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Lang, Gerhard:
Auch nach Mitternacht
EpisodenGeschichten
© August 2010 – Gerhard Lang
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN 978-3-8448-5152-6
…und ein Engel mit
schwarzem Haar mit
langem Kinderblick
überspiegelt all Erträumtes …
von Augenblick zu Augenblick
Nachdem er lange und reglos dagesessen hatte, ordnete er die Blätter, schob sie wieder in das Kuvert, legte den Brief zurück auf den Tisch, stand auf, ging in die Diele, nahm seine Jacke vom Haken und verließ seine kleine Wohnung.
Er beachtete die Menschen nicht, an denen er vorbeiging, schreckte einmal auf, als er einen Schatten neben sich bemerkte, der aber nur sein Spiegelbild in der Scheibe eines Ladenfensters war.
In der Fußgängerzone blieb er schwitzend vor einer Schaufensterfront stehen, in der sich das Sonnenlicht widerspiegelte.
Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn, und die Menschen und all die Geräusche zogen an ihm vorbei. Und er schloss die Augen, und nach einer Weile war es ihm, als vernehme er das Hin und Her der Menschen, wie ein sich aus der Ferne näherndes Gemurmel, das sich in unzählige Lichtpünktchen verwandelte, hinter seinen geschlossenen Augenlidern wie Geysire emporschnellte, zusammensackte, wieder emporschnellte, wieder zusammensackte, um noch einmal emporzuschnellen und noch einmal zusammenzusacken. Und er dachte, dass keiner der Menschen hier über den anderen etwas zu sagen wusste. Dass alle die Menschen da aneinander vorbeieilten, ohne zu erahnen, an wem sie vorbeieilten. Und dass alle die Menschen da sich darüber keine Gedanken machten, und dass alle die Menschen da Masken trugen, hinter denen sie ihr wahres Gesicht verbargen.
An einem kreisförmig angelegten Platz, auf dessen Mitte Granitsteinsäulen standen, über die, in der Sonne glänzend, Wasserteller plätscherten, tummelten sich einige Jugendliche. Auf den Sitzblöcken stehend, die das Wasserspiel umgaben, versuchten sie, unter grölendem Gelächter, ihre Spucke über die Granitsäulen zu schleudern. „He, Mann, saugeil, ich schaff’s … ja, blas dir einen …“, hörte ihre kindischen, spielerischen Verbal-Attacken, sah abseits ein Mädchen sitzen, das rauchte, mit ihrem Handy spielte und immer wieder aufblickte, plötzlich loslachte über etwas, das die Jungs taten.
Bist du in einen von denen da verliebt, Mädchen?, dachte er, und dachte an Eline. An Eline, die jetzt im Supermarkt vielleicht damit beschäftigt war, Kartons aufzuschlitzen, vielleicht damit beschäftigt war, im Akkord massenweise Ware in die Regalschluchten zu stopfen. Er beobachtete das Mädchen und dachte an Eline, an die Beweglichkeit ihres Körpers, an ihren schlanken Körper, den er fasziniert betrachtet hatte, der sich so scheinbar mühelos biegen und strecken konnte. Dieser Körper, der auf Zehenspitzen balancierend eine Warenpackung nach der anderen bis in die obersten Regalablagen bugsieren konnte. Und er dachte daran, wie er plötzlich hinter diesem Körper gestanden hatte und aus heiterem Himmel gesagt hatte: „Haben Sie auch Brunello?“ Und wie, im selben Moment, dieser Körper sich umgewandt hatte, plötzlich ein Gesicht und eine Stimme hatte, eine herzliche, tiefe Stimme, die ohne zu zögern mit: „Ja, den gibt’s gerade im Angebot“ geantwortet hatte. Und er dachte daran, wie er am Abend in seinem Zimmer den Wein getrunken hatte und dabei ununterbrochen an die Verkäuferin denken musste, und noch an sie dachte, als er schon fast eingeschlafen war. Und er dachte daran, wie er am nächsten Tag mit einem albernen Teenagerherz voller Fantasien zum Supermarkt gegangen war, aber sie nirgends entdecken konnte, den lieben langen Tag nirgends entdecken konnte. Auch nicht, als im Supermarkt die Lichter ausgeschaltet wurden und er, enttäuscht, ja fast wütend, wieder heimwärts getrottet war – dem Sonntag entgegen – diesen Sonntagen, die er sich alle zum Teufel wünschte, die nur Leere für ihn bedeuteten, eine nie enden wollende Leere. An keinem Tag der Woche sonst, fühlte er so, übermannte ihn die Einsamkeit so stark wie an den Sonntagen.
Und jetzt kommen sie wieder, diese sonnigen Sommersonntage. Diese nie enden wollenden, sonnigen Sommersonntage, die sich über ihn stülpen. Diese Sommersonntage, an denen die Fußgängerzone den Verliebten gehört, den Familien, den Kindern und all den anderen Menschen, mit denen er, wie er glaubt, nichts gemeinsam hat.
In einem Straßencafé legte er seine Jacke über eine Stuhllehne, bestellte ein Pils, befühlte das Münzgeld in seiner rechten Hosentasche, blickte der jungen Frau nach, die seine Bestellung aufgenommen hatte, sah sie durch eine offenstehende Flügeltür zum Tresen gehen, an der Kasse einen Betrag eingeben, mit einem Tablettchen in der Hand zurückkommen. Betrachtete, während des Einschenkens, nur ihre Hände, wie diese die Flüssigkeit ins Glas schäumen ließen und das Tablett mit dem Getränk vor ihn auf das Tischchen schoben. Vernahm beim Weggehen ein paar freundliche Worte der Frau – und schloss für einen Moment die Augen – bevor er trank, ohne abzusetzen das Glas austrank, den Rest aus der Flasche nachschenkte, wieder austrank, nach den Münzen in seiner Hosentasche tastete, einige auf das Tablettchen hinzählte, seine Jacke nahm und wegging.
Das Weggehen half ihm. Von einem Ort zum anderen gehen. Von einer Stelle zur nächsten gehen. Durch die Straßen gehen. In alle Himmelsrichtungen gehen. Nur so vermochte er den Ereignissen Kraft entgegenzusetzen. Eine Kraft, die er brauchte, um zu verstehen, um ein wenig zu verstehen. Das Weggehen war etwas Gutes. Das Gehen von Ort zu Ort. Der Ruhelosigkeit wegen. Des Nichtverstehens wegen. Des Briefes wegen auf dem Tisch in seiner kleinen Wohnung.
Im Innenbereich eines Torbogeneinganges, der zu einem mittelalterlichen Wehrturm gehörte, stieg er die speckig glänzenden Stufen hinauf, die zur Stadtmauer führten, schritt auf den abgetretenen Steinquadern der Sonne entgegen und dachte an Eline, als er mit ihr durch dieses Tor hinauf zur Mauer gegangen war, und er sich plötzlich vor sie hingestellt hatte, ihre Hände genommen hatte – und so sehr erschrak – als er sie berührt hatte, ihre Hände, diese kalten, eisigen Hände in seine geschlossen hatte, und sie lächeln sah. Sie lächelnd vor ihm stand und mit leiser Stimme sagte: „So sind die fast immer, weißt du.“
Und er dachte daran, wie er während des Gehens immer wieder die Seite gewechselt hatte, um einmal ihre linke und dann wieder ihre rechte Hand zu fassen, um zu wärmen. Und er dachte daran, wie er plötzlich, von einer erneuten Euphorie gepackt, sich abermals abrupt vor sie gestellt hatte, sie an sich drückte und nur noch ihren herrlichen Mund spürte – und zurückwich, ihren Blick sah, der wie eine Klinge schnitt, und er dann dastand wie ein Kind, stumm und verlegen, und mit dem Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, ohne zu wissen, was.
Vor einer Nische in einer Hauswand blieb er stehen und betrachtete eine Brunnensäule, die ein nacktes Mädchen darstellte, das mit beiden Händen in sein Haar greift. Er betrachtete das Gesicht des Mädchens, und dann eine andere Stelle ihres jungen und makellosen Körpers, und er starrte in das Gesicht des Mädchens und wieder auf die andere Stelle ihres Körpers – und eilte weiter, wieder Stufen hinab und immer weiter – bis der Lärm der Stadt einer süßlich duftenden Stille wich …
Die wenigen Männer in den Gängen wirkten verschüchtert und gehemmt und erweckten den Eindruck, als wären sie nur zufällig an einem Ort, an dem etwas Erregendes stattfindet. Manche der Prostituierten belustigten sich über die Schüchternheit der Männer, kicherten oder plapperten ihnen etwas hinterher. Und die Männer taten dann so als wären nicht sie gemeint. Er ging einen rot beleuchteten Gang entlang, unterschied sich dabei nicht von den anderen Männern, stieg, wie die anderen, eine Etage höher, durchstreifte dieselbe süßliche Wärme, sah dieselben hübschen Frauen, die in den offenen Türen ihrer Zimmer lehnten oder sich zur Schau stellend in Sesseln räkelten. Sah die Körper der Frauen, ihr vage verhülltes Geschlecht. Und er dachte an Eline, wollte losschreien, Elines wegen, schritt weiter, schneller, schneller, so schnell er konnte plötzlich, so dass einige der Frauen ihm hinterher riefen, pfiffen, lachten – bis er endlich wieder im Treppenhaus stand, gegen die Schulter eines Mannes rempelte, der plötzlich an der obersten Stufe aufgetaucht war, die Treppe hinabstürzte und wieder auf dem Trottoir stand, schwer atmend, und an Eline dachte, und weitertrottete, in eine Kneipe trat, sich an einem Tisch auf einen Stuhl fallen ließ, das Raumlicht rötlich-fahl sein Gesicht verzerrt in der Tischplatte widerspiegelte.
An der Theke bemerkte er ein Pärchen, eng zusammenstehend, sich leise unterhalten. Sah die Frau lächeln und verspürte eine große Müdigkeit, ließ seinen Kopf hängen, das rötlich-fahle Zerrgesicht in der Tischplatte, starrte ihm wie ein altes, erschöpftes Tier entgegen.
Jemand trat neben ihn, durch ein Fenster erkannte er flimmernd Menschen an einer Bushaltestelle stehen, bestellte ein Bier, die Menschen an der Haltestelle tauchten ein in ein flimmerndes Busloch, er schloss die Augen, und dachte an Eline. Dachte so sehr an Eline, dass er zu murmeln anfing, ihren Namen murmelte, „er hat dich beschissen“, murmelte, „er hat dich wirklich beschissen, er hat uns beide beschissen. Warum? Warum hast du uns beschissen, Gott …?“ Er wandte den Kopf … An der Theke bezärtelten wie Lippen zart, die hellen Hände der Frau die dunklen Hände des Mannes.
Er reihte einige Münzen auf den Tisch, erhob sich und schlurfte vorbei an den hellen Armen und zärtlichen Händen zum Ausgang.
Das Trottoir lag dunkel und kühl vor ihm. Alt fühlte er sich. Und leer. Und dann dachte er ans Meer. Ans Meer … Wie es wäre, wieder auf dem Meer zu sein. Wieder dort zu sein, wo er glaubte hinzugehören. Wo er die längste Zeit seines Lebens zugebracht hatte: auf einem Schiff. Schiffe zu sehen, wie kleine Punkte in der unendlichen Tiefe und Ferne des Meeres. Und er dachte an den Duft des Meeres und an die versunkenen Welten und Menschen, an Glück und Trauer – an das Meer. Wie es wäre, wieder auf dem Meer zu sein.
Er stieg die Treppe zu seiner kleinen Wohnung hoch, öffnete die Tür, schloss sie hinter sich, ließ sich auf den Stuhl fallen, der unverrückt stand, sah den Brief liegen, nahm das Papier aus dem Kuvert, entfaltete die Seiten und begann abermals Elines Brief zu lesen:
Du sagst, dass du mich liebst, dass ich die Frau wäre, die du dir immer vorgestellt hättest, denn ich wäre all das, wonach du dich sehnst.
Du sagst, dass meine Art dir gefällt, dass es dir vorkäme, als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen, so vertraut wäre ich dir.
Du sagst, dass es dir so leicht fällt, sich mit mir zu unterhalten, dass du das Gefühl hättest, als gäbe es keine Tabus zwischen uns.
Du hast schon so vieles zu mir gesagt, seit wir uns kennen, seit du mich in der Bar besucht hast, in der ich an den Wochenenden hin und wieder als Sängerin auftrete oder auch nur bediene, um so meinen kargen Lebensunterhalt im Supermarkt etwas aufzubessern. Es ist eine Arbeit, die mir viel Freude macht.
Ich gebe zu: Es war schön, was du gesagt hast. Es war schön, wenn auch ziemlich übertrieben. Aber dennoch war es schön, es zu hören. Nur: Ich bin es nicht. Ich bin nicht die Frau, die du so liebevoll beturtelt hast!
Ich bin nicht die, die du zu sehen glaubst! Nein, die bin ich nicht!
Aber es war schön, was du sagtest und wie du es sagtest. Ja, es war schön. Und ich zweifle auch nicht an der Aufrichtigkeit deiner Worte. Ich glaube dir, dass du für mich so empfindest, wie du es mir zu zeigen versucht hast. Ja, du verstehst es, eine Frau zu beeindrucken.
Nein, ich bin nicht die, für die du mich hältst, denn ich bin nur in meiner Seele, in meinem Herzen, in allen Nuancen meiner Empfindungen eine Frau – zutiefst eine Frau. Ich bin eine Frau, ja, eine Frau – aber mit dem Geschlecht eines Mannes, denn ich bin eine Transsexuelle. Ich bin eine Shemale.
Ich kann wohl nie die sein, die du dir vorstellst. Es ist zu schwer für mich, auszudrücken, wie es in meiner Seele, in meinem Herzen aussieht. Ich kann es nicht. Nein.
Mein Interesse für einen Mann gilt in erster Linie seinem Verhalten, seinem Verhalten mir gegenüber. Es ist dabei für mich nicht von Bedeutung, wie und was ich für ihn empfinde, allein von Bedeutung ist, wie und was er für mich empfindet – für die nur –, die ich in Wirklichkeit bin, in meiner Seele, in meinem Herzen, in meinen Gefühlen! Aber ich bin nicht die Frau, die du dir vorstellst! Nein, die bin ich nicht!
Du bist ein Mann. Ein Mann. Ein charmanter Mann. Ein aufmerksamer Mann. Aber wohl doch ein Mann, der sich eine Frau so wünscht, wie es die Biologie vorgibt. Aber die bin ich nicht! Diese Frau bin ich nicht!
Ich bin in meiner Seele eine Frau! Durch und durch eine Frau! Und du ein Mann. Nicht mehr, nicht weniger. Du bist ein Mann, der sich eine Frau wünscht, die ich nicht bin und nie sein kann! Daran werden wir wohl scheitern.
Ich werde sehen, ob wir uns weiterhin begegnen werden – und können. Ich werde es wissen, wenn du diesen Brief gelesen hast, denn ich werde darauf hoffen, dass du am Wochenende wieder in die Bar kommst und mir zulächelst – mit diesen Augen voller Glück … Ich werde es bald wissen, wer du bist, denn ich werde auf dich warten, wie ich es immer tat in den vergangenen Wochen. Aber solltest du nicht kommen (nicht mal mehr in den Supermarkt), werde ich dir nichts nachtragen, nicht das Geringste! Nein, wie könnte ich das auch! Ich werde dir nichts nachtragen, denn du wusstest ja nicht, wer ich bin und was ich bin. Ich werde dir nichts nachtragen, denn alle deine lieben Worte, alle deine Liebe und Wärme verströmte ja für die Frau, die du in mir zu sehen glaubtest. Allein das war schön, denn ich sah und spürte in diesen Stunden eine Zuneigung, eine Sensibilität, die mich erschauern ließ. Das war schön, wirklich schön! Und auch jeder Kuss und auch jede noch so kleine Berührung, die du wagtest (und die ich gerade noch zuließ), geschah ja in der Annahme, dass ich die bin, die du dir vorstellst.
Ich werde sehen, ob alles so bleibt zwischen uns, wenn du den Brief gelesen hast.
Jetzt fühle ich eine Leere, aber der Druck der vergangenen Wochen lässt nach, denn endlich – endlich, bringe ich den Mut auf, dir zu sagen, wer ich bin – und was ich bin. Ich habe mich befreit aus der Zwangsjacke, in die du mich (unbewusst natürlich) hineingezwängt hattest.
Jetzt ist der Körper, in dem ich lebe, wieder frei – wieder freier, und ich kann ihn wieder ertragen.
Ich wollt, ich könnte dich glücklich machen, aber ich kann nur sein, wie ich bin. Und die, die ich bin, kann es nicht.
Ich habe mich verliebt in dich und bereue es, denn ich werde für dieses Gefühl bestraft.
Ich habe mich verliebt in dich und bereue es, denn ich würde es nicht ertragen, auch in dir – irgendwann – den Mann sehen zu müssen, der sich erregte an mir, dem das andere an mir – für eine Weile – den besonderen Kick bedeutete, den man auskosten wollte – eine Zeitlang –um sich dann plötzlich angeekelt wieder abzuwenden, und der nur noch eines will: verschwinden auf Nimmerwiedersehen.
Ich habe mich verliebt in dich und bereue es, denn ich würde es nicht ertragen, auch für dich nur das zu sein, was ich für Männer schon so oft nur war: ein sexuelles Abenteuer. Ich würde es nicht ertragen auch in deinem Gesicht – irgendwann – nur Ekel und Verachtung für meinen Körper zu sehen! Ich will es nicht ertragen, wie du dich abwenden würdest von mir und dich nach der Frau sehnst, von der du einst geglaubt hast, dass ich diese Frau wäre.
Ja, ich habe mich verliebt in dich, und bereue es, denn all das Enttäuschende und Deprimierende und Anwidernde will ich nicht – nicht wieder ertragen.
Wie sehr habe ich mir gewünscht, für dich das zu sein, was ich doch aus ganzer Seele, aus ganzem Herzen nur bin: Eine Frau. Eine Frau, die dir all die schönen Gefühle, die du mir gegeben hast, zurückgeben darf. Ich habe das noch nie erlebt. Ich will nur sagen: Wie oft trifft man so jemanden! Und du hast eine Frau verdient, die alle diese schönen Gefühle erwidern kann. Und irgendwo, tief in mir, wünsche ich mir, dass ich es werden könnte …
Nein, was schreibe ich! Du sollst wissen, wer ich bin, fast mein ganzes Leben lang schon bin. Du sollst es wissen, denn du bist der einzige Mann, der mir seit langem etwas bedeutet. Der einzige, dem sich mein Herz öffnete. Der einzige, seit dem Tod meines Vaters, seit meiner Pubertät, seit meinem vierzehnten Lebensjahr.
Du sollst wissen, wer ich bin.
Eline, die dich grüßt.
Er starrt auf das nachtdunkle Fenster. Nur wenn Lichter auftauchen, bemerkt er, dass die Landschaft und die Lichter vorbeihuschen.
Die Neonröhren im Abteil sind gedimmt. Die matte Helligkeit ist ihm recht. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass es zwei Uhr sein wird, wenn er den Zug in Lüneburg verlassen wird, in ein Taxi steigen wird und nach wenigen Minuten bei Ruth sein wird. Sie wird schlafen, denkt er, sie wird nicht dasitzen und warten. Diese kleine Recherche macht seine Stimmung etwas erträglicher. Er weiß aber, dass auch diese kurze Zeit bis zum Morgen sein Seelenkleid nicht glätten kann, wenn sie sich ansehen werden, Ruth ihn umarmen und küssen wird. Spätestens dann wird sein unübliches Verhalten ihn in eine Enge treiben, der er nicht entkommen kann und auch nicht entkommen will. Er weiß, dass er das, was Ruth ihm angetan hat, nicht ignorieren kann.
Er lehnt den Kopf zurück, schließt die Augen, denkt an den Tag, der hinter ihm liegt, den – wäre es möglich – er sich aus dem Herzen reißen würde …
Auf seiner Uhr war es kurz nach zehn, als er in Richtung Stadtmitte ging, in die Fußgängerzone kam, und an einem gusseisernen Laternenpfahl einen Straßenmusiker mit Mundharmonika und Gitarre stehen sah, der ihn mit „Blowin’ In The Wind“ zu begrüßen schien.
Ob es die Konditorei „Heinz“ noch gibt?, dachte er, und schlenderte in der Mitte der Fußgängerzone, um Vertrautes besser entdecken zu können. Der schäbige Fachwerkbau, der einst Café und Konditorei so gemütlich beherbergt hatte, präsentierte sich im neuen Gewand – ohne Café und Plüschvorhänge aber mit einem hässlich blauen Fassadenschriftzug eines Drogeriemarktes.
An einem Straßencafé fiel ihm ein Mädchen auf, das mit flinken Bewegungen den feinen Staub von den schwarz marmorierten Tischplatten wischte. Das dunkle, kurz geschnittene Haar machte ihr jugendliches Gesicht noch hübscher und das weiße Röckchen ihre braunen Beine noch verführerischer.
Er winkte dem Mädchen und bestellte einen Cappuccino. Auf einer Bank gegenüber sah er einen älteren Mann hocken, zu seinen Füßen eine kleine aufgeregte Taubenschar, die ihr Frühstück zusammenpickte.
Ein Blick auf seine Uhr ließ ihn wieder an Elisabeth denken. An Linda – und an Ruth, die auf einen Anruf warten würde, wie immer, wenn er geschäftlich ein oder zwei Tage unterwegs war. Die sagen würde, dass sie sich auf seine Rückkehr freue, und darauf hoffen würde, dass auch er diese Freude ausdrückte.
Er winkte dem hübschen Mädchen, bezahlte mit einem Schein. Das Mädchen bedankte sich mit einem blütenweißen Lächeln.
Einen Augenblick lang hielt er zögernd inne, dann drückte er entschlossen auf den runden Klingelknopf neben dem emaillierten Namenschildchen …
„Du bist pünktlich“, sagte eine Frauenstimme.
Er blickte in Elisabeths tiefliegende Augen, in ihr blasses und hageres Gesicht.
„Also komm rein.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, und schweigend folgte er ihrer Aufforderung.
„Setz dich. Dass ich dich herbestellt habe, weiß niemand. Und ich möchte, dass du wieder weg bist, bevor meine Tochter von der Schule kommt. Jetzt setz dich schon.“
„Bist ja freundlich, wie eh und je.“ Er rückte einen Stuhl zurecht und nahm am Esstisch Platz.
„Kann ich dir etwas anbieten? Ein dunkles Weizen, wie früher …?“ Dabei verzogen sich ihre Lippen zu einem verächtlichen Grinsen.
„Nur ein Glas Wasser, wenn’s recht ist, bitte.“
Sie verließ das Zimmer; er hörte sie in der Küche. Sein Blick wanderte durch den Raum, durch die Terrassentür hinaus in den Garten. Jetzt bin ich hier, dachte er.
Elisabeth kam mit einem Glas Wasser zurück, stellte es auf den Tisch und sagte: „Ich glaub, ich würd dich in hundert Jahren noch erkennen. Hast dich nicht viel verändert … Nimm es als Kompliment, mein Lieber. Bist du wieder verheiratet? Nein. Nein, nein, du bist es nicht. Ich bin‘s noch immer, stell dir vor …“
„Elisabeth, bitte … Sag mir einfach, warum du mich herbestellt hast, und lass deine Spielchen, ja? Und Linda? Kommt sie etwa nicht?“
Elisabeths Gesicht zuckte. Stumm und lauernd stand sie vor ihm. Auf ihren blassen Wangen pulsierte eine fleckige Röte. Sie setzte sich ihm gegenüber, legte ihre schmalen Hände auf den Tisch, und im Zimmer war es still. Dann sagte sie mit unerwartet harter Stimme: „Nein, Linda wird nicht kommen. Deine ehemalige Frau ist tot.“
Für Sekunden wollte er beinahe loslachen, ihr laut und böse ins Gesicht lachen.
„Was sagst du?“, stammelte er, und spürte seinen Hals enger werden. Er starrte Elisabeth an, sah Tränen auf ihren fleckig geröteten Wangen.
„Du hast schon richtig gehört. Linda ist vor sechs Wochen gestorben und begraben worden. Heute löse ich mein Versprechen ein. Darum bist du hier.“ Ihr Atem ging schnell, und auf ihrer Stirn reihten sich unzählige Fältchen. „Jetzt hat sie ihren Frieden …“
„Du lügst!“ Er stieß den Stuhl zurück, stand zitternd am Tisch und starrte mit einem Gesicht nackten Entsetzens auf die vor ihm Sitzende.