© Books on Demand für die deutsche Ausgabe.

Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8391-7809-6

Umschlagsgestaltung: Brigitta Settels

Für Natalie

Inhaltsverzeichnis

LINKS/Ausgewählte Websites zu Chopin

Einführung

1. Klaviermusik im Europäischen Zeitalter

2. Chopin als Kind und Jugendlicher

3. Leben von Musik – Musik als Leben

4. Chopin heute?

5. Chopins Heimat Polen

6. Das historische Europa

7. Reisen in Zeiten Chopins

8. Chopin auf Umwegen nach Paris

9. Chopin mit europäischen Freunden

10. Liszt und Chopin

11. George Sand – Liebesglück und Künstlerbrücke

12. Juli-Revolution 1830

13. Frédéric Chopin und George Sand auf Mallorca-Urlaub.

14. Chopins Jahre in Frankreich

15. Chopins Vermächtnis

16. Das neue Europa, wie klingt das?

Anhang: Zeittafel

Literatur

Der polnisch-französische Komponist Fryderyk Chopin führte ein wechselvolles Leben in der Donnerzeit des Industriezeitalters: im unruhigen frühen 19. Jahrhundert, als Europa sich ökonomisch und politisch enorm veränderte. Chopin verließ Warschau als polnischer Emigrant mit russischem Pass und reiste dann über Wien und München nach Paris, das von 1831 bis zu seinem frühen Tod sein virtuoser Lebensmittelpunkt wurde. Der Erfinder romantischer kreativer Kurzgeschichten auf Flügeln, der zeitlebens mit seinem Heimatland Polen verbunden blieb, bereiste halb Europa – inklusive Mallorca als dramatischer Ferienaufenthalt -und beeindruckte die Zuhörerschaft mit unerhörten neuen Klavierklängen, mit der Freiheit der Improvisation. Sein Leben im Kreis von Emigranten, Bankiers, Adeligen, Künstlern und musikalischen Erfindern entfaltet sich im Europa der Revolutionen von 1830 und 1848. Neue Länder wie Belgien und Griechenland entstanden um 1830 und haben seither eine hälftige europäische Identität entwickelt, während sich in großen Ländern des alten Europa Industrialisierung und Nationalismus vermählten. Chopins Reisen führten ihn in Europas Metropolen, ließen ihn aber auch den Rhein entlang ziehen und das ländliche Leben in Polen, Spanien und Frankreich erkunden. Wie sähe das Leben eines heutigen Chopins aus? Antwort und ungeahnte zeitgeschichtliche Verbindungen bietet dieser Essay.

LINKS/Ausgewählte Websites zu Chopin

www.chopingesellschaft.de

www.chopin-gesellschaft.ch

www.chopin.at

www.chopin2010.um.warszawa.pl

www.chopin2010.pl

www.chopin.nifc.pl

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Unsere Website zum Buch

www.chopininfo.eu

Einführung

Chopin ist ewig aktuell, seine Botschaft ist universell. In 2010 jährte sich der 200jährige Geburtstag des polnisch-französischen Komponisten Frédéric Chopin, dessen wundervolle Klaviermusik schon die Zeitgenossen von Warschau über Aachen, Düsseldorf, Köln, Koblenz, Dresden, Stuttgart, Karlsbad, Prag, Wien, London, Manchester, Edinburgh, Glasgow, Paris, Genua und … begeisterte; und später dank Tonträgern und Klavierhungrigen die ganze Welt eroberte. Fryderyk Chopin, der in Polen geboren wurde, in Warschau aufwuchs und lange Jahre in Paris lebte, ist nicht nur ein weitgereister Klaviervirtuose des 19. Jahrhunderts – mit einer ungeheuren Begabung für musikalische Innovationen und Phantasien von Format. Vielmehr spiegeln sich im Leben des Komponisten auch die Irrungen und Wirrungen europäischer Politik und Geschichte. Obendrein lebte er als erwachsener Mann in einer ungewöhnlichen französischen Patchwork-Familie. Polen und das nachnapoleonische Frankreich sowie zeitweise Österreich/Deutschland waren Eckpunkte im Wirken von Chopin, der mit einem russischen Pass Polen 1830 verließ und sich im Folgejahr in Paris niederließ. Dort begegnete er Künstlern aus Musik, Literatur und Bildender Kunst, darunter Franz Liszt, George Sand, Eugène Delacroix und Heinrich Heine sowie Adeligen, Bankiers und normalen Bürgern mit Musikbegeisterung. Hinweisen von Bankiers folgte er bisweilen bei Geldanlagen, aber die Börse war instabil und spiegelte politische Erschütterungen. So erfährt man über das europäische Leben des Chopin einen Zugang zu einer gärenden Künstler-und Industriewelt und den Aufständen von 1830 und 1848 in Europa.

Chopin unterstützte als Künstler in Frankreich und England mit Benefizkonzerten die polnischen Emigranten. Denn Chopin war ja in einem geteilten Land – mit Fremdherrschaft -aufgewachsen, dessen Bürger nach Freiheit und Unabhängigkeit für ein neues Polen strebten. Chopins Klaviermusik war kreativ, neu, virtuos und manche Klavierschülerin wollte mehr als nur die neue Musik kennenlernen. Chopin aber machte sich oft rar und seine Sprache blieb vor allem die Musik: Emotionen und Empfindungen komponierte er aufs Notenblatt, das seinem Auditorium die Qual des Gemüts wie das Glück der Seele vertonte.

Chopins schwacher Gesundheit bekamen schlechte Nachrichten der Politik nicht. Der Versuch misslang, durch eine Reise nach Mallorca neue Gesundheit zu schöpfen, da die Insel wenig gastfreundlich und der Gegensatz zwischen konservativer Inselbevölkerung und der angereisten Patchwork-Familie Frédéric Chopin und der Schriftstellerin George Sand – mit den Kindern -denkbar groß war. Seine Mallorquinischen Kompositionen aber blieben der Nachwelt als Teil seines wunderbaren Musikschatzes erhalten. Chopins Reiseorte sind wie eine Rundfahrt durch das alte Europa. Was machte Chopin wohl heute? Welches neue Europa sähe und vertonte seine europäische Musikerseele, welche Metropolen einer globalisierten Musikwelt wären sein Zuhause? Von Europa über Nordamerika bis Asien spannt sich der Kreis der Musikfreunde, die sich durch sein ungewöhnliches Werk und sein geheimnisvolles Leben inspirieren lassen.

Wenn man Chopin und seine Zeit sieht, dann versteht man, dass in der Musik schon lange vor der Europäische Union eine kulturelle Integrationsgeschichte liegt. Für Chopin und manch anderen Zeitgenossen galt: Musik verleiht Flügel und seine Klaviermusik, die gelegentlich einhändig wie mit zwei Händen gespielt erklingt, ist klangvolle Poesie, die Menschen aus allen Ländern mit Herz und Verstand aufnehmen können. Wir haben einige Recherchen und Reisen auf den Spuren Chopins absolviert, die Fotos fangen den bunten Zauber seiner Lebensorte und -bezüge ansatzweise ein und geben Eindrücke zu Chopin heute. Ab 2011 geht Chopins Leben ins dritte Jahrhundert und man darf hoffen, dass seine Geschichte und seine Klavier-und Konzertmusik Individualität und Kreativität weiterhin vielstimmig befördern.

Maria J. Welfens und Paul JJ Welfens im Oktober 2010

(Wuppertal, Paris und Warschau)

1. Klaviermusik im Europäischen Zeitalter

Mitten in den Zeiten des europäischen Kanonendonners und das laute Stampfen der Dampfmaschinen in Europa, die sich ausbreitende Industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts, erklangen neuartige schwarzweiße Tonfolgen: aufgeführt von zwei der größten Klaviervirtuosen der Welt, die sich – aus unterschiedlichen Ländern kommend – nach 1830 in Paris treffen: Fryderyk Chopin, der polnischen Schreibweise seines Namens nach; und Franz Liszt, sein zeitweiliger Freund und später bissiger Rivale aus Ungarn, das damals Teil des Habsburger Reiches war. Frédéric Chopin, so die französische Schreibweise dieses europäischen Bürgers mit russischer Staatsbürgerschaft, der in Warschau aufgewachsen war, sich als Pole sah und erst in Paris einen französischen Pass nahm, ist der Held dieser Geschichte; und davon sowie bemerkenswerten Geschichten im Umfeld der europäischen Revolutionsjahre 1830 und 1848 berichtet diese Abhandlung. Sie zeigt den Lebensweg eines großen Klaviervirtuosen, dessen Herz gleichermaßen Polen wie Frankreich und der Musikwelt zuneigte. Chopin erweist sich als musikalische Integrationsgeschichte.

Im selben Jahr als Chopin nach Paris kam, 1831, zog es auch einen bekannten Journalisten und Schriftsteller aus Deutschland in die französische Hauptstadt: Heinrich Heine, der in Preußen immer wieder angefeindet wurde und dem die Zensur das Leben erschwerte. Heine, der später zum Kreis um Chopin fand – ihn bewunderte er als Musikzauberer am Flügel -, sah sich Zuhause verfolgt, da seine Werke 1833 in Preußen verboten wurden; mitsamt allen künftigen Veröffentlichungen. Heine schrieb als Journalist, Lyriker und Essayist kluge Geschichten aus seinem Pariser Exil und seine Schrift Französische Zustände von 1832 ist eine aufschlussreiche politische Reflexion zu den Entwicklungen in Paris, wo die Revolution von 1830 den Bourbonen-König zur Flucht nach England getrieben hatte. Mit Wehmut dachte Heine häufig an seine Vaterstadt Düsseldorf: „Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön, und wenn man in der Ferne an sie denkt, und zufällig dort geboren ist, wird einem wunderlich zu Muthe. Ich bin dort geboren und es ist mir, als müsste ich gleich nach Hause gehen. Und wenn ich sage nach Hause gehen, dann meine ich die Bolkerstraße und das Haus, worin ich geboren bin…“ (aus HEINE: Ideen. Das Buch Le Grand, 1827). Heinrich Heine wurde vermutlich 1797 in der jungen Stadt am Rhein geboren, in dessen geduldigem breiten Flussbett sich Lachse, Forellen und Krebse tummelten. Heine war das älteste von vier Kindern des Tuchhändlers Samson Heine und seiner Frau Betty. Als junger Mann besuchte Chopin Düsseldorf, wo er spontan zu einem Klaviervorspiel kam; die gastfreundliche Stadt gefiel ihm sehr, vielleicht sogar besser als die alte Römersiedlung Köln und weitere Rheinstädte, von deren Besichtigung noch zu berichten sein wird.

Heinrich Heine studierte zunächst nah seiner Heimatstadt, in Bonn, wohin die Universität Duisburg im Zuge der Industrialisierung verlegt worden war – dem Landesfürsten schien der beißende neue Industriequalm nicht erhellend für Geistesgrößen oder solche, die es werden wollten. Als Preußen nach 1815 das Rheinland an sich zog, da wollte wiederum die Regierung keine Universitäten im Industrierevier mit seinen wachsenden Arbeiterzahlen, da diese Mischung nach Revolution und Pulverdampf gerochen hätte. Göttingen und Berlin waren Heines weitere Stationen des Jura-Studiums, gerade so wie – mit zeitlichem Abstand -bei Bismarck, mit dem sich der liberale Schriftsteller gewiss nicht verstanden hätte. Aber Heine fand nicht den Weg in den Staatsdienst, er erwies sich vielmehr als rheinländischer Künstler von europäischem Rang. Aus jüdischer Familie, später pragmatisch protestantisch getauft und als Erwachsener nach Frankreich verzogen, hat Dr. Heine auf dem Friedhof Montmartre in Paris seine letzte Ruhestätte gefunden.

Heine war hellsichtig und schrieb in der 1821 entstandenen Tragödie Almansor, die sich mit der islamischen Kultur im maurischen Andalusien befasste: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende Menschen.“ Da Bayern, dem das Herzogtum Berg und Düsseldorf gehörte, im Jahr 1806 diese Besitztümer an Frankreich abzutreten hatte, konnte Heinrich Heine – eigentlich Harry mit Vornamen – später einen Anspruch auf die französische Staatsbürgerschaft vorbringen. Ein Düsseldorfer Deutscher mit französischem Pass, das ist schon fast so wie bei dem Polen Chopin, der erst in Paris einen solchen Pass nahm, auf den er natürlich als Sohn eines Franzosen Anspruch erheben konnte.

Das Herz von Chopin liegt begraben – oder besser eingemauert – in einer Kirche in Warschau, dem Wunsch des in Paris 1849 gestorbenen Künstlers gemäß. Der größere Teil des polnisch-französischen Künstlers ist in der französischen Hauptstadt auf dem Friedhof Père Lachaise begraben, wo sich vor seinem Grab täglich Dutzende Menschen aus der ganzen Welt einfinden. Am Jahrestag seines Todes sieht man auf dem Père Lachaise Vertreter der Chopin-Gesellschaft in Paris und natürlich eine Delegation aus der polnischen Botschaft. Nach einigen erhabenen Schweigeminuten zieht sich die Trauergruppe in ein bekanntes Restaurant im Stadtviertel Marais zurück, wo sich an einem langen Tisch die verschatteten Mienen nach einer köstlichen Vorspeise und zwei Hauptgängen, die sich verschlungen in gemächliche Mägen drängen, prächtig aufhellen. Beim Käse-Dessert und einem edlen kühlen Weißweintröpfchen sieht man schließlich fröhliche Gesichter aus prallen Köpfchen strahlen – ja es mundet schon, so ein kleines Erinnerungs-und Auferstehungsmal im Dienste der Kunst. In der Küche feinem Dunst hat der Koch mit seiner edlen Haube noch irritiert gefragt, woran der arme Komponist Chopin denn verstorben sei, doch nicht etwa an fehlgeratener zeitgenössischer Garkunst oder einer Lebensmittelvergiftung?

Den berühmten Friedhof mit dem Grabmal Chopins erreicht man bequem mit der Metro. Es gibt zur beliebten Ruhestatt für die Ewigkeit einen Haupteingang mit mächtigem Torbogen, an dessen Seiten graue Säulen steinern eisern Wache stehen. Viele brave Touristen begeben sich an den Kiosk neben dem Eingang, um eine Karte des Friedhofs mit den offiziellen Sehenswürdigkeiten an Grabstellen erstehen. Der Verkäufer, ein älterer Herr aus der Normandie, der wohl seine große Liebe in der Rue de Pigalle fand – wo einst zeitweilig Chopin wohnte -, kann akzentvoll in sechs Sprachen einige der beliebtesten Toten mitsamt Ruheort benennen. Die Zahl der Sehenswürdigkeiten auf dem Friedhof hängt von der persönlichen Neugier und dem eigenen Verhältnis zu den Künsten ab: Es gibt berühmte Maler, Dichter, Musiker und auch Chirurgen, deren Kunst zu Lebzeiten auch die Künstler-Gilde schätzte. Viele kleine Grab-Häuschen und Mini-Mahnmale stehen auf dem Père Lachaise nebeneinander. Es gibt zudem zahlreiche einfache Grabstätten mit einer Platte und bescheidener Inschrift. Aber es gibt auch prächtige und bisweilen pompöse Grabstellen, etwa mit dem Aussehen einer kleinen Kapelle und protzigen Inschriften. Der Friedhof ist weitläufig und weist ein Gewirr von Straßen, Abzweigungen, Kreisverkehren, Kapellen und eben Gräbern auf; und da auf dem Friedhof kein Mangel an berühmten Geistesgrößen und auch Musikern besteht, sollte man sich als Chopin-Besucher nicht einfach der erstbesten Menschenmenge anschließen. Denn sonst steht man alsbald am falschen Grab des falschen Musikers, womöglich mit einer Reihe von Touristinnen und Touristen aus den USA, Europa und Japan – sagen wir am Grab von Jim Morrison, des legendären Sängers der Rockgruppe Doors.

Fast immer gibt es frische Blumen am Grab von Chopin, das sich auf einem Nebenweg findet. Die marmorweiße Vorderplatte des kühlen Grabmals zeigt den Kopf von Chopin im Seitenprofil. Im Chopin-Jahr 2010 gibt es mehr Besucherinnen und Besucher als sonst, und schönen Blumenschmuck sieht man fast immer. Man erblickt weiße und rote Nelken in einem Kranz, an dem eine Schleife mit polnischer Inschrift hängt. Gelegentlich sind die Blumenfarben Blau, Weiß und Rot mit einem Band zusammengehalten, auf dem ein Wort in französischer Sprache steht. An manchen Tagen gibt es Blumengebinde, an denen nur ein Notenschlüssel auf einem schmalen Bändchen prangt. Chopin starb jung, selbst für seine Zeit würde man das sagen. Er war gerade erst 39 Jahre alt, als er das Zeitliche segnete, sein Kompositionstalent hätte sicher auch für mehr als ein doppeltes Leben gereicht. Warum nur stirbt ein tiefbegabter Musiker mit großem Herz schon so jung an Jahren, warum erreichen unbegabte Bösewichter in der Welt oft ein Methusalemalter?

Eingang zum Père Lachaise und Grabmal von Chopin in Paris
Foto © Welfens (2009)

Père Lachaise – berühmter Pariser Friedhof, wurde 1804 eingeweiht. Viele berühmte Künstler fanden hier ihre letzte Ruhe, unter anderem Honoré de Balzac und Ehefrau, Georges Bizet, Eugène Delacroix, Amedeo Modigliani, Yves Montand und seine Frau Simone Signoret, Jim Morrison, Edith Piaf, Oscar Wilde. Foto: © Welfens (2009)

Chopins körperliche Konstitution war seit dem 30. Lebensjahr zeitweise schwach und die Kapazität der Ärzte zu seiner Zeit eher gering, wenn es um das Heilen von Lungenleiden ging. Mindestens seit seiner Zeit in Paris hatte Chopin immer wieder ernsthafte Probleme mit der Lunge, er ertrug nass-kaltes Wetter kaum, hustete stunden-und tagelang. Der schmächtige Chopin hatte mächtig Bauchmuskelkater von den ewigen Hustenanfällen und machte sich mit milde fortgeschrittenem Alter zudem ernste Sorgen um seine Gesundheit. Die Unbeschwertheit wich allmählich aus dem Leben und Werk des einst ewig fröhlichen und oftmals ironischen Komponisten.

Der Komponist Chopin lässt durch seine Musik emotionale Saiten bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern erklingen. Seine bunte, beflügelnde musikalische Klavierromantik und seine pianistischen Kurzgeschichten erfreuen viele Menschen auf der ganzen Welt. Aber Chopin, der schmächtige Komponist, fasziniert nicht nur durch seine musikalischen Seiten. Vielmehr ist es das ungewöhnliche Leben des Künstlers selbst, der sich trotz seiner ernstlichen Gesundheitsprobleme mit ewigem Lebensmut durchschlägt. Man nimmt ihn auch wahr als einen Musikreisenden im alten Europa, dessen Kreativität in allen Metropolen rasch erkannt wird – sogar, als er incognito 1837 in London weilt; sobald er sich ans Klavier setzt und spielt, wird er als Virtuose Chopin erkannt: Denn so spielt eben nur Chopin (Zamoyski, 2010). Zudem führt er das Leben des Auswanderers in einer so attraktiven, aber auch in der Musikwelt wettbewerbsintensiven Stadt: in Paris. Es ist interessant zu sehen, wie er als emigrierter Pole den europäischen Musikolymp Paris erobert und sich in der unruhigen Gesellschaft Frankreichs und Europas einen Platz erspielt. Zudem betrachtet man gerne, wie er – aber auch Franz Liszt -mit Konzerten die Patrioten daheim und im Ausland unterstützt, die an Freiheit und Unabhängigkeit glauben. Der überirdische Pianist Chopin lebt in einer Zeit, in der sich auf Erden, jedenfalls in Europa, Amerika und Asien, so vieles zu verbessern scheint. Im alten Europa wird die Handschrift engstirniger Kirchenmänner schwächer, der Einfluss von Erziehung, Bildung und beruflichem Lernen größer: oft in staatlichen Schulen. Die Mächtigen auf dem Kontinent sind im Konflikt mit dem Volk und den Völkern, der Aufbruch zur Demokratie – in den USA schon vollzogen – beginnt im Schatten der Industrialisierung zaghaft. Das Zensuswahlrecht mit nur wenigen Prozenten der Bevölkerung als Wählerschaft scheint den Königen in Europa noch berechenbar zu sein, vor einem allgemeinen Wahlrecht scheuen fast alle zurück: Bis in Frankreich der Neffe Napoleons antritt und sich 1848 mit majestätischer Mehrheit bei der Wahl zum Präsidenten durchsetzt; der neue Napoleon ist ein raffinierter Populist, der sich rauschende Mehrheiten auf dem Lande zu verschaffen vermag, aber eben auch Paris gewinnt. Wirklich viel von Demokratie hält der neue Napoleon nicht, da er sich – nach Chopins Tod – alsbald zum akklamierten neuen Kaiser ernennen lässt und sich gelegentliche Plebiszite genehmigt.

1844 starb Chopins französischer Vater in Warschau. Der seiner Familie in Polen anhängliche Frédéric war für Wochen niedergeschlagen und komponierte nur wenig. Klavierstunden musste er absagen, auch weil er an hartnäckigen Hustenbeschwerden litt; eine Qual, die ihn bis zu seinem frühen Tod 1849 begleiten sollte. Aber Chopin hatte eine distanzierte Einstellung zum Tod – in einer Epoche, in der es viele tödliche Krankheiten gab und alle Jahre Tausende Seuchen-Tote aus den rasch wachsenden Großstädten in Europa getragen werden mussten. Der gefühlte Todesfall war nicht nur in Paris nahe, wo es immer mehr Gazetten gab und Todesanzeigen ein florierendes Geschäft zu werden begannen. Der weltweite Siegeszug der Zeitungen brachte einem Schreckensmeldungen vom ganzen Globus. Chopin, der von schlankem Wuchs war, meinte einmal in Sachen Todesgefahren: „Ich habe soviele Menschen überlebt, die soviel stärker und auch jünger waren als ich, da kann ich fast glauben, ich sei unsterblich.“ (J’ai survécu à tant de personnes plus fortes et plus jeunes que moi, que j’en arrive à me croire immortel; zitiert bei Bourniquel, 1994, S. 112). Im Übrigen freute sich Chopin, gelegentlich einer recht angenehmen Pariser Pflicht nachzugehen, nämlich seinen Besuchern die ewig wachsende Metropole vorzuführen, in der es nicht nur großartige Monumente und Bauwerke zu besichtigen gab, sondern wo auch ein prächtiger Tierpark existierte – seit einer Reihe von Jahren sogar mit ansehnlichen Bären. Die waren nämlich von Napoleons Truppen bei einem nur halbfreundlichen Besuch in Bern aus dem Stadtgraben mit genommen worden und mussten als unfreiwillige Muskeltiere die Musketiere des Kaisers ins ferne Paris begleiten: Berns Wappentiere wurden dort hinter Schloss und Riegel des Tierparks gesteckt. Dass Chopin seinen Besuchern auch die Grosse Oper zeigte und sie zu manch lauschigem Musikabenden ausführte, ist anzunehmen.

Als seine ältere Schwester ihn einmal mit ihrem Ehemann besuchte, fand Chopin großes Vergnügen daran, mit ihnen die Sehens-und Hörenswürdigkeiten von Paris zu erkunden. Auch auf den Landsitz seiner Freundin George Sand, nach Nohant, nahm Chopin sie mit. Dieser Ort war für Chopin eine Oase der Entspannung und Gesundung. Hier komponierte er mit Leidenschaft, hier freute er sich über den Besuch von Freunden. Der Maler Delacroix kam mehrmals nach Nohant, auf diesen schönen Landsitz von George Sand, und er genoss die fröhliche Gastfreundschaft und die Gesellschaft und Geselligkeit seiner Freunde. Über einen Besuch in Nohant sagt Delacroix einmal: „Wir erwarteten Balzac, der nicht erschienen ist, und ich bin ihm keineswegs böse. Er ist ein Schwätzer, der unsere Stimmung der Unbeschwertheit zerstört hätte, die mich so erfreut; ein wenig Zeit vergeht bei der Malerei, Billard spielen und Spazierengehen und mehr braucht es nicht, um die Tage auszufüllen…Ich führe in großer Nähe Gespräche mit Chopin, den ich sehr mag und er ist ein Mensch von außerordentlichem Charakter. Er ist der im wirklichen Sinn wahrste Künstler, den ich je getroffen habe. Es gibt nur wenige davon, die man bewundern und hochschätzen kann“ (zitiert nach bzw. übersetzt: Bourniquel, 1994, S. 111).

Dennoch war Chopin – bei allen liebenswerten Seiten -sicher kein einfacher Mensch im Alltagsleben. George Sand formulierte als Schriftstellerin in ihrer Autobiographie über ihren langjährigen Gefährten: „Keine Seele konnte edler, zarter, uneigennütziger sein; kein Umgang treuer und aufrichtiger; kein Geist glänzender in seiner Heiterkeit, ernster und tiefer in dem, was er erfasste. Dagegen war auch leider keine Laune wechselnder; keine Fantasie düsterer und ausschweifender; keine Empfindlichkeit schwerer zu schonen; keine Herzensbegehrlichkeit schwerer zu befriedigen. Aber nichts von alledem war seine Schuld; alles dies lag in seiner Krankheit.“

Chopins Leben zwischen 1810 und 1849 bedeutete einen Höhepunkt europäischen Musikschaffens und Fryderyk Chopin absolvierte in seinem kurzen Leben eine erstaunliche europäische Besuchs-bzw. Konzertstrecke in dem damals ländermäßig zerstückelten Kontinent. Seine Klavierund Konzert-Musik wurde einfachen Bürgerinnen und Bürgern ebenso wie zahlreichen Adeligen und Königen aus verschiedenen Ländern zunehmend bekannt. Von Russland über Polen, Österreich, Sachsen, Bayern, Spanien, Frankreich, Großbritannien und Preußen war seine Kunst rasch einem kleinen Kreis von Musikliebhabern präsent, in Frankreich bzw. Paris auch einer größeren Gemeinde von Genießern und Liebhabern moderner Klaviermusik. Aus polnischer Sicht sah man in dem als Klaviervirtuosen vornehmlich in Paris aktiven Chopin einen großen Polen, der als polnischer Nationalkomponist gelten kann. Aber in Frankreich hatte man eine ganz andere Sicht und hätte Frédéric Chopin zu gern sofort zum großen Franzosen und Teil der Ruhmeshalle Frankreichs erklärt.

Schon der junge Chopin hatte den Vorzug des Humors und war zugleich ein scharfsinniger polnischer Patriot im russisch besetzten Warschau. Als er Preußen besuchte, wurde er in Berlin darauf angesprochen, dass in Warschau gerade ein Denkmal des berühmten Nikolaus Kopernikus errichtet werde, der als Astronom in Thorn gewirkt hatte und durch seine klugen Fernrohrbeobachtungen die Idee von einer um die Sonne kreisenden Erde unterstützte – eine revolutionär neue Sicht der Welt stand an. Chopin verstand zunächst die Frage des Preußen nicht, aber der erklärte sich nochmals empört, dass in Warschau einem deutschen Astronomen ein Denkmal errichtet werde. Darauf antwortete Chopin: Nach dieser preußischen Sicht könne man ebenso gut Jesus von Nazareth zu einem Türken und Helden des Osmanischen Reiches erklären, da ja Jerusalem vor einiger Zeit bekanntlich durch die Truppen des Osmanischen Herrschers erobert worden sei. Das 19. Jahrhundert war, wie man an dieser Episode sieht, voller Zweifel über Identitäten und voller widerstreitender Ansprüche auf die Schaffung neuer politischer Wir-Gefühle; Kultur wurde als Teil der nationalen Identitätsstiftung genutzt. Ob Astronom, Geograph oder Musiker, jede größere Berühmtheit stand im unruhigen nationalistischen 19. Jahrhundert auf mindestens einer Vereinnahmungsliste.

Chopins Instrument war das Klavier. Es wird gerne als bürgerliches Instrument betrachtet, es ist sperrig, nicht preiswert. Es hat viele Oktaven und daher eine wunderbare Klangbreite. Man muss die Notenwelt auf die schwarzen und weißen Tasten drücken und mit Fingern und Händen dem schwergewichtigen Klangkörper die Vielfalt der Töne, Harmonien und Rhythmen beidhändig entlocken. Chopin schätzte unter anderem Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Paganini und an Opern-Aufführungen hat er sich immer wieder erfreut. Die Oper liebte er wegen der Musik, der Show, des Ambientes. Was das Klavier angeht, so schien es ihm ein ungeheuer modernes Instrument zu sein, so ausdrucksvoll, so vielfältig in seiner Fähigkeit, Chopins kunstvolle Improvisationen zu tragen. Das Klavier war sein Zeuge, dass die Notenwelt nicht in feste Schemata gepresst sein musste, dass man Emotionen und tönende Erlebnisse als musikalische Kurzgeschichten einem staunenden Publikum vorspielen konnte, das sich freudig aus tradierten Herrschafts-, Denk-und Musikformen zu lösen begann. Chopins Musik stimuliert das individuelle Denken, das Staunen über das Unerhörte; und schafft doch ein erhabenes gemeinschaftliches Musikerlebnis für seine Zuhörerinnen und Zuhörer.

Ein Teil der Achtundsechziger in Deutschland bzw. Westeuropa hatte mit dem Klavier wenig am Hut, da es als Teil der Bourgeoisie-Welt galt, die man doch gerade entschieden abschaffen wollte. Kopf-Revolutionäre in Frankfurter Wohngemeinschaften haben damals manches alte Piano zum Fenster hinausgeworfen, die Mundharmonika und die Gitarre waren die bevorzugten Wanderinstrumente für romantische und revolutionäre Lieder. Schließlich hatte niemand ein so schönes Mini-Klavier, wie es der amerikanische Komponist Gershwin gerne auf seinen langen Bahnreisen durch die USA mitnahm, um jederzeit seine Kompositionsideen auszuprobieren. Einige Jazzbands in den USA nahmen ihr Klavier in ihren großen LKWs oder Wohnmobilen durchs ganze Land, denn nicht wenige Pianisten meinten, dass allein ihr eigenes Klavier den wahren Klang beim Konzert hervorzaubern könnte. Die Achtundsechziger haben ihren Marsch durch die Institutionen gemacht und viele Kinder in Europa lernen nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder Klavier zu spielen; klangvolle Namen deutscher und französischer Klavierbauer gibt es noch. Der Siegeszug des Klaviers aber vollzieht sich im fernen Asien, wo China als Hauptproduzent von Klavieren für die Welt gilt – mit 60% Marktanteil und 30-40 Millionen Jugendlichen, die sich für das Erlernen des Klaviers entschieden haben. Damit zieht auch europäische Klaviermusik in Chinas Musikleben, in die Wohnungen, Restaurants und Konzerthallen. Der berühmte chinesische Klaviervirtuose Lang Lang, den man bei der Eröffnung der Olympiade in Peking in 2008 erleben konnte, hat – wie könnte es anders sein – auch den klangvollen und schwierigen Chopin in seinem Repertoire und seine Interpretationen von Chopins Stücken sind meisterhaft. Chopin ist in China bestens angekommen, Echo aus dem Reich der Mitte.

Trotz gesundheitlicher Probleme – mit zeitweiser Lungenentzündung – versucht Chopin immer, mit Geduld und Zuversicht durchs Leben zu gehen. Ob ihm seine Krankheit zu schaffen macht oder ihn Geldprobleme quälen, der Komponist und Pianist hat Geduld mit seinem Schicksal. Zudem ist er ein guter Menschenkenner. Als die Tochter Solange seiner langjährigen Freundin George Sand eine beabsichtigte Liebesverbindung mit Fernand de Préaulx löst, bevor der Ehevertrag zustande kommt, ist Chopin betrübt, da er den jungen Heiratskandidaten als freundlichen, gebildeten und verlässlichen Mann schätzen gelernt hat. Die schöne Solange hat sich von Fernand gelöst, da ihr ein begabter leidenschaftlicher Bildhauer den Hof machte: Jean-Baptiste Clésinger, den George Sand, die berühmte Schriftstellerin, überaus sympathisch findet. Chopin hingegen sah in ihm eher einen Mitgiftjäger als einen verlässlichen Heiratskandidaten für Solange und außerdem schätzte er den jungen Mann als unbeherrscht und nicht wirklich treu ein. 1847 heiratet Monsieur Clésinger Solange, nachdem sich die Zustimmung von George Sand eine Weile hinzog; aber der begabte Bildhauer verführte Solange und so schien es George Sand eher als unklug, die Zustimmung zu einer Heirat hinauszuzögern. Es fand dann die Heirat in Nohant statt, dem Sommersitz von George Sand, doch der langjährige Weggefährte von George Sand, nämlich Frédéric Chopin, war nicht bei den ländlich-fröhlichen Hochzeitsfeierlichkeiten zugegen. Die Hochzeitsvorbereitungen hielt George Sand vor Chopin geheim, der vermutlich neuerliche Kritik gegen Clésinger vorgebracht hätte. Als dann die Hochzeit gefeiert wurde, da weilte Chopin in Paris, wo er von Husten, Asthmaanfällen und Lungenproblemen gequält wurde und auf Gesundung hoffte.

Wenige Wochen nach der Hochzeit entdeckte die Schwiegermutter George Sand nun plötzlich wenig liebenswerte Züge an Monsieur Clésinger: Er sei unzuverlässig, recht egozentrisch, verschwenderisch, verschuldet und gelegentlich frech bis flegelhaft. Die Spannungen auf dem Gut in Nohant steigerten sich über mehrere Tage und die Konflikte führen schließlich nach dramatischen Szenen zum Rauswurf von Solange und ihrem Mann Clésinger. Es ist der 11. Juli 1847, als es zu einer Auseinandersetzung zwischen Clésinger und dem künstlerisch begabten Sohn der George Sand kommt, Maurice. Der aufbrausende Clésinger geht mit einem Hammer auf den verdutzten Maurice los – erst im letzten Moment geht George Sand aufgeregt, schreiend und Flügel schlagend zwischen die beiden Hitzköpfe. Sie gibt dem Schwiegersohn eine Ohrfeige, der ihr seinerseits einen Schlag auf die Brust versetzt. Maurice, der Sohn, ist außer sich vor Wut und will Clésinger erschießen, doch zum Glück gehen der zufällig anwesende Ortsgeistliche und auch einige Bedienstete dazwischen. Der Schwiegersohn wird mit seiner Ehefrau an diesem Tag auf ewig von Nohant verbannt. George Sand kocht vor Wut und Enttäuschung; eigentlich ist sie weniger wütend auf Clésinger als auf die eigene Tochter, die jenen mit ihren Sticheleien und Intrigen zum bösen Werkzeug gegen George Sand gemacht habe. Chopin wiederum mag Solange, der die Mutter für die Abreise aus Nohant keine Kutsche zur Verfügung stellen will; Solange findet eine Möglichkeit, Chopin in Paris zu bitten, er möge ihr doch helfen und seine Kutsche senden.

Chopin, der weiß, dass Solange schwanger ist und sicherlich höchst ungern in einer normalen Kutsche unbequem über die rauhen Wege nach Paris reisen will, schickt ihr seine Kutsche und ahnt nicht, dass er sich damit den ewigen Zorn der Mutter von Solange zuzieht. George Sand findet, dass Chopin auf die Seite der bösen Tochter Solange getreten sei und das wiederum sei ein Grund, dass George Sand ihre Liebensbeziehung zu Chopin auflösen möchte. George Sand, mit der ihn eine über neunjährige Beziehung in Paris verbindet, kündigt ihm sozusagen aus fast heiterem Himmel die langjährige Freundschaft, die doch auch der George Sand so offensichtlich viel über lange Zeit bedeutet hatte. Tatsächlich war George Sand viele Jahre auch fürsorglich gegenüber dem gelegentlich unendlich hustenden Chopin aufgetreten und sie hatte einiges unternommen, damit sich der Zustand von Chopin besserte. Die Jahre ihrer Liebe zu Chopin waren für den Komponisten Phasen des Glücks und ein Seelen-Balsam; zum Ende der Beziehung überwog der Charakter einer intellektuellen Gemeinschaft zweier ungewöhnlicher Köpfe.

Der Klaviervirtuose Chopin hatte seine Probleme mit seiner Gesundheit und dennoch schaffte er es, weite Teile Europas in seinem Leben zu bereisen. Fast immer feierte er mit seinen Konzerten rauschende Erfolge: weil er die Stücke von Klassikern seiner Zeit meisterhaft beherrschte und dabei ungewöhnliche Improvisationen darbot. Er bezaubert obendrein mit eigenen Kompositionen, die musikalisch mal eingängig, mal überraschend neu in Klang und Harmonie waren und nicht selten abenteuerliche Fingersätze und bisweilen rasant schnelle Tempi auf der Tastatur verlangten. Chopins linke Hand hielt am Klavier den Takt, die Finger der rechten Hand antizipieren die folgenden musikalischen Phrasen oder spielen mit einem winzigen Verzögerungsmoment (Zamoyski, 2010, S. 117). Dass es bei Chopin gelegentlich auch langsam, feierlich und getragen geht, weiß jeder Leser, der schon einmal Beerdigungen ranghoher Politiker zu Chopins Trauermarsch verfolgt hat.

Chopin war ein großer Künstler am Klavier und am Flügel – oder auch an der Orgel. Chopins künstlerisches Wirken in Europa ist ihm musikalisch zu seinen Lebzeiten geglückt, weil er ein virtuoser Musiker mit freundlichem Naturell war, aber auch weil sich im bürgerlichen Zeitalter Europas allmählich ein europäischer musikalischer Kunstgeschmack herausgebildet hatte. Die Italienische Oper, die man in allen Hauptstädten Europas hören konnte, war hier ebenso geschmacksbildend wie die Musikhauptstadt Wien. In Deutschland – wie vage man dies damals auch definieren wollte – spielte die Kirchenmusik und auch die weltliche Konzertmusik eine Rolle, aber hier war nicht Berlin Nr. 1, eher Dresden oder Leipzig. Neben dem glänzenden Wien suchten das napoleonische und dann neubügerliche Paris und das industriell emsige London sich als Welthauptstadt der Musik zu behaupten: mit jeweils anerkanntem Konservatorium, einer internationalen Musikerszene von höchster Qualität – die besten Musiker suchten den Weg in die Musikmetropolen des Kontinents – und auch einer Kunst im Instrumentenbau, die alte Handwerkskunst mit Elementen der Industriellen Revolution verband. Neue Materialien, neue Produktionstechniken bedeuteten eine höhere Qualität der Instrumente, die eben auch eine größere Klangbreite und differenzierte Anschlagsmölichkeiten anboten. Für die jungen Wilden unter den Klaviervirtuosen der Zeit natürlich eine unbedingt willkommene Innovation, die auch zu neuen, verwegenen Kompositionssequenzen einlud.

Politisch war Europa Anfang des 19. Jahrhunderts von vielen Konflikten geprägt, in denen immer wieder die Mächte Russland, Preußen, Frankreich, Österreich und Großbritannien auftauchen. Frankreich ist in einer eher instabilen Position. Denn es ist das Land der Französischen Revolution von 1789, die von Napoleon in die Nachbarländer und darüber hinaus getragen wurde. Viele Intellektuelle dort sind verwirrt, schwanken zwischen Ablehnung gegen oder Zustimmung oder gar Begeisterung zur Französischen Revolution. Journalisten, Studenten, Professoren und Ministerialbeamte aber neigen mehrheitlich einem eigenen neuen Nationalismus als Antwort auf die Besetzung durch Frankreich bzw. französische Truppen zu. Die Situation in Polen ist besonders unübersichtlich: Warschau sah zwischen 1795 und 1810, dem Geburtsjahr von Fryderyk Chopin, Truppen aus Preußen, Frankreich und Russland nacheinander als Besatzer. Sich in diesem politisch zerrissenen und teilweise instabilen Europa als Konzertpianist zu bewegen, war einigermaßen kompliziert, bisweilen auch gefahrvoll und von der Reisedauer selbst für die Verbindung zwischen zwei größeren Städten ziemlich anstrengend: Mehrtägige Kutschfahrten waren kein Vergnügen. Physische Grenzbarrieren, Passprobleme und Zollformalitäten gab es im Zweifelsfall an Hunderten Grenzen innerhalb des europäischen Kontinents. Als Reisender sah man sich mit Einfuhr-und Transitzöllen konfrontiert. Als Chopin einmal auf Mallorca Ferien verbrachte, sollte er für das schon mit Importzoll belegte Pleyel-Klavier, das ihm aus Paris geschickt worden war, bei der Rückreise auch noch einen Ausfuhrzoll bezahlen und musste froh sein, als eine Bankiersgattin in Palma bereit war, sein Klavier zu kaufen.

Chopin, der eine schmächtige Statur hatte und immer wieder von Husten und ernsthaften Lungenleiden befallen war, hatte dennoch eine große innere Kraft, die ihn befähigte, nicht nur große Musik zu schreiben, sondern halb Europa zu sehen. Seine Reisen in Kutschen und gelegentlich in neuartigen schaubenden Stahlrössern, genannt Eisenbahnen, führten ihn in große Residenzstädte wie etwa Paris, London und Wien; aber auch in andere Zentren wie etwa Köln, Düsseldorf, Koblenz, Marienbad, Rouen, Genua, Edinburgh, Glasgow und Manchester, um nur einige der wichtigsten zu nennen. Überall konnte er wirtschaftlichen Aufschwung erkennen, auch die starke Zunahme der Bevölkerung war selten zu übersehen – Kinderscharen auf den Straßen am Sonntag waren alltäglich. Zu anderen Tagen mussten Kinder ja meistens in der Fabrik arbeiten. Wie gut, wenn man noch auf dem Lande aufwachsen konnte oder immerhin in einer schönen Stadt wie Warschau oder Köln oder Wien. Vom Leben auf dem Lande nahm Chopin manche Volksweisen und Tänze mit, die auf Erntefesten und bei Feierlichkeiten als musikalische Begleitung erschallten. Polnische Volkstänze und Gesänge der einfachen Menschen, kurz die Musikkultur Polens, nahm der junge Chopin mit Ohr und Gedanken als anregendes Echo auf. Seine Klaviermusik bringt den Menschen Augenblicke innerer Anspannung, der Verträumtheit in Raum und Zeit.

Der zweihundertste Geburtstag von Chopin in 2010 ist Anlass für die folgenden neuen Reflexionen und Betrachtungen, wobei die musikalische Seite des polnisch-französischen Pianisten nur am Rande betrachtet wird. Denn hierzu sind ja schon Dutzende kluger Bücher erschienen. Die Aufmerksamkeit gilt hier den bislang vernachlässigten zeitgeschichtlichen europäischen Bezügen, die den Lesern eine einzigartige interessante und teilweise neue Darstellung der Bewegungen bzw. der politischen Tektonik des Alten Europas bietet. Die Gestalt Europas im 19. Jahrhundert ist hochgradig instabil. Denn Industrielle Dynamik, neue Ideen zur Volkssouveränität – geboren vor und in der Französischen Revolution – und die Herausbildung neuer Staaten sowie das Verschwinden alter Länder kennzeichnen die europäische Entwicklung. Das Geburtsjahr Chopins fällt mitten in die Industrielle Revolution in Westeuropa und liegt doch politisch noch in der Regierungszeit Napoleons, der das Alte Regime in Frankreich vorläufig abgelöst hat und dennoch danach strebt, sich zur Sicherung der Legitimität in eine hochkarätige dynastische Heiratsverbindung hineinzubegeben.

Chopin war ein fröhlicher Junge in Polen, das von fremden Truppen besetzt war. Als junger Mensch fühlte er sich vor allem als polnischer Patriot, den der Untergang Polens in den Teilungen von 1793 und 1795 emotional beschäftigte. Seither rüttelten polnische Patrioten immer wieder an dem politischen Gefängnis, das Russland, Preußen und Österreich über Polen errichtet hatten. 1830 war ein hoffnungsvolles Jahr für viele Polen, da doch Griechenland neu erstanden war und Belgien sich aus den Vereinigten Niederlanden herausgelöst hatte – ein kleiner Aufstand in Brüssel genügte und schon war eine neue Nation auf der Landkarte Europas entstanden. Das Entstehen Belgiens – hier hat heute in der Hauptstadt Brüssel die EU ihren Sitz – ist natürlich auch den Interessen der Nachbarmächte und des einflussreichen politischen Dirigenten Europas, England, geschuldet. Die Situation in Polen sah da komplizierter aus und England war weit weg von Warschau. Wenn Polen auf der halben Seeweglinie nach Indien oder USA gelegen hätte, wäre man in London natürlich sehr an Warschau interessiert gewesen.

Chopins Musik wurde im neu gegründeten Polen nach dem Ersten Weltkrieg in den Status eines quasi-offiziellen Komponisten erhoben: Der polnische Premier und Pianist Paderewski war ein wichtiger Förderer der Musik Chopins im neuen Polen und vor allem in den USA, wo er als Pianist mehrfach auftrat. Unter der Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg war Chopins patriotische Musik verboten. Chopins Herz in der HeiligKreuz-Kirche in Warschau – seine Schwester Ludwika, führte, den Wünschen des verstorbenen Bruders folgend, das Herz von Fryderyk Chopin von Paris nach Warschau – geriet während des Warschauer Aufstandes in Gefahr; es ruht in einer Urne in einem Pfeiler auf der linken Seiten des Mittelschiffes, wo die Inschrift steht: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Für Fryderyk Chopin – deine Landsleute.“ Chopins Herz in Warschau wurde während des Zweiten Weltkrieges von einem Wehrmachtsoffizier mit Musiksinn und Ehrgefühl gerettet: Es war derselbe Offizier Wilm Hosenfeld, der den polnischen jüdischen Klaviervirtuosen Szpilman vor dem Tod bewahrte; der Offizier ließ Chopins Herz während des Warschauer Aufstands im August 1944 in Sicherheit bringen. Der musikalische Offizier verstand nur zu gut, dass die auf Rache sinnenden Nazi-Chergen, die Polens kulturelle Symbole zerstören wollten, auch nicht vor dem halben Grab Chopins in der Kirche in Warschau Halt gemacht hätten. Respekt vor kulturellen Leistungen von anderen Menschen bzw. von Menschen aus anderen Völkern ist Teil von Zivilisation, aber die Nazis verbrannten ja schon im eigenen Land Bücher und verbannten sogenannte entartete Kunst – wes Ungeistes das Nazi-Regime war, zeigt sich an der genannten Episode überdeutlich.

Hier ruht das Herz von Fryderyk Chopin: Heilig-Kreuz-Kirche in Warschau, Straße Krakowskie Przedmiescie 3 Foto: © Welfens (2009)

Die Heilig-Kreuz-Kirche, ul. Krakowskie Przedmiescie 3 Foto © Welfens