeschwertheit hat das kaum bezähmbare Verlangen in mir auslöst, mich auf ihn zu stürzen. Ihn mit bloßen Händen zu erwürgen. Doch er hat einen qualvolleren Tod verdient.

 

Das kratzende Geräusch von Stahlkanten auf Eis riss Marc aus seinen morbiden Gedanken. Peter war gerade gestartet, und es hörte sich so an, als ob er gut weggekommen wäre. Doch Marc würde den Lauf seiner Rivalen nicht auf dem Monitor verfolgen. Das wäre kontraproduktiv, würde ihn nur verunsichern. Stattdessen ging er noch einmal jeden Meter der Strecke im Kopf durch. Jeden Buckel, jeden Sprung, jede Kurve. Er brauchte zur absoluten Konzentration keine Musik auf den Ohren, so wie die jüngeren Läufer, die sich gerne per Kopfhörer mit Foo Fighters oder Muse zudröhnten. Er hatte es nicht nötig, sich zusätzlich aufzuputschen. Er spürte, dass er die Piste im Griff hatte. Er war bereit.

Kurze Zeit später ging ein Aufschrei durch die Zuschauer. Entweder war Peter gerade Bestzeit gefahren oder er war gestürzt. Aber Marc hatte keine Zeit, um rauszufinden, welche Alternative zutraf. Seine Startnummer kam immer näher. Nur noch zwei Läufer lagen vor ihm. Auf einmal fühlte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie das Blut durch seine Ohren rauschte. Rund um ihn herum nahm er kaum noch etwas wahr. Tunnelblick, starr geradeaus. Er konzentrierte sich auf eine möglichst gleichmäßige Atmung und überprüfte noch einmal den Sitz seiner Kniebandage.

Dann lief ein Schauer durch seinen Körper. Der Startrichter hatte ihm das Zeichen gegeben, ins Starthaus zu kommen. Er war der übernächste Läufer. Gleich nach Franz Koffert.

Schließlich war es so weit, athletisch glitt er zur Schranke. Seine Muskeln spannten sich an, als er die Startposition einnahm. Er fühlte sich wie ein Vollblüter kurz vor dem Rennen. Nervös. Begierig. Der Startrichter legte ihm die Hand auf die Schulter und zählte ihn an. Zehn Sekunden. Der Zeiger tickte laut. Doch Marc hörte nur seinen eigenen Herzschlag. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Hoffentlich hielt das verdammte Knie!

»Fünf, vier, drei, zwei, eins!«

Mit voller Wucht katapultierte er sich aus dem Starthaus. Drei kräftige Stockstöße, und schnell beschleunigte er auf hundertdreißig Kilometer pro Stunde. Im Training war er versucht gewesen, einen kurzen Blick auf die vor ihm liegende unglaubliche Kulisse der Eiger Nordwand zu werfen, doch daran verschwendete er jetzt keinen Gedanken.

Tief in der Rennhocke raste er am ersten Tor vorbei.

In seinem Helm rauschte es so laut, als würde er den Kopf bei voller Fahrt aus einem Zugfenster strecken. Nur, dass nicht alle Züge so schnell unterwegs waren wie er gerade. Jede Unkonzentriertheit musste bei solchen Geschwindigkeiten unweigerlich zu einer Katastrophe führen. Er verbannte den Gedanken an einen möglichen Sturz schnellstmöglich und visierte das nächste Tor an. Geschafft, und weiter.

 

»Man soll im Hier und Jetzt leben«, empfehlen viele Lebensratgeber. Aber für solch dumme Sprüche habe ich nur ein müdes Lächeln übrig. Was soll das heißen, »im Hier und Jetzt«? Als ob man da eine Wahl hätte. Ich habe keine. Ich bin ein Gefangener der Gegenwart, angekettet an die traurige Gewissheit, dass mir eine nur noch düsterere Zukunft bevorsteht. Nein, wenn ich diesem Gefängnis auf irgendeine Weise entfliehen könnte, würde ich, ohne jeden Zweifel, in der Vergangenheit leben wollen.

 

Die erste richtige Herausforderung erschien nach der vierten Kurve in seinem Gesichtsfeld. Tief unten in der Hocke, erkannte Marc die Kuppe, die schon viele prominente Opfer gefordert hatte. Er hatte die Videobilder studiert. Läufer, die den Russi-Sprung unterschätzten, flogen mehr als einhundert Meter weit und landeten im Flachen. Der Aufprall war so gigantisch, dass man sich dabei Knie und Knöchel brechen konnte. Oder das Genick.

Marc sprang optimal vor, flog siebzig Meter durch die Luft und landete schon wieder in der windschlüpfrigen Hocke. Es war dieser Moment, der ihm die einmalige Gewissheit brachte: Heute würde er unbesiegbar sein. Ja, so fühlte sich eine Siegesfahrt an.

Knapp vierzig Sekunden waren vorbei, und auf den Fernsehern würde die erste Zwischenzeit angezeigt werden. Direkt vor dem berüchtigten Hundschopf. Zwei haarnadelähnliche Kurven, um das Tempo zu drosseln, bevor man ins Nichts sprang. Marcs Herz schlug einen Trommelwirbel. Die Strecke endete hier an der Kante, und dahinter sah man bereits den Hang mit der voll besetzten Zuschauertribüne. Sprang er zu weit rechts, würde er unweigerlich in der Stahlstange landen, die das Sicherheitsnetz trug. Zu weit links bedeutete einen nicht aufholbaren Zeitverlust. Marc ging volles Risiko, hob ab und …

Uff! Ideal erwischt, nur einen Meter neben der Stange, und runter in den Abgrund! Der harte Aufprall drückte ihm den Kopf zwischen die Knie, und nur zwei Sekunden später kam ein neuerlicher Sprung über die berüchtigte Minschkante in die Schrägfahrt, die schließlich ganz flach und schmal in den bewaldeten Güterweg mündete.

 

Mein Augenstern wird nie wieder lächeln. Weil der Teufel und seine Vollstrecker dieses wunderschöne Lächeln ausgelöscht haben. Für immer. Doch der Teufel wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen. Niemals! Nicht, solange ich lebe.

 

Marc atmete tief ein, um seine brennenden Muskeln mit dem dringend benötigten Sauerstoff zu versorgen. Die Erholungsphase war kurz, viel zu kurz. Aber er fühlte sich stark. Immer noch unschlagbar. Weiter vorne konnte er schon die Neunzig-Grad-Kurve nach rechts ausmachen, das Kernen-S. Der Name stammte noch von dem früheren Weltmeister und Lauberhorn-Sieger Bruno Kernen, der einige Fahrten an dieser Stelle unfreiwillig im Netz beendet hatte. Ungebremst donnerte Marc darauf zu.

Zwei Riesenslalom-Schwünge bei Tempo neunzig auf purem Eis verlangten ihm vollen Krafteinsatz ab, und gleich darauf folgte der Sprung in den Tunnel, unter der Wengernalpbahn hindurch. Es kam ihm vor, als ob er aus dem dritten Stock eines Haus gesprungen wäre, so intensiv war der Aufprall. Aber auch diese Hürde brachte er erfolgreich hinter sich.

Langsam brannten seine Schenkel wie Feuer, und es wurde immer härter, in der geduckten Position zu verharren. Tief in der Hocke fiel ihm das Atmen schwer. Es waren erst neunzig Sekunden vergangen – und noch fast eine ganze Minute bis ins Ziel. Am liebsten hätte er kurz die Ellbogen auf die Knie aufgestützt, aber das kam natürlich nicht infrage. Er würde nicht kapitulieren.

»Arme nach vorne! Hocke, Hocke!«, feuerte er sich in Gedanken selbst an. Heute war sein Tag. Das spürte er ganz deutlich.

 

Natürlich muss Ivana gerade jetzt anrufen! Immer stört sie meine Konzentration, die anstrengende Fokussierung auf das Wesentliche, das mir von Zeit zu Zeit zu entgleiten droht. Ich verstehe nicht, warum uns die Trauer nicht verbindet. Aber das Gegenteil ist der Fall: Es scheint, als ob uns dieser Schicksalsschlag … nein … dieser willkürliche Todesfall auseinandertreibt.

 

Zwei weitere schwere Passagen verlangten Marc alles ab. Keuchend näherte er sich dem Hanegg-Schuss, dem schnellsten Pistenstück des ganzen Ski-Weltcups.

Mit hundertzwanzig Kilometern pro Stunde stach er in das steile, schattige Waldstück ein und fühlte, wie er unerbittlich auf hundertsechzig Kilometer pro Stunde beschleunigte. Die Sonne blendete ihn, sodass er die Kompression vom Steilen ins Flache nur erahnen konnte.

Wenn er jetzt auch nur ein einziges Mal den Kopf heben würde, hätte er seine Chance auf den Sieg vertan. Jeder zusätzliche Luftwiderstand kostete wertvolle Zeit.

»Unten bleiben, es sind nur noch zwanzig Sekunden!«, schoss es ihm durch den Kopf. Zumindest seine mentale Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen, und er stemmte sich mit aller Kraft gegen den Druck, der auf ihm lastete. Wie eine Kanonenkugel – geballte neunzig Kilogramm Lebendgewicht – flog er nun zum Österreicher-Loch vor. Es war eine eher leichte Passage, die aber so genannt wurde, weil sie vor Jahrzehnten dem österreichischen Team einen Blutzoll abverlangt hatte: Damals war die halbe Mannschaft mit Toni Sailer, Karl Schranz und Anderl Molterer genau hier gestürzt.

Nach über zwei Minuten auf der Rennstrecke hatte er kaum noch Kraftreserven übrig. Seine Knie und sein ganzer Körper schmerzten von den brutalen Landungen und Stößen auf der vereisten, unebenen Piste. Zeitweilig vibrierte es dermaßen, dass er glaubte, seine Bindungen müssten sich jeden Moment lösen. Aber das taten sie natürlich nicht.

Alles, was er jetzt bräuchte, wäre eine kurze Erholungsphase. Ein wenig harmloses Gleiten. Aber das gab es auf dieser Piste nicht mehr, und nur die Gewissheit, dass er hier und heute siegen würde, hielt ihn noch auf den Beinen.

Weiter unten, vor Anspannung und Entkräftung halb im Delirium, konnte er bereits den Schlauch ins Ziel-S ausmachen. Völlig verschwommen näherte sich das orangefarbene Sicherheitsnetz. Am liebsten hätte er sich einfach fallen gelassen, um vom Netz aufgefangen zu werden. Seine Knie waren wie aus Gummi und die Skier kaum noch kontrollierbar.

Stattdessen folgten erst eine prekäre Linkskurve und dann nochmals zwei knallharte Kraftakte, um das Ziel-S zu meistern. Hier hatten schon viele Läufer das Rennen noch in den letzten fünf Sekunden in den Sand gesetzt. Aber das würde ihm nicht passieren! Er biss die Zähne zusammen. Dieser Sieg trug schon jetzt seinen Namen. Nur noch wenige Sekunden, und dann würden ihm die Menschenmassen zujubeln. Von nichts und niemandem würde er sich diesen Erfolg entreißen lassen.

 

Ich stecke das Telefon wieder in die Jackentasche. Dabei berühren meine Finger das andere Objekt, das dort lagert. Meine Hand umschließt es zärtlich, während gleichzeitig der Schmerz über Igors unwiederbringlichen Verlust in meinem Herzen wütet. Warum hetzen wir durch unser Leben, obwohl wir wissen, dass es endlich ist? Das ist krank. Ich kann mir zwar die Fotografien aus der Zeit vor seinem Tod ansehen, aber es ist nicht dasselbe. Es ist niemals dasselbe. Gott, lass dem Teufel diese Sünde nicht ungestraft durchgehen! Gib ihm, was er verdient!

 

Es passierte, als er in die letzte Kurve vor dem Ziel einbog. Ein dumpfer Knall, wie eine Explosion ­ direkt über ihm!

Irgendetwas prasselte mit voller Wucht gegen seinen Helm, Hals und Rücken.

Instinktiv zog er den Kopf zwischen seine Schultern und duckte sich nach rechts, um der Gefahr von oben zu entrinnen. Doch die abrupte Bewegung beeinträchtigte auf dramatische Weise sein Gleichgewicht. Er schlingerte und wäre um ein Haar gestürzt. Mit aller Macht kämpfte er gegen die Schwerkraft an ­ das plötzlich flacher werdende Gelände schien es einfacher zu machen ­ und durch eine fast schon akrobatische Einlage schaffte er es, sich wieder zu stabilisieren.

Selbst durch den Rückenprotektor hindurch konnte Marc fühlen, dass etwas Scharfkantiges seinen Rennanzug aufgeschlitzt hatte und in dem schützenden Material stecken geblieben war. Verdammt! Was, in drei Teufels Namen, war das?

Seine eiserne Konzentration hatte Risse bekommen, aber er hielt sich … irgendwie … auf den Beinen. Das Rennen ging weiter. Ein letzter Sprung mit nach vorn gereckten Armen. Eine letzte Landung.

Dann passierte er die Ziellinie.

Vollkommen entkräftet bremste Marc ab und drehte sich reflexartig zur Anzeigentafel um. Die Zahlen verschwammen vor seinen tränenden Augen, und er presste verzweifelt die Lider zusammen, um besser sehen zu können. Dann erkannte er das Ergebnis: + 0,03. Und dahinter leuchtete eine Zwei auf. Der undankbare zweite Platz! Hinter seinem Erzrivalen Peter! Verdammt!

Vor Wut und Enttäuschung schlug er mit seinem Stock so hart auf den Boden, dass der nasse Schnee nur so spritzte. Er war so nah dran gewesen, hatte den Sieg doch schon in der Tasche gehabt! Und ­

»Mein Gott, Marc! Du lebst!«, schrie eine Stimme. Sein Trainer, Hans Bischoff, stürzte auf ihn zu. Er war kalkweiß im Gesicht, klang vollkommen hysterisch. Marc war so erschöpft, dass er kaum aus den Skiern steigen konnte. Das Geschehen um ihn herum nahm er beinahe wie in Zeitlupe wahr. Er war doch die Abfahrt eindeutig heil heruntergekommen. Was machte Hans also für einen Aufstand?

»Marc!« Völlig untypisch für seinen sonst so stoischen Trainer, fiel ihm Hans fast um den Hals. Erst im letzten Moment konnte Marc dieser peinlichen Geste noch durch eine Halbdrehung entgehen.

»Eh! Was ist denn mit dir los?«, fragte er ärgerlich. Auf einmal spürte Marc einen scharfen Schmerz im Nacken und ertastete die Stelle mit seiner Hand. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Trotz der klirrenden Kälte fühlte er etwas Feuchtes. Überrascht blickte er auf seine rot verschmierten Finger. Wo kam jetzt das verdammte Blut her?

»Du bist …«, keuchte sein völlig aufgelöster Trainer. Er trat hinter Marc und zog einen plastikartigen, gezackten Splitter aus seinem Rückenprotektor. »Du bist um ein Haar erschlagen worden!«

Marc blickte ihn fassungslos an. Er hatte den Knall über sich und die auf Rücken, Hals und Helm herunterprasselnden Trümmer total verdrängt. Es war ihm in diesem Moment nur darum gegangen, möglichst schnell seine Konzentration wiederzuerlangen.

»Wie … erschlagen?«, stammelte er. »Von was?«

»Wenn du nur eine Millisekunde langsamer gefahren wärst, würdest du jetzt nicht mehr unter den Lebenden weilen …« Hans wischte sich den Angstschweiß von der hohen Stirn. »Weil … weil genau hinter dir eine beschissene Fernsehdrohne auf die Piste gestürzt ist!«

2. Kapitel

»Hast du gestern das Rennen verfolgt?«, fragte Urs Berger schlecht gelaunt. Doch Andrea wusste, dass sein unleidlicher Ton nicht ihr galt. Er steckte vielmehr mitten in seiner morgendlichen Kaffeezubereitungszeremonie und hatte gerade die leere Milchtüte im Gemeinschaftskühlschrank entdeckt. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck schmiss er die nutzlose Verpackung in den Abfalleimer und öffnete den Vorratsschrank, der allerdings nur eine einsame Tüte Zucker enthielt. »Was zum Teufel!«, schimpfte Urs. »Welcher Idiot nimmt die letzte Milch, ohne neue einzu­«

Andrea zog eine Schublade auf und reichte ihrem Kollegen bei der Kantonspolizei Zürich-West ungefragt eine Packung mit bunten Kondensmilch-Döschen. »Ja, habe ich.«

»Was? Ach, das Rennen. Was für ein Skandal! Man hätte den Lauf wiederholen müssen. Gassmann hatte den Sieg schon in der Tasche, und dann so was. Klar, dass dieser Ösi Winkler sich über Gebühr gefreut hat! So gewinnt man leicht zusätzliche Weltcup-Punkte, wenn der Konkurrenz Plastikteile auf Buckel und Kopf fliegen! Aber den Gassmann schreib ich nicht ab. Der ist ein Kämpfer! Noch ist nicht aller Tage Abend.«

Bevor er die Kondensmilch öffnete, brachte Urs vorsichtshalber seine Uniformkrawatte in Sicherheit und schwang sie routiniert über die rechte Schulter. Dann zog er an der widerspenstigen Aluminiumlasche, die ihm den Weg zu einem anständigen Milchkaffee versperrte. Doch seine Finger übten offenbar zu viel Druck aus.

»Scheiße!«, schrie er, als die weiße Flüssigkeit über seine Finger und auf sein hellblaues Diensthemd spritzte. »Wer erfindet denn so einen Dreck? Immer explodieren diese verdammten Dinger!«

Andrea unterdrückte ein Grinsen und reichte ihm ein Küchenhandtuch. Sie hätte den Behälter gern für ihn aufgemacht. Ihre geschickten Hände hatten keinerlei Probleme mit diffizilen Öffnungsmechanismen. Aber aus Erfahrung wusste sie, dass ihre männlichen Kollegen nur widerwillig Hilfe vom »schwachen Geschlecht« annahmen. Selbst schuld. Auf der anderen Seite war das Milch-Malheur eine willkommene Unterbrechung des Gesprächs. Sie redete nun mal nicht gern in der Öffentlichkeit über Marc, auch wenn sie sich – nach wie vor – alle seine Rennen am Fernseher anschaute.

»Alles okay?«, fragte sie, bereits auf dem Sprung.

»Geht schon. Aber Regula wird sich wieder beschweren, dass ich kein Hemd zweimal anziehen kann«, knurrte Urs und rieb mit dem Küchenhandtuch über das besudelte Kleidungsstück.

»Na dann, bis später!« Andrea lächelte. Irgendwie unlogisch, dass die »starken« Männer ausgerechnet vor der eigenen Ehefrau einen Heidenrespekt hatten.

Sie schnappte sich ihren frisch aufgegossenen Tee und ging mit schnellen Schritten in ihr Büro zurück. Normalerweise teilte sie sich den winzigen, mit Linoleum ausgelegten Raum mit einer Kollegin, aber da diese gerade im Urlaub weilte, herrschte eine wohltuende Ruhe an ihrem Arbeitsplatz.

Mit einem Seufzer setzte sie sich vor den Bildschirm und starrte minutenlang auf die Excel-Tabelle, an der sie gerade werkelte. Wer hätte gedacht, dass ihre MS-Office-Programmkenntnisse bei der Polizeiarbeit einmal wichtiger sein würden als ihre Schießkünste und ihre körperliche Fitness? Erst letzten Monat hatte sie sich erneut auf eine freie Stelle bei der Kriminalpolizei beworben, aber noch immer keine Antwort erhalten. Hier bei der Sicherheitspolizei fiel ihr jedenfalls die Decke auf den Kopf. Dabei war sie erst vor Kurzem der Polizeiruf-Einsatzzentrale entflohen. Dort war sie bei den insgesamt hundertsechsundsechzigtausend eingehenden Notrufen pro Jahr eine besser bezahlte Telefonistin gewesen. Jemand, der lediglich die Kollegen zu interessanten Fällen schickte, anstatt selbst tätig zu werden.

Doch die »Informationsbeschaffung zur inneren Sicherheit«, an der sie momentan im Auftrag ihres Chefs Max Ebert arbeitete, war leider auch nicht besonders ruhmesreich: Sie hatten den Auftrag, die Akten aller Suizidfälle der letzten Jahre durchzugehen und zu einer Statistik zusammenfassen. Offenbar benötigte der Bund diese Angaben, um eine geeignete Präventionspolitik zu formulieren. Das war natürlich löblich und in Anbetracht der Größe des Problems sicherlich auch eine wichtige Sache: Immerhin begingen jedes Jahr rund zweihundertfünfzig Personen im Kanton Zürich Selbstmord. So viele Tote gab es noch nicht einmal bei Verkehrsunfällen, und auf die Einwohnerzahl gerechnet, war das die vierthöchste Suizidrate der Schweiz. Trotzdem. Es gab Interessanteres, als Akten zu wälzen, und aus eigener Erfahrung wusste sie, dass die Selbstmord-Prävention ein heikles Thema war.

Andrea schrieb gerade über die soziodemografischen Merkmale der Selbstmörder – offenbar nahmen sich ledige ältere Männer besonders häufig das Leben –, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Abwesend griff sie nach dem Hörer.

»Wachtmeister Andrea Brunner«, meldete sie sich.

»Ebert. Können Sie bitte in mein Büro kommen?«, sagte ihr Vorgesetzter am anderen Ende der Leitung.

»Jetzt?«

»Ja«, bestätigte Hauptmann Max Ebert und legte auf. Er war eher ruhig veranlagt und kommunizierte recht wortkarg.

Andrea sicherte ihr Dokument und schnappte sich ihre Dienstjacke. Hm. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Wollte Ebert sie vielleicht persönlich darüber informieren, dass man sie endlich bei der Kriminalpolizei angenommen hatte? Sie fühlte, wie sich bei dem Gedanken ihr Puls freudig beschleunigte.

Doch als sie wenige Minuten später Eberts Büro betrat, war ihr schnauzbärtiger Chef nicht allein. Ein groß gewachsener Mann Mitte fünfzig saß ihm gegenüber und drehte sich zu ihr um, als sie das Zimmer betrat. Die von Lachfältchen umgebenen Augen von Eberts Besucher musterten sie eher kritisch als neugierig. Merkwürdigerweise wirkten seine braun gebrannten Züge vertraut. So als hätte sie das hagere Gesicht mit der hervorstechenden Adlernase schon einmal gesehen. Aber sie konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen sein sollte.

Ihr Vorgesetzter räusperte sich. »Das ist Herr Rominger. Er ist der Manager von einem unserer berühmtesten Skiläufer. Der Name Marc Gassmann dürfte Ihnen ja ein Begriff sein. Oder?«

Andrea fühlte, wie sie errötete. Verdammt, das war ihr schon länger nicht mehr passiert. Aber der Name Marc Gassmann war ihr bekannt. Und nicht nur sein Name. Leider. Plötzlich fiel ihr auch ein, woher sie Romingers Gesicht kannte. Sie hatte ihn im Fernsehen gesehen – bei einer Pressekonferenz, neben Marc.

»Frau Brunner?«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie Eberts Frage nicht beantwortet hatte. »Ja, natürlich habe ich schon von ihm gehört«, versicherte sie eilig, bemüht, ihrer Stimme einen möglichst neutralen Klang zu geben.

Ihr Chef zeigte knapp auf einen freien Stuhl vor seinem Schreibtisch, und Andrea setzte sich. »Bitte, Herr Rominger, schildern Sie Frau Brunner Ihre Befürchtungen.«

Marcs Manager musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, als würde er den Sinn und Zweck eines Gesprächs mit ihr anzweifeln. Andrea war an solche Reaktionen gewöhnt. Obwohl die Schweiz in vielerlei Hinsicht ein sehr fortschrittliches Land war, gab es noch immer so manche Einwohner, die sich lieber männlichen Polizisten anvertrauten. Frauen sah man in diesem Beruf eher als Strafzettelverteilerinnen. Doch sie ließ sich nicht durch solche Vorurteile provozieren. Sie wartete einfach ab. Früher oder später wollten die Leute ihre Probleme loswerden. Und auch Herrn Romingers Worte ließen nicht allzu lange auf sich warten.

»Haben Sie das gestrige Rennen gesehen?«, wurde sie zum zweiten Mal an diesem Tage gefragt.

»Ja. Es hat dort einen bedauerlichen Unfall gegeben, richtig?«

Rominger wirkte auf einen Schlag sehr ernst. »Nein. Nicht wirklich.«

Überrascht blickte Andrea ihn an. Er konnte den Vorfall doch nicht abstreiten. Sie hatte das Unglück schließlich mit eigenen Augen am Fernseher verfolgt, und der Sprecher hatte die Zuschauer darüber aufgeklärt, dass eine der Drohnen, die das Rennen aus der Luft filmten, abgestürzt war.

»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sie sich verwundert.

Doch Rominger wollte sie offensichtlich auf die Folter spannen. »Vielleicht fange ich besser ganz von vorn an«, meinte er und umfasste mit beiden Händen die Armlehnen des Bürostuhls, auf dem er saß.

Andrea ließ sich ihre Wissbegierde nicht anmerken und wartete, äußerlich gelassen, seine weiteren Worte ab.

»Durch seine vier Weltcup-Siege ist Marc für viele Schweizer ein Idol. Ein umschwärmter Nationalheld«, setzte Rominger an.

Das brauchte man ihr nicht zu sagen. Selbst wenn man, wie sie selbst, Marcs Ebenbild aus dem Weg gehen wollte, schaffte man das in Zürich keine Viertelstunde. Überall hing sein Konterfei. Überlebensgroß warb er für günstige Handy-Tarife, Rasierwasser, Skihersteller und sogar halb nackt mit Sixpack für eine Jeansmarke.

»Doch natürlich gibt es bei so viel Licht auch Schatten. Nämlich eine ganze Menge Leute, die ihm den Erfolg neiden.«

Sie nickte. Neider gab es leider überall. Aber in Marcs Fall konnten diese missgünstigen Leute doch eigentlich nichts ausrichten. Schließlich ging es bei ihm allein um die erzielten Zeiten. Dummes Geschwätz machte ihn nicht langsamer. Im Gegenteil. So wie sie ihn kannte, hatte ihn unberechtigte Kritik und sonstiger Gegenwind eher schneller werden lassen.

»Deshalb haben wir diese Briefe auch lange Zeit nicht ernst genommen.«

»Briefe?«, erkundigte sich Andrea überrascht. Sie hatte eigentlich an Reporter gedacht, die Marc in ihren Artikeln als »alten, kaputten Mann« abstempelten, oder an vormalige Kollegen, die in Interviews eifersüchtig über ihn herzogen.

»Ja. Seit einiger Zeit erhält Marc anonyme Schmähbriefe. Darin wird er aufgefordert, seine Karriere umgehend zu beenden, sonst …« Herr Rominger blickte sie unschlüssig an. So, als ob er sich nicht sicher wäre, ob sie die ganze Wahrheit vertragen würde.

»Sonst?«, hakte sie nach.

»Sonst drohe ihm Gefahr für Leib und Leben«, vervollständigte Rominger widerwillig seinen Satz und blickte dabei Ebert an, der weiterhin ungerührt hinter seinem Schreibtisch saß.

»Der Briefeschreiber will verhindern, dass Marc Gassmann Rennen fährt?«, fragte Andrea perplex. »Aber wieso?«

Rominger zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was er gegen Marc persönlich hat. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um einen Anhänger der Konkurrenz. Er schreibt jedenfalls von neuen, jungen Talenten, die auch eine Chance auf den Sieg verdient hätten.«

Andrea blickte ihn ungläubig an. »Das ist doch absoluter Quatsch. Wenn die ›neuen‹ Talente so gut wären, würden sie Herrn Gassmann im Rennen besiegen. Außerdem liegt gerade Winkler im Weltcup vorn. Sollte dann nicht eher er diese unliebsame Post erhalten?«

»Was weiß ich. Vielleicht gehen diese Schreiben ja tatsächlich an alle Athleten im alpinen Skisport raus ­ ich habe mich mit den anderen Teams nicht darüber ausgetauscht. Wir, also Marc und seine Crew, haben uns anfänglich über diese Briefe auch nicht den Kopf zerbrochen, aber seit gestern machen wir uns doch Sorgen. Dieser ›Unfall‹ ist noch einmal eine andere Hausnummer als leere Drohungen in Briefform.«

Rominger hatte das Wort »Unfall« so deutlich betont, da würde sie gleich noch einmal nachhaken müssen. Aber zunächst wollte sie weitere Details erfahren. »Wie viele solche Schreiben hat Herr Gassmann denn bekommen? Haben Sie eins dabei, das ich mir ansehen kann?«

Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand über das sorgfältig zurückgekämmte dunkelbraune Haar, das an den Schläfen bereits ergraute. »Nein, ich habe sie immer umgehend im Papierkorb entsorgt. So einen Quatsch hebe ich nicht auf. Aber es müssen so um die sechs Stück gewesen sein.«

Andreas Vorgesetzter gab ein missbilligendes Schnalzen von sich, und insgeheim musste sie ihm recht geben: Man warf anonyme Drohschreiben nicht einfach weg. Schließlich handelte es sich dabei um potenziell wichtige Beweismittel.

»Auf welche Weise sind Ihnen diese Briefe zugestellt worden?«

»Sie sind an Marcs Privatadresse in Kilchberg geschickt worden. Einer meiner Mitarbeiter hat sie von dort zusammen mit der restlichen Post abgeholt und geöffnet. Marc selbst ist ja in der Wintersaison kaum zu Hause.«

Ja, daran konnte sie sich noch gut erinnern. Marc war damals, vor so vielen Jahren, auch jeden Winter für fast sechs Monate verschwunden gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte ihn immer sehr vermisst. Aber daran durfte sie jetzt nicht denken. Andrea riss sich zusammen und konzentrierte sich erneut auf das Gespräch.

»Wissen Sie noch, ob die Briefe handgeschrieben waren? Haben Sie auf den Poststempel geachtet?«

Nachdenklich rieb sich Rominger mit dem Zeigefinger über die schmale Nase. »Ich glaube, dass die Umschläge weder frankiert noch abgestempelt waren.«

»Sie meinen, jemand hat die Briefe höchstpersönlich in Ma… Herrn Gassmanns Briefkasten geworfen?«

Rominger nickte mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck. Offenbar war ihm bisher nicht bewusst gewesen, dass der anonyme Briefeschreiber also nicht nur Marcs Privatadresse im noblen Kilchberg kennen, sondern auch selbst vor Ort gewesen sein musste.

Ihr Chef räusperte sich. »Sind auf Herr Gassmanns Grundstück Security-Kameras installiert?«

»Soweit ich weiß nicht.«

»Sie haben noch nicht gesagt, ob die Briefe handgeschrieben waren«, erinnerte Andrea Marcs Manager an den ersten Teil ihrer Frage.

»Nein. Das waren sie nicht. Der Verfasser hatte Buchstaben und auch ganze Wörter aus Zeitungen ausgeschnitten und zu Sätzen zusammengeklebt.«

»Ich verstehe«, sagte Andrea. Sie hatte ein ungutes Bauchgefühl. Diese Vorgehensweise schien auf eine größere kriminelle Energie hinzudeuten. Jemand, der sich nur einen schlechten Scherz erlauben wollte, würde wahrscheinlich nicht so viel Zeit investieren.

Sie sah Rominger direkt ins Gesicht. »Und warum nehmen Sie die Angelegenheit ausgerechnet jetzt ernst? Weil Ihnen der gestrige Unfall gezeigt hat, wie angreifbar Herr Gassmann während des Rennens ist?«

»Nein. Nicht deswegen. Sondern weil der Drohnenabsturz kein Unfall war.«

»Sie meinen, dass einer der Kameraleute die Drohne absichtlich auf die Piste stürzen ließ?«, erkundigte sich Andrea verblüfft. Das klang mehr als unwahrscheinlich.

»Ich meine … nein … ich weiß inzwischen, dass die Drohne keinem der gestern anwesenden Fernsehteams gehörte. Es war ein gezielter Angriff auf Marcs Leben.«

Andrea spürte, wie ihre Kopfhaut zu prickeln anfing. Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie fragte: »Wie können Sie sich da so sicher sein?«

»Die Pistenwärter haben uns die Überreste der Drohne übergeben, und darunter befand sich keine zerstörte Kamera, wie sie normalerweise unterhalb des Flugmechanismus montiert ist.«

»Hm. Könnte sich die Kamera durch den Aufprall nicht aus der Verankerung gelöst haben? Vielleicht ist sie einfach außerhalb der Piste geschleudert worden.«

Rominger schüttelte den Kopf. »Nein. Es war noch nicht einmal der richtige Drohnentyp. Die von den Fernsehteams verwendeten ›fliegenden Kameras‹ sind weiß und relativ groß. Die silberne Drohne, die Marc den Sieg und beinahe das Leben gekostet hat, war wesentlich kompakter. Zudem konnten die Fernseh-Drohnen unversehrt sichergestellt werden.«

»Ist das denn niemandem vor Ort aufgefallen?«, fragte Andrea überrascht.

Rominger lachte verbittert auf. »Die Rennleitung hat nach dem ›Unfall‹ den Wettbewerb ganz normal weiterlaufen lassen. Schließlich wurde das Rennen live übertragen, da wollte man keinen Skandal provozieren. Man hat lediglich die auf der Piste verstreuten Teile aufgesammelt, und schon gab es das Startsignal für den nächsten Läufer. Und hinterher waren alle erleichtert, dass Marc ›nichts Schlimmes‹ passiert war. Ich musste selbst mit den Kameraleute sprechen, um herauszufinden, wem das verdammte Teil gehört hat. Und dabei ist dann die ganze Wahrheit ans Licht gekommen.«

»Und da haben Sie nicht sofort die Polizei in Wengen oder Lauterbrunnen verständigt?«, erkundigte sich Andrea.

Rominger blickte sie an, als ob sie leicht unterbelichtet wäre. »Nein, Frau Wachtmeister, ich bin lieber direkt zur richtigen Polizei gegangen. Immerhin wohnt Marc im Kanton Zürich.«

»Haben Sie die sichergestellten Überreste noch?«, schaltete Ebert sich ein.

»Ja.«

»Dann übergeben Sie sie bitte Wachtmeister Brunner. Sie wird alles Weitere veranlassen. Wir müssen diese Trümmerteile auf Fingerabdrücke und eventuell auf Sprengstoffreste überprüfen.«

Andrea nickte. Sie fühlte sich irgendwie ganz benommen. Jemand trachte nach Marcs Leben? Warum? Aus reinem Konkurrenzstreben?

»Ich habe die Tüte im Wagen«, sagte Rominger.

»Gut«, sagte Ebert. »Können Sie sie bitte holen?«

Marcs Manager nickte, stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Büro des Hauptmanns.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, brummte Ebert: »Was für eine Sauerei. Ich möchte, dass Sie sich um die Sache kümmern.«

Andrea blickte ungläubig auf. Nein, das ging nicht. Jeden anderen Fall würde sie liebend gerne übernehmen, aber nicht den. Denn in diesem Zusammenhang würde sie sicherlich auch auf Marc treffen. Himmel, sie würde sogar mit ihm sprechen müssen. Ihm sachlich und ruhig Fragen zu seinen möglichen Feinden stellen. Und das wollte sie nicht. Das konnte sie nicht. Dazu stand einfach zu viel zwischen ihnen.

»Ähm … ich kümmere mich gerne um die Trümmer. Aber ansonsten bin ich momentan leider zu beschäftigt mit der Selbstmordstatistik«, antwortete sie eilig.

Ihr Vorgesetzter warf ihr einen langen Blick zu. »Ihre Bewerbung für die Kripo ist erneut abgelehnt worden. Sie verfügen über zu wenig praktische Felderfahrung. Aber dem werden wir Abhilfe schaffen. Geben Sie die verdammte Statistik an Berger ab. Ich will, dass Sie die Umstände dieses ›Unfalls‹ untersuchen, und falls nötig, werden Sie auch für Marc Gassmanns Personenschutz sorgen.«

Andrea wollte protestieren, die Worte lagen ihr bereits auf der Zunge. Aber sie wusste, dass Ebert keine Widerrede dulden würde. Das tat er nie. Besonders wenn sie ihm nicht einmal einen guten Grund nennen konnte, sie von diesem Fall abzuziehen. Nein, sie saß in der Falle und sagte deshalb die einzigen Worte, die der Situation angemessen waren.

»Danke, Hauptmann Ebert.«

3. Kapitel

Ich gebe zu, dass ich enttäuscht bin von der Bilanz meiner Reise. Und das ist eine Untertreibung. Aber es ist schwer, meine Gedanken in Worte zu fassen. Zu viel will gleichzeitig aufs Papier. Meine Gedanken behindern sich gegenseitig, blockieren meine Synapsen, drängeln rücksichtslos an die Oberfläche meines Bewusstseins. Es macht mich schwindelig. Letztendlich kommt doch nur ein Wort zum Vorschein: Enttäuschung. Es ist unzulänglich. Wie alles in meinem Leben.

Ivana ist ebenfalls enttäuscht. Darüber, dass ich nicht entspannter aus meinem »Kurzurlaub« in Wengen zurückgekehrt bin und das von ihr gekochte Essen kaum anrühre. Ja, vor allem Letzteres macht sie unglücklich. Das lässt sie mich deutlich spüren. Manchmal wundere ich mich, wie wenig sie mich – nach all der Zeit – kennt.

 

Auf dem Weg nach Hause in ihre heimelige Altbauwohnung in Adliswil gab Andrea die Überreste der zerstörten Drohne beim Forensischen Institut ab, das in unmittelbarer Nähe des Kantonspolizeigebäudes lag. Sie machte sich bezüglich der Ergebnisse der forensischen Analyse keine großen Hoffnungen. Die Plastikteile waren wahrscheinlich schon durch zu viele Hände gewandert, um noch eindeutige Rückschlüsse auf den Täter zuzulassen. Aber vielleicht konnten die Kollegen herausfinden, ob die Drohne explodiert oder durch technische Mittel zum Absturz gebracht worden war.