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Buch

Das 19. Jahrhundert revolutioniert die Philosophie! Während aus der Industrialisierung die bürgerliche Gesellschaft hervorgeht, verlieren die Philosophen den Boden unter den Füßen. Ist es überhaupt noch möglich, ein geschlossenes System der Welt zu errichten? In einer Welt ohne Gott und ohne natürliche Ordnung? Vor allem die Naturwissenschaften fordern die Philosophie heraus und beanspruchen die alleinige Deutungshoheit über Wahrheit und Sinn. Denker wie Auguste Comte, John Stuart Mill, Herbert Spencer, Ernst Mach und Charles Sanders Peirce versuchen die Philosophie methodisch auf das Niveau der Physik und der Biologie zu bringen. Doch genau dagegen rührt sich Protest. Für ihre Gegenspieler Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche ist die Philosophie gerade keine Wissenschaft, sondern etwas ganz anderes: eine Haltung zum Leben!

Richard David Precht

SEI DU SELBST

Eine Geschichte der Philosophie

Band 3

Von der Philosophie nach Hegel
bis zur Philosophie
der Jahrhundertwende

Originalausgabe

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Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Bridgeman Images: Caspar David Friedrich:

Der Wanderer über dem Nebelmeer, 1818

(Öl auf Leinwand) / Hamburger Kunsthalle

Redaktion: Regina Carstensen

JT ∙ Herstellung: KW

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-15990-0
V003

www.goldmann-verlag.de

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Inhalt

EINLEITUNG

Der Wanderer über dem Nebelmeer

PHILOSOPHIE NACH HEGEL

Eine sinnlose Welt

Die Erforschung der Seele

Ordnung und Fortschritt

Das Glück der größten Zahl

Die Wissenschaft der Erfahrung

Der einzig wahre Kommunismus

Klassenkampf ums Dasein

Wozu Philosophie?

Zurück zu Kant!

PHILOSOPHIE DER JAHRHUNDERTWENDE

Der Sinn des Lebens

Evolution und Ethik

Wer ist Ich?

Auf der Suche nach Klarheit

Leben ist Problemlösen

Individuum und Gesellschaft

ANHANG

Ausgewählte Literatur

Philosophie nach Hegel

Philosophie der Jahrhundertwende

Dank

Personenregister

Sachregister

Bildnachweis

Dem unbekannten Schwebebahnschaffner

Wir werden nicht den Weg von der Utopie zur Wissenschaft zurücklegen. Denn das führt uns zur Endstation, deren gesamte technische Raffinesse uns bis ins Jenseits verfolgen wird!

Ein Wuppertaler Schwebebahnschaffner,
am 25. Mai 1971
1

Einleitung

Was für ein Jahrhundert! Am Anfang steht der Staatsstreich des achtzehnten Brumaire des Jahres VIII. Napoleon, der Rückkehrer seines ägyptischen Feldzugs, wird Erster Konsul und damit Alleinherrscher Frankreichs. In wenigen Jahren wird er die Geografie des Alten Europa umpflügen und eine politische Dynamik auslösen, die jahrzehntelang mehr als den halben Kontinent in Atem hält. Als wären die politischen Umbrüche nicht schon genug, schwankt auch bei allen anderen Gewissheiten der Boden. Mitreißender, zerstörerischer und verheißungsvoller noch als die Galionsfiguren der Weltgeschichte sind die Wissenschaften. War das 18. Jahrhundert das Jahrhundert der Physik, so ist das 19. Jahrhundert das der Biologie. Das Leben hat nun nicht nur eine Naturgeschichte wie im Jahrhundert zuvor. Es bekommt eine Entwicklungsgeschichte. Die Welt, im Jahr 1800 nur wenige tausend Jahre alt, dehnt sich nach rückwärts aus in immer schwindelerregendere Tiefe. Am Ende des Jahrhunderts zählen die Jahre in Milliarden.

Aus einfachen dunklen Anfängen zum Menschen und dann – wohin? Die Zukunft wird vom Menschen geschrieben, so viel steht fest. Doch wer bestimmt den Text? Gehorcht die Kulturgeschichte den gleichen Gesetzen wie die Natur? Schreitet sie überhaupt gesetzmäßig voran? In »Stadien« wie bei Auguste Comte? Oder als dialektische Abfolge von Klassen wie bei Karl Marx? Worin genau liegt dann die Rolle der Menschen? Sind sie dienstfertige Werkzeuge einer Vorsehung ohne Gott? Glieder einer programmierten Maschinerie? Oder ist am Ende doch alles ungeschrieben, unklar, unsicher? Irrt die Menschheit vorwärts ohne Plan?

Ob der Lauf der Welt nun vorherbestimmt ist oder nicht, in jedem Fall liegt der Weg im Dunkeln. Kein Allmächtiger und kein Licht der Vernunft leuchten den Pfad aus, der vor der Menschheit liegt. Philosophieren im 19. Jahrhundert bedeutet fast immer: Philosophieren nach Gott! Und Philosophieren nach Gott heißt, in eine Welt hinein zu grübeln, die ganz offensichtlich nicht für den Menschen geschaffen worden ist. Eine verstörende Erkenntnis! Genau zu diesem Zweck hatten sie früher den Allmächtigen immer wieder in ihre Systeme gemogelt: Descartes, Spinoza, Leibniz, Locke, Kant und Hegel. Hier formen die Bedürfnisse des Menschen noch das Universum und bestimmen den Gang einer wohlprogrammierten Geschichte. Das 19. Jahrhundert aber erkennt die exzentrische Stellung des Homo sapiens. In der Geschichte der Natur steht er nicht im Zentrum, sondern genau daneben, allein, verloren und ohne Obdach. Wer jetzt von »Gesetzen« der Natur und der Gesellschaft redet, erkennt sie nicht mehr als durchdachte Regeln für eine komfortable Heimstatt, sondern als unpersönlich und fremd. Und wer weiterhin das Wort »Gott« niederschreibt, wie Søren Kierkegaard, kennt keinen Gott als Weltbaumeister mehr und kein göttliches System. Niemand und nichts fügt sich irgendwo passend ein. Übrig bleibt allein der persönliche, der subjektive Gott.

Der Umbruch ist radikal. Wahrheiten kommen nun nicht mehr von der Kanzel, sondern stehen in Zeitungen oder ticken im Takt der Telegrafie. Wer die Bibel bisher wörtlich nahm, muss lernen, sie ernst zu nehmen: als Literatur von Unwissenden (David Friedrich Strauß), als menschliche Wunschprojektion (Ludwig Feuerbach) oder als epische Verkleidung dunkler Triebe (Sigmund Freud).

Gott ist tot und mit ihm alle alte Metaphysik. Auf diese nackte Leinwand malt das 19. Jahrhundert nach und nach die Koordinaten der Moderne. Vielleicht braucht die Gesellschaft noch den Kitt der Religion, wie für den späten Henri de Saint-Simon und seinen Schüler Comte. Aber diese »Zivilreligion« betet keinen Schöpfer mehr an, sondern die erlesensten unter den menschlichen Geschöpfen. Sie mögen genial sein, kreativ und vorausblickend, wie die besten der Wissenschaftler. Aber sie sind keine Engel und fallen nicht vom Himmel. Geschaffen wurden sie wie alle Menschen aus einfachen Keimen. Der Gedanke, im 18. Jahrhundert geboren, bei Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Denis Diderot, wird 1811 zum ersten Mal systematisch: in Jean-Baptiste de Lamarcks Philosophie zoologique (Zoologische Philosophie). Sie bietet die neue Blaupause für eine evolutionäre Gesellschaftstheorie, lange bevor Darwins Selektionstheorie dazukommt. Gesellschaften und ihre Ziele lassen sich von nun an ohne Gott erklären. Aber damit zugleich ihre »optimale« Ordnung und ihre »richtige« Moral?

Was auch immer diese passende Ordnung ist, sie muss vor allem mit dem Fortschritt vereinbar sein, mit stetigem Wirtschaftswachstum und neuer Technik. Denn deren Wunderwerke machen die Menschen schneller gottlos als alle Philosophen der Aufklärung zusammen es vermocht hatten. Die Technik zaubert Neues in die Welt und ersetzt damit Glaube, Aberglaube und Magie. In kürzester Zeit wird sie selbst zum wild umtanzten Fetisch. Auf der Leinwand erscheinen Höllenmaschinen; Eisenbahnen und Dampfschiffe zuerst, am Ende des Jahrhunderts noch Flugzeuge und das Automobil. Hochöfen schwärzen den Himmel der immer schneller wachsenden Großstädte. Die Technik ist überall. Uhren messen in der Anzugweste die Zeit nahe beim Herzen. Die Elektrifizierung beleuchtet und beschleunigt die Welt seit den 1880er-Jahren. Das Leben wird getaktet, Fahr- und Arbeitspläne bestimmen den Rhythmus. Auf den Feldern explodieren derweil die Erträge, die Nahrungsmittelchemie bereitet den Weg, Kunstdünger befeuert den Ertrag. Mehr, schneller, höher, weiter. Die Bevölkerung Europas steigt, trotz Krankheiten und Epidemien, von unter zweihundert Millionen im Jahr 1800 auf über vierhundertzwanzig Millionen im Jahr 1900. Es ist das einzige Jahrhundert, in dem sich die Bevölkerung des Kontinents mehr als verdoppelt.

Es scheint, als sei die Welt eine einzige Maschinerie geworden. Was Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein Weltprozess zum Höheren war, ist nun das Werk von Maschinen. Fortschritt wird in Fabriken fabriziert. Aber ersetzen sie wirklich den dialektischen Fortschritt zu einer immer besseren Gesellschaftsordnung? Stehen Maschinen für ein gelingendes Leben? Die Frage treibt die Maschinisten der historischen und naturalistischen Logik hervor. Die einen sehen das Gute im Kapitalismus gleichsam verkörpert, von den Klassikern der britischen Nationalökonomie bis zu Herbert Spencer. Die anderen dagegen fordern seine zügige Überwindung, wie William Godwin, Saint-Simon, Charles Fourier und Marx und Engels. Sie skizzieren, jeder auf seine Weise, einen zwingenden Weg in eine alternative Zukunft. Wenn moderne Fahrzeuge Zeit und Raum überwinden, die moderne Kommunikation alle mit allen verbindet, wenn Umwälzung das Zeichen der Zeit ist – warum überwindet man nicht auch die bisherigen Besitzverhältnisse, verbindet die Menschen als Gleiche unter Gleichen und wälzt nicht die Gesellschaftsordnung um?

Revolutionen in der Technik und in der Wirtschaft sind überall. Und in den Köpfen? Tatsächlich befeuern Wandel, Disruption und Fortschritt das Denken in alle Himmelsrichtungen, nach rechts und nach links. Was der Mensch ist, seine wahre Natur, ist nach dem Tod Gottes unergründlich. Es gibt keine »Universalien« mehr, keine feste Definition des Humanen. Wo früher »Natur« drüberstand, steht jetzt »Kultur«. Was der Mensch ist, erklärt sich durch die Antworten, die er auf seine Umwelt findet. Menschen leben nicht in einer vorgefundenen Welt, sondern sie stellen sie her, von Kontext zu Kontext verschieden. Braucht es da noch eine alles ergründende Philosophie? Die Frage nach dem Was beantwortet eine neue Disziplin, die Soziologie, die Frage nach dem Warum eine andere – die Psychologie.

Die Soziologen streben nach ganz oben: Sie schwingen sich auf zur Vogelschau der Gesellschaft, wie bei Georg Simmel, Émile Durkheim und Max Weber. Die Psychologen dagegen blicken nach unten in die Tiefe der Seele: Friedrich Eduard Beneke, Johann Friedrich Herbart, Carl Gustav Carus, Wilhelm Wundt, William James und Sigmund Freud. Die Perspektiven, die sie eröffnen, und die Theorien, die sie entwerfen, beschäftigen ihre Wissenschaften bis heute. Dabei ist ihr politischer Blick oft seltsam verengt. Wie so viele ihrer Zeitgenossen bewegen sich die Pioniere der empirischen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften in einem weiten Feld bis heute nicht ausgestorbener Ismen: dem Nationalismus, dem Kommunismus, dem Sozialismus, dem Konservativismus, dem Liberalismus, dem Rassismus. Die Ismen springen ein, wo sich der Mensch des 19. Jahrhunderts seiner philosophischen Wesensbestimmung nicht mehr sicher sein kann. Sie sind »Ideologien«. Mochte Antoine Louis Claude Destutt de Tracy, der Vater des Begriffs, in der idéologie noch den Zauber einer »einheitlichen Wissenschaft der Vorstellungen und Wahrnehmungen« sehen – ihre Unmöglichkeit macht sie zum Schimpfwort. Als zweckdienliche Verkürzungen stecken die Ismen das Terrain ab, bündeln das zunehmend überfordernde Leben zu Überzeugungen, legitimieren Hass, Angst und Wut und rastern dadurch die Leinwand des 19. Jahrhunderts. Das Dynamit, das sie in sich tragen, wird bald hochgehen, fast jede dieser »Weltanschauungen« im 20. Jahrhundert eskalieren.

Das Schema von rechts und links, Restauration und Revolution, Pessimismus, Kulturpessimismus und Fortschrittsglaube – die DNA des 20. und noch des frühen 21. Jahrhunderts wird hier festgelegt. Und die neue Lohnarbeits- und Leistungsgesellschaft bildet vom frühen 19. Jahrhundert an für mindestens zweihundert Jahre die Matrix des Lebens und Zusammenlebens in Europa und Nordamerika. Erst jetzt, im nicht mehr ganz so jungen 21. Jahrhundert, werden Auflösungserscheinungen sichtbar. Ein neues Maschinenzeitalter, jenes der künstlichen Intelligenz, macht sich auf, das alte abzulösen. Sollte die Betrachtung des Werdens der alten Matrix nicht helfen, die Gegenwart besser zu verstehen und durchzustehen? Sollte sie uns nicht das Zeitbedingte der Denkmuster, der Symbole und der Legitimation des Kapitalismus zu erkennen lehren, die uns heute oft so zeitlos wie alternativlos erscheinen?

Das 19. Jahrhundert selbst erlebt noch nicht die Dauer einer fundamentalen Alternative. Die Zeitläufte treiben viele politische Spielarten, Fortschritte und Rückschritte hervor, besonders in Frankreich: von der großen Revolution über Napoleon, die Restaurationszeit, die Revolutionen von 1830 und 1848, Napoleon III. und die kurze Phase der Pariser Kommune bis zur Dritten Republik. Aber sie schaffen keine radikal neue Wirtschaftsordnung. In Deutschland kann davon ohnehin nicht die Rede sein. Solange das Jahrhundert reicht, schafft man es nicht einmal zur Staatsform der Republik. Und in England blüht von 1837 an bis zur Jahrhundertwende das Viktorianische Zeitalter mit seinem wirtschaftlichen Erfolg, seiner imperialen Größe und seinem Sozialdarwinismus.

Fundamental dagegen ist die Veränderung in der Philosophie. Von nun an marschieren ihre avanciertesten Vertreter in eine neue Himmelsrichtung. Der Weg, die Welt zu erklären, hat sich umgekehrt. Wer nichts mehr von Gott herleiten kann, der kennt auch sonst keinen Anfang, von dem aus sich die Welt denkend enträtselt. Wo Prinzipien herrschten, bleiben nur Beobachtungen. Die Deduktion tritt zurück, die Induktion wird zur neuen Methode. Von Comte über John Stuart Mill bis zu Ernst Mach treten die Positivisten ihren Siegeszug an. Die Metaphysik der Philosophen ist ihnen ein Graus, philosophieren sollen die Fachleute: wie in den Naturwissenschaften, so in den neu definierten »Geisteswissenschaften«. »Materialisten« ohne Metaphysik gab es schon lange zuvor. Aber sie deduzierten fleißig aus der Himmelsphysik für das Menschenleben, wie Claude Adrien Helvétius und Paul Henri Thiry d’Holbach. Die Positivisten dagegen möchten Empiriker sein, exakte Buchhalter der Realität, und sei sie uns auch oft durch falsche Begriffe und Traditionen verstellt. Sie sind die großen Entzauberer. Was wir für die Dinge der Welt halten, oder gar für ein »Ich«, existiere nicht objektiv. Sind das nicht alles nur »Anpassungen« unseres Bewusstseins, eine selbst konstruierte Welt aus Symbolen, damit das Menschentier sich orientieren kann? Nicht anders sehen es die Väter des »Pragmatismus« in den USA, insbesondere Charles Sanders Peirce. Für ihn enträtseln allerdings nicht die Empiriker die Welt, sondern die Logiker, sofern sie das Gehäuse ihrer Zunft gründlich überarbeiten.

»Philosophen, schärft euren Realitätssinn!« So lautet die Losung des Jahrhunderts. Was der Technik zu ihren schwindelnden Erfolgen verhilft, soll auch die Philosophie wieder bedeutsam machen. Wie die Mathematiker und die Techniker hat sie es nun mit der schlichten Frage nach »Problem« und »Lösung« zu tun. Und welches scharf umrissene Problem sollte sich so nicht zügig lösen lassen? Der Optimismus, der Comte, Mill, Spencer und die US-amerikanischen Pragmatisten beseelt, scheint schier grenzenlos. Alles wird erkannt werden, und alles wird auf seine Tauglichkeit für die Zukunft überprüft. Was nützt der Gesellschaft? Und was kann weg?

Doch hat die Philosophie dabei nicht gleichzeitig ungeheuer viel zu verlieren? Wenn es nur noch um »Nutzenwissen« geht, was leisten Philosophen dann noch, was andere nicht besser können? In der Mitte des Jahrhunderts verliert die Philosophie die empirisch arbeitenden Psychologen aus ihren Reihen und parallel dazu die ebenso empirisch orientierten Soziologen. Das Fundament schrumpft im Eiltempo. Was soll der verbliebene Rest noch sein? Wissenschaftstheorie? Geschichtsphilosophie? Moralwissenschaft?

Je wissenschaftlicher die Philosophie wird, umso weniger weiß sie noch, was ihr Gegenstand sein soll. In die Enge treiben sie ein Geodät (Peirce), ein Physiologe (William James) und ein Physiker (Mach). Sind die Naturwissenschaftler die wahren Philosophen? Doch was wissen sie von der enormen Breite der Kulturen, den menschlichen Eigenarten und der Besonderheit eines jeden, die man nach den deutschen Hochschullehrern Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert nur verstehen, aber nicht erklären kann? Das Ringen um Objektivität tut der Besonderheit und dem Individuellen Abbruch. Sagt nicht der klare Verstand, dass das, was in Menschen vorgeht, trübe und dunkel ist? Weltanschauungen, das Modewort der zweiten Jahrhunderthälfte, lassen sich nicht rationalisieren, sondern nur einkreisen und ausdeuten. Und gilt das Gleiche nicht auch für den individuellen »Lebensstil«, den die Soziologen des Fin de Siècle beschreiben?

Doch wenn der Gegenstand der Philosophie das »subjektive Erleben« ist, das den Naturwissenschaftlern und allen Empirikern verborgen bleibt, wie geht man damit um? Die Antwort kommt früh, schon in der Reaktion auf die Romantik. Arthur Schopenhauer und stärker noch Kierkegaard sehen das Wesen des Menschen in dem, was er tut. Leben ist nicht mit Begriffen fassbar und nicht denkend zu begreifen. Es ist das, was geschieht, während wir dabei sind zu verstehen, was geschieht. Die Sphäre des Lebens ist Empfindung und Selbstempfindung. Sie ist in erster Linie ästhetisch und deshalb auch nur ästhetisch zu beschreiben. Texte über das Leben müssen leben als lebendiger Dialog oder Monolog, Anklage, Rechtfertigung oder Predigt. Die Lebens- und die Existenzphilosophie nehmen von hier aus ihren Anfang. Ihre Themen sind das persönliche Glück und der »Sinn« einer jeden Existenz – Fragen, von denen die Empiriker aller Couleur nichts verstehen. Denn der Sinn des Lebens wird nicht vorgefunden, er wird ihm gegeben.

Zu Hochform läuft diese Gegenströmung auf, wenn Friedrich Nietzsche sie mit äußerstem Pathos auskleidet: als gnadenlose Kritik an der Vernunftphilosophie und an der Kultur des Abendlands. Doch sollte Existenzphilosophie nicht auch bedeuten, über die materielle Existenz der Menschen nachzudenken? Kierkegaard und Schopenhauer mussten nie arbeiten. Und Nietzsche ist Frührentner. Für die Sozialisten sind deren Sorgen Luxussorgen. »Sei du selbst!« – heißt das nicht, überhaupt die Möglichkeit einer Wahl zu haben, um seine Lebensform selbst zu bestimmen?

Das 19. Jahrhundert ist nicht nur die Kontroverse zwischen wissenschaftlicher und Existenzphilosophie, Psychologie und Logik. Es ist auch der Kampf elitärer ästhetischer Lebensausdeutung gegen die Ansprüche aller auf ein selbstbestimmtes Leben. Nietzsches Verachtung der Arbeiter spricht Bände. Endet die Vernunftphilosophie der Aufklärung mit ihren universalen Rechten für jeden in der »Massenkultur«, dann will das vornehme Bürgertum nichts damit zu tun haben. In diesem Spannungsfeld denken auch Simmel und Weber, die Soziologen der Jahrhundertwende. In gleichem Maße, in dem der Fortschrittsoptimismus der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie steigt, wächst der Kulturpessimismus der bürgerlichen Soziologen, nehmen sie, vor allem Simmel, Zuflucht zur Lebensphilosophie.

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Philosophie tot; stattdessen gibt es Dutzende neuer unvollständiger Ansätze, der eine radikaler als der andere. Das »Ich« ist dekonstruiert, die Objektwelt subjektiviert. Werte stehen, trotz allem Ringen der Neukantianer, als irrational und beliebig da. Und die »Wahrheit« weist niemandem mehr den Weg. Sie wird nach der Nützlichkeit bemessen, um sich der Umwelt geschmeidig anzupassen. Vor allem anderen aber steht ein Scheitern: Der Anspruch der Philosophie, strenge Wissenschaft zu sein, hat sich nicht einlösen lassen! Und eine neue rationale Moral ist nicht in Sicht. Am Ende kommt das Fiasko. Die ganze Leinwand wird geschwärzt und blutrot getränkt: Soziologen wie Simmel und Weber, der Neukantianer Paul Natorp, die Anhänger der Lebensphilosophie und andere bejubeln, auf die große Erlösung hoffend, den Ersten Weltkrieg …

Der Wanderer über dem Nebelmeer

Vom irrealen Zauber des Seins

Ein Mann in dunkelgrünem Rock steht einsam im Gebirge. Der Fels ist abschüssig, die Füße des Wanderers stehen versetzt, ein Stock gibt ihm Halt. Nebel zieht vom Tal herauf, in gleichem Blaugrau vermischt er sich mit dem fahlen Himmel; Atemzüge eines Sommermorgens. Im Dunst sind Felsen erkennbar, bizarr geformte Spitzen, spärlich besetzt mit Nadelholz. Zwei Hänge fallen von beiden Seiten sanft herab und scheinen sich im Wanderer zu treffen, genau auf der Höhe seines Herzens. »Ich muss allein bleiben und wissen, dass ich allein bin, um die Natur vollständig zu fühlen und zu schauen«, wird der Maler des Bildes von sich sagen. »Ich muss mich dem hingeben, was mich umgibt, mich vereinigen mit meinen Wolken und Felsen, um das zu sein, was ich bin.«2

Dieser Maler ist Caspar David Friedrich (1774 –1840), ein Mann aus Vorpommern, der sein Erwachsenenleben in Dresden verbringt. Doch Wolken hin, Felsen her – weder er selbst noch ein Zeitgenosse berichten von dem Bild, das hier beschrieben ist. Erst 1939 taucht es bei einem vierschrötigen Berliner Galeristen auf, wahrscheinlich aus jüdischem Eigentum. Reiche Industrielle besitzen es in den Vierziger- bis Sechzigerjahren. Im Dezember 1970 kauft es die Hamburger Kunsthalle. Und ein jeder vermutet, dass es sich eigentlich nur um ein Werk Friedrichs handeln kann, gemalt um das Jahr 1818. Zwei Skizzen von Felsformationen, gezeichnet von der Hand des Meisters, finden sich ausgesprochen ähnlich auf dem Bild wieder. Ein verschollenes Werk Friedrichs, den »Adler über dem Nebelmeer« zitierend, erhält es den Titel »Der Wanderer über dem Nebelmeer«.

Friedrich hat sich die Landschaft, die auf dem »Wanderer« gemalt ist, mit eigenen Füßen erlaufen und erklettert. Mit Wanderstock und Zeichenmappe ist er durch die Sächsische Schweiz gestreift, angezogen vom Elbsandsteingebirge, jener sächsischen Fantastenlandschaft und Traumkulisse, die sich später für Karl May in die Schluchten des Balkans und in die Felsformationen am Silbersee verwandeln wird. Friedrich ist gerne gewandert, wenn auch selten in große Ferne. Die deutsche Ostseeküste, seine Heimat, war ihm seelisch immer am nächsten. Nicht mal die Alpen, die er nach Skizzen anderer gemalt hat, wollte er persönlich sehen.

Doch der Maler, der die Stimmungen im Gebirge festhält, ist kein romantisch gestimmter Wanderer unter vielen. Als Friedrich im Mai und Juni 1813 durchs Elbsandsteingebirge spaziert und Landschaftsskizzen für den »Wanderer« anfertigt, befindet sich Sachsen im Brennpunkt der napoleonischen Kriege. Dresden ist von den Franzosen besetzt, die umgebende Landschaft gleicht einem Heerlager. Selbst im Gebirge ist Napoleon persönlich gewesen, um strategische Orte für militärische Operationen zu sichten. In Dresden leidet die Bevölkerung unter Hunger und Seuchen. Im August verteidigen die französischen Besatzer die Stadt bei der Schlacht um Dresden gegen die Heere Österreichs, Preußens und Russlands und verwüsten dabei das vor Dresden gelegene Räcknitz bis auf die Grundmauern. Erst nach der Völkerschlacht bei Leipzig gelingt es den Russen im November 1813, die Franzosen zu vertreiben.

Friedrich ist nicht aus Zeitvertreib in der Sächsischen Schweiz, sondern um den Kriegswirren zu entgehen. Doch kein Krieg, nicht einmal die feinsten Spuren von Menschenwerk und -unwerk, sind auf seinem Bild zu sehen. Die Landschaft des Elbsandsteingebirges erscheint unbeschrieben, eine leere Seite im Buch der Weltgeschichte, wie Hegel deren wenige glückliche Tage beschreibt. Seltsam stillgestellt, ereignet sich auf Friedrichs Bildern nie Geschichte, nur Naturgeschichte.

Erstaunlich ist das schon. Denn der Maler ist politisch hoch interessiert. Er ist überzeugter Demokrat. Und der Feudalismus, der nach der französischen Besetzung in Sachsen wieder erstarkt, ist ihm ein Gräuel. Zugleich denkt Friedrich wie so viele deutsche Republikaner seiner Zeit antifranzösisch und deutschnational. Von einem geeinten Deutschland erhofft er sich die Republik. In Zeiten der Restauration, die nach dem Wiener Kongress 1815 einsetzt, eine gefährliche Überzeugung! Doch Friedrich lässt sich nicht einschüchtern. Von nun an tragen die Gestalten auf seinen Bildern allesamt die von Ernst Moritz Arndt so bezeichnete »teutsche Kleidertracht«: einen schlichten Leibrock, kein Halstuch und ein Samtbarett – die Kluft der Patrioten und Demokraten. Auch der Wanderer über dem Nebelmeer steht dort in altdeutscher Tracht. Nur das Samtbarett fehlt, wie man es von den Männern kennt, die auf Friedrichs Werken der gleichen Zeit das Meer betrachten oder den Mond. Stattdessen zausen dem Wanderer die Morgenluft und die unruhigen Zeitläufte das blonde Haar. Seine »teutsche« Kleidung weist ihn als »Demagogen« aus, wie der Maler bei einem anderen seiner Bilder halb ironisch bemerkt – frei nach dem in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 sogenannten Straftatbestand der »demagogischen Umtriebe«.

Doch nicht nur der Wanderer, keine von Friedrichs Bildfiguren tut je etwas Konspiratives. Sie tun überhaupt nichts. Stets stehen oder hocken sie und starren mehr oder weniger stumm in eine unermessliche Ferne. Die politischen Verhältnisse sind der Horizont, aber nicht das Thema der Bilder. Nur abwesend sind sie anwesend. Man ahnt sie, wenn die altdeutsche Tracht – nicht nur ein Bekenntnis, sondern auch eine Vermummung – die Identifizierung der Figuren im Hier und Jetzt vernebelt. Als Rückenfiguren ohne erkennbares Antlitz sind Friedrichs Gestalten vor der Polizei und den Spitzeln der Restauration sicher; man muss sie in Frieden lassen.

Friedrich hat die Rückenfigur nicht erfunden. Auf den Veduten, den Architekturbildern des 18. Jahrhunderts, finden sich ungezählte kleine Figuren. Dem Betrachter abgewandt, stehen sie winzig auf Plätzen und in Hallen herum, um die Architektur großartiger wirken zu lassen. Doch so, wie Friedrich Rückenfiguren ins Zentrum seiner Bilder rückt, hat das niemand zuvor getan. Und keine stand jemals so groß und wuchtig in der Landschaft wie der Wanderer über dem Nebelmeer.

Warum tut er das? Zunächst macht Friedrich mit seinen dem Bildbetrachter abgewandten Betrachtern aus einer Not eine Tugend. Er ist Landschaftsmaler, kein Porträtmaler. Seine malerischen Mittel haben nicht die Qualität der bedeutenderen Zeitgenossen Francisco de Goya, Eugène Delacroix, Théodore Géricault oder William Turner. Friedrichs Ambitionen halten sich im Rahmen seiner malerischen Möglichkeiten. Auch von einer größeren künstlerischen Entwicklung kann nicht die Rede sein. Vom Frühwerk bis zum Spätwerk erkennt man kaum eine »Reifung«, keine auffällige Verbesserung der malerischen Mittel, was die Datierung der stets unsignierten Bilder außerordentlich erschwert.

Friedrich ist kein allzu facettenreicher Maler. Stattdessen verfolgt er ein Leben lang eine ganz bestimmte Konzeption. Er möchte den Betrachter in eine irgendwie immer gleiche Stimmung versetzen, nicht in völlig verschiedene. Seine Bilder, lebloses Leben, gleichen Dioramen in einem Naturkundemuseum. Sind Rückenfiguren darin zu sehen, so stehen sie herum wie ausgestopfte Tiere. Äußerlich meist unbewegt, starren sie in die verschleierte Ferne. Alle Bewegung kommt nur durch den Betrachter ins Bild. Soll im Museum das gemalte Abend- oder Morgenlicht die Tiere konturieren, so ist es bei Friedrichs menschlichen Exponaten umgekehrt; sie bringen den gemalten Hintergrund zur Geltung, in den sie so versunken schauen. Gemeinsam bleibt, dass das Tier im Diorama und das Menschentier bei Friedrich niemals als konkrete Individuen gemeint sind. Wie der präparierte Hirsch, so ist die Rückenfigur eine charakterologische Leerstelle – der Mensch im Bild wird zum »Menschen«, zum stellvertretenden Gattungswesen.

Dazu passt, dass Friedrich die Natur völlig der Stimmung unterwirft. Seine Landschaften sind frei von Launen. Stattdessen gehorchen sie dem Kalkül einer festgelegten Geometrie, die sie stets ein wenig unwirklich macht. Theatralik und strenge Komposition schaffen kein realistisches Szenario, sondern eine Bühne für ein Naturschauspiel. Seine Kunst will, frei nach Paul Klees berühmtem Satz über die Kunst, nicht das Sichtbare wiedergeben, sondern sichtbar machen. Oder mit Friedrich selbst gesagt: »Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge zuerst siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen.«3 Auf diese Weise philosophiert der Künstler mit Farben und Formen, Licht und Schatten. Wie ein dunkles Dreieck steht der Wanderer im Vordergrund auf dem Felsen, genau in der Mitte einer hellen Landschaft, die auf seinen Brustkorb zentriert ist. Plakativer kann man die Geometrie in der Landschaftsmalerei kaum einsetzen, Hell und Dunkel kaum scheiden.

Friedrichs Landschaftsbilder sind artifizieller als die seiner meisten Vorgänger. Und auch der Standpunkt des Wanderers im weglosen Gelände ist kein zufälliger. Als Zentrum in der Bildmitte lenkt er den Blick des Betrachters auf den blickenden Betrachter; als stünde man selbst hinter dem Mann im dunkelgrünen Rock und sehe ihm beim Sehen zu. Der Betrachter außerhalb des Bildes ist damit zugleich im Bild. Sehend versetzt er sich in den Sehenden hinein. Doch was sehen wir da? Wozu und zu welchem Endpunkt komponiert Friedrich seine Bilder? In welchen Zustand will er uns versetzen und warum?

Die Kunsthistoriker haben den sich in die Landschaft erstreckenden Seeleninnenraum höchst unterschiedlich interpretiert. So fällt es nicht schwer, Friedrichs in Selbstzeugnissen vielfach dokumentierte Religiosität heranzuziehen und die Bilder christlich zu deuten. Andererseits konnte es der Maler mit seinen Bildern wie dem Tetschener Altar gerade strenggläubigen Christen nicht recht machen. Der konservative preußische Diplomat Basilius von Ramdohr hatte Friedrichs Altarbild mit dem »Kreuz im Gebirge« wegen seiner unchristlichen Naturmystik übel verrissen: »In der Tat ist es eine wahre Anmaßung, wenn die Landschaftsmalerei sich in die Kirchen schleichen und auf Altäre kriechen will.« Ramdohrs Gegner ist »jener Mystizismus, der jetzt überall sich einschleicht und wie aus Kunst wie aus Wissenschaft, aus Philosophie wie aus Religion gleich einem narkotischen Dunste uns entgegenwittert!«.4

Ramdohr stört, dass seit Mitte des 18. Jahrhunderts das Erhabene kein Alleinbesitz der christlichen Kunst mehr ist. Philosophen wie Edmund Burke, Immanuel Kant und Friedrich Schiller haben es als eine neue Kategorie der Ästhetik definiert. Nach Schiller ist das Erhabene das, was unsere Fassungskraft und unsere Lebenskraft übersteigt. Wir betrachten den erhabenen Gegenstand »als eine Macht, gegen welche die unsrige in Nichts verschwindet«.5 Doch gerade dieses Aufzeigen von Grenzen zieht uns, nach Schiller, »mit unwiderstehlicher Gewalt« an. Aus dem Spannungsfeld von überforderter Vernunft und überwältigten Sinnen ergreife ein »Zauber« unser »Gemüth«. Er entspringt aus der Macht unserer Fantasie, die dort ganz bei sich ist, wo Sinne und Vernunft kapitulieren.

Schiller hat diese Sätze geschrieben, als Friedrich neunzehn Jahre alt ist. Und das Erhabene darzustellen ist das ästhetische Ausdrucksbedürfnis der Zeit. Die Ergriffenheit im Angesicht des Unermesslichen wird der Hoheitsgewalt der Kirche entzogen und in der Natur wiedergefunden. Und auch die »Versunkenheit« gilt seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr als rein religiöses Gefühl, sondern findet sich, angestiftet durch Diderot, als häufiges Motiv in der französischen Salonmalerei. Was ehedem als Haltung gegenüber Gott verstanden wurde, wird nun zur ästhetischen Leerstelle. Ob Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer tatsächlich von Gottes Schöpfung ergriffen ist oder von der Schönheit der Natur an sich, bleibt der Interpretation des Bildbetrachters überlassen. Der Maler legt die Deutung nicht fest, sondern in die subjektive Empfindung desjenigen, der vor dem Gemälde steht. Statt einfach nur Transzendenz auszustrahlen, sind seine Bilder transzendental – sie verweisen zurück auf den Seeleninnenraum des Betrachters, der in der Natur sehen darf, was er sehen will.

Friedrichs Gemälde sind Räume für Subjektivität. Sie geben Anlass zu vielerlei philosophischen Spekulationen. Nicht schwer, im Nebelmeer das Walten eines vom Menschen unabhängigen Natur-Willens zu sehen, wie Arthur Schopenhauer ihn zur genau gleichen Zeit in Die Welt als Wille und Vorstellung beschreibt. Friedrich hat Schopenhauer, der 1818 in Dresden sein Hauptwerk vollendet, nicht gekannt; getroffen hat er nur dessen weithin als Salondame bekannte Mutter. Und wenn der Maler das helle Nebelmeer, bewegt vom Willen der Natur, der dunklen Vorstellungswelt des Wanderers entgegensetzt, vor dessen Augen sich das Naturschauspiel vollzieht, so spiegelt sich darin keine philosophische Lektüre. Gleichwohl gestaltet Friedrich mit künstlerischen Mitteln, was Schopenhauer mit dem Sezierbesteck der Philosophie scheidet. Und so wenig der Maler den Philosophen studierte, so intensiv der Philosoph den Maler. Im Jahr 1815 rühmt er ihn, neben anderen, dafür, dass seine Bilder den Betrachter zu »reinobjektiver Betrachtung« zwingen und damit »eine sehr bedeutende viel sagende Idee ausdrücken«.6

Friedrich musste Schopenhauer nicht lesen, um aus der gleichen Quelle zu trinken. Sein seelisches Bedürfnis und sein Verhältnis zur Natur sind dem vierzehn Jahre jüngeren Philosophen ähnlich, selbst wenn der Maler sich dabei nicht von Gott verabschieden muss wie der Philosoph. Schopenhauers Natur ist erhaben und grausam zugleich, Friedrichs Morgen- und Abendstimmungen fehlt jegliche Gewalt. Sie spiegeln jene friedliche Versöhnung von Menschenwelt und Naturschauspiel, die Schopenhauer allein der Kunst zugesteht, nicht aber dem wirklichen Leben. Und doch kommen sie philosophisch im Wesentlichen überein: Was der Mensch ist, sich selbst und der Natur gegenüber, kann nicht mit Worten, mit überhaupt keinen Mitteln der Vernunft gesagt werden, sondern nur empfunden und in Kunst gezeigt. Die Worte versagen vor dem Sein. Die Wahrheit ist keine Eigenschaft von Gedankengebäuden, sondern von schönen Sommerabenden und Morgenstunden im Nebelgebirge. Man denke noch einmal an Friedrichs Zitat vom Anfang: »Ich muss mich dem hingeben, was mich umgibt, mich vereinigen mit meinen Wolken und Felsen, um das zu sein, was ich bin.«

Die Zwiesprache mit der Natur ist still und stumm; ihr Ziel kein System des vernünftigen Denkens, gebaut aus dem eisernen Draht der Logik, den Backsteinen der Begriffe und dem Mörtel der Kausalität. Das eigentliche Sein ist der Vernunft gegenüber »irreal«, weil nicht zu fassen. Die Forderung des 19. Jahrhunderts, »Sei du selbst!«, die von Søren Kierkegaard zu Friedrich Nietzsche führt, kennt diesen irrealen Zauber des Seins. Von hier aus misstraut sie gründlich aller Vernunftphilosophie. In dieser Absage an objektive Erkenntnis liegt Friedrichs Modernität. Die Philosophie wird diesen Gedanken der Romantik weiterentwickeln zur Lebens- und Existenzphilosophie. Leben steht immer vor den Worten und Gedanken. Du bist du selbst, lange bevor du versuchst, dein Leben gedanklich einzuholen und dich zu dir selbst in ein diskursives Verhältnis zu setzen.

Überholt dagegen wird der Maler noch zu Lebzeiten vom zweiten Hauptstrang der Philosophie des neuen Jahrhunderts: einer Philosophie nach der Blaupause der Naturwissenschaften. Sie wird im Nebelmeer nicht mehr sehen als Luft reflektierendes H2O. Während der Existenzphilosophie alles subjektiv wird, wird der Philosophie nach naturwissenschaftlichem Zuschnitt alles objektiv. Anders als im 18. Jahrhundert, insbesondere im System Kants, ist zwischen beiden Polen nicht mehr zu vermitteln. Wie schnell der Wind sich in diese Richtung dreht, erkennt auch der Laie. In Friedrichs Bildern macht er auf den ersten Blick Zeugnisse der Romantik aus: rückwärtsgewandt in ihrem altdeutschen Habitus, hoffnungslos sentimental im Fernblick auf eine fortschrittslose Zukunft. Wie ein Denkmal aus den Befreiungskriegen steht der Wanderer in der bedeutungstragenden Landschaft; ein Memorial der Romantik, stillgestellt in der Vergangenheit.

Die Zeitläufte dagegen verändern sich rasant. Friedrich malt das Bild mutmaßlich im Geburtsjahr von Karl Marx. In Sachsen hat gerade ein beispielloser industrieller Aufschwung eingesetzt; im Erzgebirge, im Vogtland, in der Oberlausitz und in Westsachsen ersetzen Spinnmühlen menschliche Arbeitskraft. Seit 1807 werden sie nicht nur in England, sondern auch in Chemnitz gebaut, dem »sächsischen Manchester«. Die Bevölkerungszahl Sachsens verdoppelt sich in kurzer Zeit. Nirgendwo in Deutschland schreitet die Industrieproduktion so schnell voran. Zwanzig Jahre nachdem Friedrich seinen Wanderer in die Einsamkeit über dem Nebelmeer schickt, fahren die ersten Dampfschiffe auf der Elbe, zerschneidet die erste deutsche Eisenbahn-Fernverkehrsstrecke zwischen Leipzig und Dresden die vormals fast menschenleere Friedrich’sche Mondlandschaft. Beobachter in altdeutscher Kluft gibt es nicht mehr, die Zeit hat sie aus der Geschichte entfernt, der Dampf der Lokomotiven sie vernebelt, der Rauch der Schlote sie geschwärzt. Das neue sächsische Lumpenproletariat, das der Maler noch erlebt, findet in dessen Bildern keinen Platz. Die drängenden sozialen Probleme passen nicht in sein Weltbild.

Die strenge Geometrie und die Koordinaten haben sich verändert. Sie orientieren sich nicht an der Frage Frankreich oder Deutschland, Einheit oder Flickenteppich, bürgerliche Freiheit oder feudaler Obrigkeitsstaat. Der Blick ins Unermessliche hat sich mit Messbarem gefüllt, mit Zahlen und Kurven des industriellen Fortschritts. Nicht Transzendenz, sondern Effizienz lautet das Zauberwort der neuen Zeit; nicht Leere, sondern Fülle, statt Nebel – Durchblick. Die Dynamik erfasst alle und alles. Auch die Philosophen verlieren ihren Gott in gleichem Maße wie sie den Naturwissenschaften die Wahrheit überlassen. Zum neuen Gott aber wird der wirtschaftliche Fortschritt. Und dessen Dampfschiffe und Eisenbahnen machen selbst vor dem Elbsandsteingebirge nicht Halt. Als Friedrich 1840 in Dresden stirbt, ein fast vergessener Mann, beginnt in der Sächsischen Schweiz der planmäßige Tourismus …

PHILOSOPHIE
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Ein Albtraum an Transparenz.
Jeremy Benthams Entwurf für ein Panopticon (1791),
ein vom Aufseher jederzeit
vollständig einsehbares Gefängnis.