Wissenschaft al dente
Naturwissenschaftliche Wunder
in der Küche
Mit Illustrationen
von Anna Zimmermann
Titel der Originalausgabe: Wissenschaft al dente
Naturwissenschaftliche Wunder in der Küche
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Anna Zimmermann
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80407-6
ISBN (Buch): 978-3-451-06761-7
Inhalt
Vorwort
Ein wissenschaftlich gedeckter Frühstückstisch
Die Milch macht’s
Hüttenkäse hausgemacht
Kakao – entfettetes Pulver mit Schokogeschmack
Der Toast mit Butter und Honig
Honig – zuckersüße Physik
Noch ein Ei gefällig?
Glibber mit Albuminen
Im Reich der Eiweißdenaturierung
Das Gelbe vom Ei
Eierkochen und Physik
Scrabble mit Einschränkungen
Zwischenstopp am Vormittag
Granulare Materialien
Die Cremahaube des Espresso
Die Schaumhaube des Cappuccino
Ein leichtes Mittagsmahl, Steak, Nudeln und Cie
Antipasti, ein kleiner Salat gefällig?
Pastaprobleme und andere Nudelunwägbarkeiten
Physik des Knetens
Kochen, aufdrillen, quellen
Haarige Pasta
Eine Sauce für die Pasta gefällig? Etwas Kochtheorie
Struktur oder Textur?
Zungenmechanik – Gehirnakrobatik
Lammkotelett in Kollagen
Gelato, glace, granité – süße Kristalle
Nützliche gastrophysikalische Accessoires
Osmotisch getrocknete Salzzitronen
Getrocknete Tomaten, Glutamat inklusive
Tomatencoulis, Sonnenenergie das ganze Jahr
Alkohol grün
Flüssiger Süßstoff, Sirup und Invertzucker
Zitrusschalenconfit
Wir treffen uns zum Apero!
Was wollen wir trinken?
Micky Maus im Wasserglas
Der abendliche Aperitif und seine Kartoffelchips
Na, du alte Wursthaut, wie geht’s?
Das physikalische Abendmenü, gespickt mit Kochtheorie
Amuse gueule: Separatorenfleischbullettchen
In Zucker braten: Karamellisierter Spargel, Petersilienwurzel und Co.
Fischfilets und polymere Klebetechnik
Lachsforellenfilets mit Lauchpanade
Marseillaiser Sorbet
Kochtheorie: Schmoren, Braten, Pochieren
Draußen und drinnen – die Marinade
Enzyme, erstaunliche Biokatalysatoren
Niedrigsttemperaturgaren
Kochtheorie – Frittieren
Etwas Süßes gefällig?
Vor vielen Jahren einmal wurde das geflügelte Wort „Man nehme ...“ geboren. Prächtig wuchs es heran, vermehrte sich fröhlich und fand willkommenen Eingang in eine ganz besondere Art von Druckerzeugnissen. Und war es wieder einmal erklungen, dann wusste selbst der kleine Smutje auf dem Pazifik, was die Stunde geschlagen hatte: Ein Kochbuch lag geöffnet auf dem Tisch seiner Kombüse, und ein Rezept verlangte, peinlich genau beachtet zu werden. Ob Suppe, Braten oder Fisch, unerbittlich folgte eine exakt ausgewogene, besser gesagt abgewogene Liste von Zutaten, die zum Schluss zu Suppe, Braten oder Fisch und manchmal auch zu Kohlrouladen führte. In besseren Kochbüchern fanden sich noch viele Tipps, deren Einhaltung das mühelose Gelingen der Gerichte versprach. Doch auf die Frage „Warum?“ erhielt man oft recht einsilbig die Antwort: „Das ist eben so.“ Immerhin waren die Kohlrouladen gelungen. Der Fisch allerdings, oje!
Selbstverständlich, so einfach kann man es sich machen, aber all die Wahr- und Unwahrheiten dieser Ratschläge lassen sich hinterfragen, widerlegen oder begründen, sie lassen sich sogar weiterspinnen und weiterentwickeln. Dazu müssen wir lediglich die Schürze zum Laborkittel ernennen und Schritt für Schritt in eine etwas wissenschaftlichere Welt einsteigen, die uns wie von selbst ihre faszinierenden Hintergründe offenbart. Bunsenbrenner statt Kochplatte? Das sicher nicht. Vielmehr eröffnet sich uns ein Weg, den wir am besten über feine Genüsse und guten Geschmack beschreiten. Dabei zeigen sich uns physikalische und chemische Welten einmal von ihrer kulinarischen Seite, und unter der Hand gerät der tägliche Forscherdrang zur erstaunlich vielfältigen Genussreise ohne Strapazen.
Ein ganz normaler Küchentag, beginnend mit der Frühstücksmilch und endend beim Dessert am Abend, schärft unseren naturwissenschaftlichen Blick. Plötzlich legen sich Physik und Chemie in unsere Gaumen und eröffnen bisher unbekannte Sichtweisen. Kniffe und Tricks in der Küche werden wissenschaftlich untermauert, die uns womöglich in neue, aufregende Genusswelten entführen. Selbst komplizierte gastronomische Experimente, seien sie mal mehr, mal weniger molekular, verlieren ihren Schrecken. Dann klappt’s am Ende auch noch mit dem Fisch.
Angst und Schrecken in der gastrophysikalischen Küche – das darf nicht sein. Deswegen geben wir ein paar Illustrationen bei und salzen damit unsere wissenschaftliche Suppe. Der Forscher weiß: Ein Bild sagt mehr als tausend Physiker, sodass uns die Zeichnungen neben allem Augenschmaus, den sie bereiten, die mitunter komplizierte Wissenschaft aufs Beste sichtbar machen. Und selbstredend dürfen sie als Anleitung zum Selber-Basteln verstanden werden.
Vor einem ungetrübten Blick in den genussreichen Sternenhimmel kann ein intensiveres Studium der Gastrophysik und den beteiligten Naturwissenschaften nicht schaden. Damit wir wissen, wovon wir und andere reden. Man nehme ...? Ein klein wenig Gastrophysik und etwas Fantasie!
Der Autor dankt seiner Frau Barbara herzlich. Sie ist immer die Erste – beim Verkosten der Experimente sowie beim unermüdlichen Korrekturlesen der Texte. Unserem geschätzten Lektor Dr. German Neundorfer danken wir für die fruchtbare und sehr erbauliche Zusammenarbeit.
Thomas Vilgis, Anna Zimmermann, Mainz und Berlin, 2006
Es ist wie immer: am Morgen aufstehen – das fällt schon verdammt schwer. Zur Erholung sollten wir uns erst einmal einen Schluck Milch genehmigen, und dann ab unter die Dusche. Aber ist überhaupt noch Milch im Haus? Sicher, allerdings wurde sie schon vor ein paar Tagen gekauft. Egal, den Deckel nach links gedreht, der versprochene „Knack beim ersten Öffnen“ ertönt tatsächlich – doch was ist das? Als wär’s ein fester Korken, verstopft ein dicker Rahmpfropfen den Flaschenhals. Ist Milch denn nicht einfach eine Flüssigkeit – oder besser eine einfache Flüssigkeit?
Milch ist alles andere als einfach. Im Gegenteil, sie ist äußerst komplex. Und mit dem Pfropfen sind wir schon mittendrin in unserem physikalisch-chemischen Tagesausflug. Denn offenbar hat sich eine Schicht aus Fett und Eiweißen nach oben abgesetzt, gemäß dem alten Spruch: Fett schwimmt. Zwar ist ein Gramm Fett um keinen Deut leichter als ein Gramm Wasser oder in diesem Fall Molke, aber die Fettteilchen haben eine geringere Dichte – und schwimmen deshalb. Etwas Eiweiß führen sie gleich mit im Gepäck, denn Kaseine lassen sich leicht von Fett anpacken und werden nach oben getrieben. Jetzt müssen wir nur noch mit einem Löffel den Rahm abschöpfen – am besten sofort essen –, und die Milch fließt ungehindert aus der Flasche in unser Glas.
Gleich zu Beginn ist ein Begriff gefallen, der unverständlich und ungewohnt klingt: Kaseine. Offenbar handelt es sich hier um etwas, was sich in der Milch zuhauf findet. Tatsächlich sind Kaseine die Eiweiße in der Milch, die sich in Rahm, Quark und Käse wiederfinden. Daher schwingt auch das Wort Käse in diesem Fachbegriff mit. Kaseine bestimmen jene Genüsse, die ohnehin schon auf vielen Frühstückstischen bereitstehen. Dabei gibt es in der Milch eine ganze Reihe von Kaseinen, die sich durch ihren molekularen Aufbau voneinander unterscheiden. Auch die Zusammensetzung der Aminosäuren, die Grundbausteine aller Proteine, ist für die verschiedenen Kaseine unterschiedlich. Die meisten Kaseine lieben das Fett und suchen dessen Nähe, weshalb die Rahmschicht und auch Käse immer einen natürlichen Fettgehalt aufweisen. Das werden wir aber gleich näher untersuchen müssen.
Kaum wach, und schon die erste Lektion Wissenschaft: Bereits beim Öffnen der Milchflasche zum Frühstück lässt sich erkennen, dass eine derart komplexe Flüssigkeit wie Milch – physikalisch fällt sie in die Klasse der Dispersionen oder Emulsionen – alles andere als stabil ist. Wenn Sie sich jetzt wundern und fragen, was für eine merkwürdige Milch das denn sei, mit Rahmpfropfen und derlei Sachen hätten Sie es noch nie zu tun gehabt, dann haben Sie ganz Recht. Dieses Phänomen ist vor allem bei nicht-homogenisierter Milch zu beobachten. Sollten Sie homogenisierte Milch im Kühlschrank lagern, werden Sie kaum einmal einem Pfropfen begegnen. Beim Homogenisierungsprozess werden die Fett-Eiweiß-Kügelchen mit roher Gewalt, sprich hohen Drücken und großen Geschwindigkeiten, durch eine Düse gejagt, die nur bestimmte Kugeldurchmesser zulässt. Große Kügelchen werden in der Düse auf einen bestimmten Durchmesser getrimmt, sie werden abrasiert, gequetscht und zu kleineren Kügelchen zerdrückt. Schwupp, weg sind sie. Und sie werden nicht mehr auf den Gedanken kommen, als unverbesserliche Individualisten nach oben zu steigen und sich dort womöglich als Rahm abzusetzen. Es ist wie immer: Eine homogenisierte Masse ist langweilig und bereitet keinen wahren Grund zur Freude ...
Spannende und tief schürfende Geschichten, aber so früh am Morgen bereits soviel Wissenschaft? Lassen wir es lieber ruhig angehen. Jetzt sollten Sie erst mal etwas frühstücken und sich stärken.
Kaffee oder Tee? Auf jeden Fall Kakao und Obst für die Kinder. Unsere von Individualisten beherrschte Milchflasche ist geöffnet, und der abgeschöpfte Rahm bedeckt bereits das frische Obst. Also geben wir genügend Milch in einen Topf und erwärmen sie auf dem Herd. Schnell noch die Brötchen richten. Marmelade aus dem Kühlschrank, Honig auf den Tisch. Und Butter. Während wir noch überlegen, ob wir das Müsli und den Frischkornbrei lieber weglassen, zischt es plötzlich aus der Richtung des Herds. Seltsame Dunstschwaden breiten sich aus, es riecht nach verbranntem Fett und Schwefel, und uns wird klar: Die Milch ist übergekocht!
Haben diese Gerüche schon wieder mit der Zusammensetzung und Struktur der Milch zu tun? Dass Milch eine sehr komplexe Flüssigkeit ist, das ahnen wir bereits, fielen doch gerade eben Begriffe wie Eiweiße, Proteine, Kaseine. Womöglich aber verbirgt sich in ihr noch mehr, als wir mit bloßem Auge erkennen können. Grund genug, einmal ins weiße Nass zu tauchen. Könnten wir uns nach und nach verkleinern und uns in einem Nano-U-Boot auf eine Reise in die Milch begeben, so würden wir eine ganze Reihe von erstaunlichen Dingen entdecken. Na denn, los!
Nachdem wir uns klein genug gemacht haben, schwimmt unser U-Boot in einer gelb-grünen Flüssigkeit, die unser Bordlabor schnell als Wasser erkennt. Kaum verwunderlich, denn Wasser ist eines der gebräuchlichsten Lösungsmittel in der Natur. Aber dieses Wasser ist chemisch alles andere als rein; winzig kleine, eng gewickelte Fäden schwimmen darin, die sehr an eine miniaturisierte Version von Wollknäueln im Strickkorb erinnern. Wir überprüfen die Fäden anhand der Datenbank des Bordcomputers: Das müssen Eiweiße sein oder besser: Proteine, die sich im Wasser lösen. Offenbar streichen wir durch die Molke, die aus Wasser und Proteinen besteht. Diese Proteine sind spezielle Kettenmoleküle mit ganz besonderen Eigenschaften, die wir später noch näher kennen lernen werden. Während wir durch die Molke tuckern, signalisiert uns das Echolot größere Gebilde, die aus Fett und anderen Eiweißen, den Kaseinen bestehen. Keine Sorge, Schiffbrüche à la Titanic wird es kaum geben, denn die Trümmer sind weich und können unserem U-Boot kaum schaden. Ihr Betragen ist allerdings ein wenig merkwürdig. Immer scheinen sich diese riesigen Gebilde oder Agglomerate abzustoßen: Kaum bumsen sie aneinander, schon entfernen sie sich wieder. Das geht eine ganze Zeit lang so weiter, bis doch einmal zwei zusammenkleben und fortan gemeinsam durch die Molke schwimmen. An diesen großen Agglomeraten kommen nicht einmal die Lichtwellen ungehindert vorbei. Sie werden von ihnen in alle Richtungen mit gleicher Intensität abgelenkt oder „gestreut“, sodass die Milch ihre weiße Farbe erhält.
Die relativ großen Brocken lassen nicht nur die Milch weiß erscheinen, auch für den Geschmack und viele Nährstoffe sind sie wesentlich. Zum einen bestehen sie aus Fett, zum anderen aus Proteinen. Und damit kommen wir einem sehr merkwürdigen Phänomen auf die Spur. Wie kommt es eigentlich, dass ausgerechnet die Fettteilchen im Wasser frei herumschwimmen? Normalerweise können sich Fett und Wasser nicht sonderlich ausstehen, und es wäre doch nur logisch, alle Fettteilchen würden sich – siehe Rahm – nach oben absetzen und die Molke unter sich lassen. Das haben wir schon beim Öffnen der Flasche gelernt: Fett schwimmt.
Doch unter den Kaseinen gibt es eine Sorte, die eine ganz besondere Eigenschaft hat. Ihre Moleküle mögen sowohl Wasser als auch Fett. Ein Teil dieses Proteins liebt Fett von ganzem Herzen, ein anderer Teil aber macht am liebsten mit Wasser gemeinsame Sache. Da wundert man sich kaum, dass derartige Zwittermoleküle sich gar nicht entscheiden können, in welche Richtung sie nun schwimmen mögen. Nur im Wasser? Dann wäre der hydrophobe (also der wasserängstliche oder wasserscheue) Teil höchst unzufrieden. Befände sich das Protein ausschließlich im Fett, wäre es dem wasserliebenden oder hydrophilen Teil ziemlich unwohl. Beziehungskrise oder gespaltene Persönlichkeit: Es gibt nur einen Weg, um aus dieser grauenhaften Situation zu entkommen. Die so genannten κ-Kaseine (Kappa-Kaseine) können ihre Zwitternatur nur dann vollkommen befriedigen, wenn ihnen sowohl Wasser als auch Fett zum Anfassen angeboten wird. Der beste Ausweg liegt also darin, dass sich das Fett in Kugeln zusammenlagert, dort alle fettlöslichen Proteine gleich mit einschließt und die Oberflächen der Kügelchen jenen κ-Kaseinen zum Andocken ihres fettliebenden Molekülteils anbietet.
Wasserscheu und Liebe zum Fett? Gefühlschaos bei Proteinen? Hinter diesen vermenschlichten Begriffen verbirgt sich pure Physik. Sobald sich ein fettliebender Teil eines Moleküls im Wasser befindet, kostet das Energie. Befindet sich ein Molekül in einer „falschen“ Umgebung, muss es mit großem Aufwand dort gehalten werden. Derartige Situationen sind alles andere als bequem, und die meisten Prozesse in der Natur ähneln unserem eigenen Verhalten: Sie streben nach einem Zustand des niedrigsten Aufwands oder, physikalisch ausgedrückt, der niedrigsten Energie. Der Anstrengung wird also auch hier tunlichst aus dem Weg gegangen. Und doch gibt es immer wieder Gelegenheiten, in denen sie nicht vermieden werden kann und der fettliebende Teil ins abscheuliche Wasser muss. Eine äußerst frustrierende Situation, gerade dann, wenn er aus dem Schlamassel nicht mehr entkommt. Und das kann schon einmal passieren, wie wir noch sehen werden.
Jetzt aber zurück zu den κ-Kaseinen. Diese Zwittermoleküle sind an ihrer wasserliebenden Seite geladen. Ihren hydrophoben und somit fettliebenden Teil stecken sie in die Fett-Kaseinkugeln, ihr geladenes Köpfchen dagegen ins Wasser. Die vielen Ladungen auf der Oberfläche der Fett-Eiweißtrümmer liegen aufgrund ihrer gegenseitigen Abstoßung weit voneinander entfernt. Sie sorgen auch dafür, dass andere Kugeln abgestoßen werden, sollten sich zwei dieser Fett-Kasein-Objekte einmal zu nahe kommen. Also leben die Kugeln in der Regel als Singles, bleiben getrennt. Es sei denn, ihre Größe fällt zu unterschiedlich aus und die Ladung auf den Oberflächen ist nicht gleichmäßig verteilt. Wie beim Rahm auf nicht-homogenisierter Milch.
Praktische Physik, denn die Milch macht hier etwas, was wir unter „Stabilisierung von Dispersionen und Emulsionen“ einordnen können. Und damit befinden wir uns mitten in der Welt der technischen Anwendungen. Eine ganz ähnliche Physik mit allem Drum und Dran können wir nämlich in Farben, etwa dem Weiß für unsere Küchenwände, entdecken. Auch dort müssen die Farbpartikel immer frei im Wasser (sofern es wasserlösliche Farben sind) herumschwimmen, ohne sich großartig zusammenzuklumpen. Die Partikel sind frei „dispergiert“, und so erklärt sich auch der Name dieser „Dispersionsfarben“. Milch und Dispersionsfarbe: zwei völlig unterschiedliche Substanzen, aber eine sehr ähnliche Physik. Und was glauben Sie: Stünden zwei Gläser mit weißem Inhalt auf Ihrem Frühstückstisch, könnten Sie dann auf den ersten Blick sagen, in welchem sich die Milch und in welchem sich die Farbe befindet? Wollen wir wetten?
Das Küchenfenster ist geöffnet, und langsam hat sich der schlechte Geruch verzogen. Üble und schweflige Gerüche in der Küche sind übrigens immer ein Zeichen für Hardcore-Chemie. Die Eiweiße bestehen aus Aminosäuren, von denen viele Schwefelverbindungen sind. Beim Kontakt der Milch mit heißen Herdplatten können wir das direkt erschnuppern. Schwefelatome verabschieden sich aus den Aminosäuren und verbinden sich mit Wasserstoff zu Schwefelwasserstoff.
Der Stoff, aus dem auch Stinkbomben sind und der in unappetitlichen Verdauungsgasen eine nasenfüllende Rolle spielt. In wesentlich höherer Konzentration allerdings.
Was passiert eigentlich, wenn wir Milch erhitzen? Temperatur bedeutet immer Energie, und je mehr der Milch eingeheizt wird, desto größer wird ihr Energieinhalt. Machen wir die Probe: Noch einmal ein Topf mit Milch auf den Herd und zurück in unser Nano-U-Boot: Immer schneller bewegen sich die Teilchen und Moleküle um uns herum, und auch unser U-Boot ist immer mehr den Stößen der uns umgebenden Moleküle ausgesetzt. Unsanft werden wir in zufällige Richtungen umhergeschubst und unterliegen einer anwachsenden Brownschen Bewegung, also jener unregelmäßigen Zitterbewegung von Molekülen und Schwebepartikeln, die durch Schubsen und Stoßen unter einer bestimmten Temperatur zustande kommt. Erhöht sich die Temperatur, nimmt auch die Heftigkeit der Stöße zu, und die Moleküle und Teilchen bewegen sich immer schneller. Somit beginnen sich auch die κ-Kaseine immer heftiger zu bewegen. Sie haben nun soviel Energie, dass sie immer wieder der Grenzfläche zwischen Fett und Wasser entfliehen können. Pech für den fettliebenden Teil, denn der muss nun mit in der Molke, also im Wasser herumschwimmen. Das ist für ihn zwar ungünstig, wird aber durch den Gewinn der Freiheit, im ganzen Milchbottich umherschwimmen zu können, belohnt. Bei seinem Freiheitsgang gewinnt das Molekül eine riesige Menge an Entropie, was heißt: Es kann sich freier bewegen. Nur diese Bewegungsfreiheit lässt es zu, dass sich die hydrophoben Teile im Wasser befinden. Damit dies aber nur sporadisch passiert und die Milch nicht sofort gerinnt, ließ sich die Natur beziehungsweise die Kuh etwas Besonderes einfallen. Sie gibt Kalziumionen dazu, die sich an den Kaseinen festklammern und deren Freigang dadurch erheblich einschränken. So bleiben die Kaseingebilde sehr stabil und gehen erst bei Temperaturen von über 100 Grad Celsius vollständig zu Bruch. Und das ist auch gut so, denn sonst könnten wir die Milch überhaupt nicht kochen. Was übrigens auch Cappuccino-Trinkern sehr entgegen kommen wird. Dazu gleich mehr.
Selbst während des sanften Kochens geht es den Proteinen in der Molke, den so genannten Lactoalbuminen, an den Kragen. Diese wasserlöslichen Proteinkugeln werden durch weit geringere molekulare Kräfte zusammengehalten. Da sich dahinter ein sehr allgemeines Prinzip verbirgt, werden wir dies noch genauer betrachten. Generell gilt: Wenn es den Proteinen zu warm wird, dann reichen die Kräfte für den Zusammenhalt nicht mehr aus. Und es passiert in etwa das, was wir in heißen Sommern tun. Wir falten uns komplett auf, recken Arme und Beine möglichst weit von uns weg, um uns mit frischer, kühler Luft zu umgeben. Wird es wieder kälter, winkeln wir Arme und Beine möglichst eng an unseren Körper. Natürlich hinkt dieser Vergleich vielfach, aber als Eselsbrücke mag er einmal stehen bleiben. In dem immer wärmer werdenden Milchtopf auf dem Herd entfalten sich die Proteine zu langen Fäden. Diese werden vom Topfboden an die Oberfläche getrieben, sammeln unterwegs noch etwas größere Fett-Kaseintrümmer auf und bilden an der Milchoberfläche ein lockeres Netz, das aussieht wie ein stark mitbrodelnder Deckel.
Sollte der Frühstücksverantwortliche spätestens jetzt nicht umrühren, dann kocht die Milch gnadenlos über. Denn von unten kommen immer mehr Dampfbläschen samt Proteinen nach oben, blubbern unter dem sich weiter wölbenden Netz, bis dies dem Druck nicht mehr standhalten kann. Und schon kriecht die Milch über den Topfrand, und das Desaster am frühen Morgen ist perfekt.
Aber im Gegensatz zu mancherorts sich hartnäckig haltenden Gerüchten ist die Milchhaut, das Gebilde aus Fett und Eiweiß, nicht weiter schlimm. Sicher, so manchem ekelt davor, und insbesondere Kinder lassen gern ein lautes „Iiiiihhh!“, gefolgt von einem nicht minder wütenden „Igitt!!“ vernehmen. Doch dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Die Haut kommt aus der Milch, und sie lässt sich sogar wieder hineinrühren, kann sich also wieder in der Milch auflösen. Und das ist keine Hexerei. Es gilt: Was vorher drin war, geht auch wieder rein, sofern es mit einem Schneebesen dazu gezwungen wird. Dabei wird das lockere Netz soweit wie möglich wieder aufgedröselt, die Molekülverbände werden kleiner und können sich wieder besser in der warmen Milch verteilen.
Aber was wollten wir eigentlich mit der heißen Milch? Genau, das Kakaopulver wurde schon in die Tassen gegeben und wartet nur darauf, mit Milch überschüttet zu werden. Bevor aber die heiße Milch über den Kakao – ein granulares Material, ähnlich dem gemahlenen Kaffee – gegeben wird, lauschen wir gebannt dem Knacken der trockenen Cornflakes, indem wir eine Handvoll in den Mund nehmen und genussvoll und für jeden hörbar darauf herumknurpseln. Wie Idefix auf seinem Knochen. Dieses typische Krachen oder Knacken ist entscheidend für das knusprige Gefühl. Dass dabei der „Sound“ gar bestimmten physikalischen Gesetzen folgen muss, wird uns später klar, am Abend, beim Aperitif mit Kartoffelchips.
Nachdem die Mich schon warm ist, könnten wir eigentlich gleich ein paar Vorbereitungen für später treffen. Wir stellen etwas Hüttenkäse her. Diese Entmischung von Fett zum einen, Eiweiß und Molke samt Molkenproteinen zum anderen, können wir beschleunigen, indem wir der warmen Milch (etwa 1 Liter) einen 500-Gramm-Becher Joghurt zugeben. Joghurt ist nichts anderes als eine essbare Säure, wie Essig, nur etwas schwächer. Was aber macht Säure aus und wieso empfinden wir sie mal mehr und mal weniger „sauer“? Das liegt vor allem an einer gemeinsamen Eigenschaft aller Säuren: Sie setzen Wasserstoff frei. Aber nicht etwa atomaren Wasserstoff, Gott behüte, sondern Wasserstoff, dem sein einziges Elektron gestohlen worden ist. Der Physiker spricht vom Proton H+. Dieses elektronenlose Dasein ist nicht der günstigste Zustand, weswegen die Wasserstoffprotonen versuchen, koste es, was es wolle, ein Elektron einzufangen. Übrigens treibt selbst unser ganz normales Wasser H2O dieses Spiel. Immer zerfällt es in ein H+ und ein OH–, um sich zugleich wieder zu H2O verbinden, sodass wir es gar nicht erst merken. Bei Säuren spüren wir die Protonen dagegen deutlich. Wir empfinden „sauer“. Und bei Basen liegt der Schwerpunkt auf der Seite des OH–. Je mehr Protonen eine Säure freisetzt, desto saurer wirkt sie auf unsere Zunge. So richtig gefährlich wird das bei starken Säuren, etwa bei reiner Salzsäure. Dort sind die Protonen derart zahlreich, dass alle „ihr“ Elektron wieder haben möchten. Würden wir sie in den Mund nehmen, so würden sie sie uns sogar aus den Bestandteilen unserer Zunge reißen. Die Folgen wären schwere Verätzungen.
Physikalisch treiben die Protonen der eher zarten Milchsäure des Joghurts ein wesentlich kulinarischeres Spiel: Sie schwächen die abstoßende Wirkung der κ-Kaseine; die Fett-Kaseincluster vereinigen sich zu größeren Verbänden, die immer mehr koagulieren. Das heißt, immer mehr davon lagern sich zu größeren Aggregaten zusammen. Daher flockt die Milch aus, und es bilden sich große, weiße Gebilde, die in einer gelblich werdenden Molke schwimmen. Diesen „Käsebruch“ können wir auffangen und abtropfen lassen, und schon haben wir einen locker flockigen Hüttenkäse, dessen reiner und intensiver Milchgeschmack überzeugt. Die Flocken können Sie übrigens pressen (etwa mit einem schweren, mit Wasser gefüllten Topf), dann bekommen Sie eine „Camembertform“. Der Käse ist sogar schnittfest, und seine Würfel können angebraten werden, ohne dass sie zerfallen oder schmelzen. Denn die darin enthaltenen Proteine halten den Käse so fest zusammen wie ein prall gefülltes Einkaufsnetz die Waren aus dem Laden um die Ecke. So fügt die „perfekte indische Hausköchin“ in ihr Curry – etwa in matter paneer, oder saag paneer – gebratene Würfel dieses Käses als proteinhaltige und geschmackliche Dreingabe hinzu, ohne dass sie schmelzen. Oder sie reicht ihn schlicht zu gegarten Kichererbsen. Die Milch darf vor dem Kochen gewürzt werden: Salz, Pfeffer, Cumin, je nach Lust und Laune, dann ist der Blitzkäse schon entsprechend vorgewürzt. Aber das wären dann eher Frühstücksgeschichten aus dem Punjab. Falls Sie den Hüttenkäse lieber süßlich wünschen, schmeckt er auch mit Zucker. Zusammen mit Frischobst ist der Blitzkäse aus Eigenproduktion ein purer Genuss und ein einfaches, aber wirkungsvolles Powerfrühstück.
Dass die Molke eher grünlich transparent erscheint, ist übrigens ein sichtbarer Beweis des physikalischen Phänomens der vollständigen Ausflockung der Milch. In der Molke schwimmen jetzt keine großen Fett- und Kaseincluster herum. Daher wird das Licht nicht mehr in alle Richtungen gestreut, sondern kann mehr oder weniger ungehindert durchscheinen. Die Restbestände der Molke, etwa Molkenproteine, absorbieren lediglich einige Wellenlängen, was eben die grüngelbliche Farbe erklärt. Jetzt aber schnell zum Kakao.
Immer diese Klumpen! Kaum wird die heiße Milch über den Kakao gegossen, schon bilden sich Klumpen, die sich selten wieder auflösen lassen. Das ist lästig, sieht aber auch verdächtig nach hochinteressanter Wissenschaft aus. Anlass genug, genauer auf den Kakao zu schauen. Es gilt: Kein Kakao und keine Schokolade ohne Kakaobohnen. Die wachsen auf Bäumen, müssen gepflückt und anschließend vom Fruchtfleisch befreit werden, bis man zu ihren Samen vorgedrungen ist. Und diese Samen bilden die Grundlage für den unglaublichen Schokoladengenuss mit seinem typischen Geschmack und Geruch, der eigentlich nur die eine Aufgabe hat: Uns die Münder wässerig zu machen. Womit wir schon bei unserem Problem sind: Die Bohnen enthalten unter anderem Fett, und das mag bekanntlich Wasser überhaupt nicht und löst sich erst recht nicht darin auf. Schon wieder also der Konkurrenzkampf Fett gegen Wasser.