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Inhaltsverzeichnis
 
 
 
 
 
 
 

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Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen

Je genauer man diese Welt betrachtet, desto mehr Widersprüche und Inkonsequenzen entdeckt man in ihr.
(FRANÇOIS M. VOLTAIRE)
 
 
 
Man wird die Vermutung nicht los, dass hinter jeder Paranoia wie hinter jeder Macht dieselbe tiefere Tendenz steckt: Der Wunsch, die anderen aus dem Wege zu räumen, damit man der einzige sei, oder, in der milderen und häufig zugegebenen Form, der Wunsch, sich der anderen zu bedienen, dass man mit ihrer Hilfe der einzige werde.
(ELIAS CANETTI)

VORWORT
Derzeit wird vielerorts ein Werteverfall beklagt, und es hat den Anschein, dass diese Klage berechtigt sei und die Moral tatsächlich an Bedeutung verlöre. Die Finanzkrise hat die Skrupellosigkeit und Gier mancher Wirtschaftsbosse ans Tageslicht befördert, im Sport jagt ein Doping-Skandal den anderen und selbst in der hehren Wissenschaft gibt es nicht wenige, die, von ungebändigtem Ehrgeiz getrieben, mit unlauteren Mitteln wenn schon nicht zu Geld, so doch zumindest zu Ruhm und Ehre gelangen wollen. Nicht zu vergessen ist die katholische Kirche – eine Hüterin der Moral -, die derzeit wegen sexueller Übergriffe nicht weniger ihrer Würdenträger gebeutelt wird. Doch auch im familiären und beruflichen Alltag scheint Moral zunehmend in den Hintergrund zu treten, Lug und Trug scheinen eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Aber Vorsicht! In praktisch allen Zeitaltern wurde ein Werteverlust diagnostiziert, und mahnende, auf mangelnde Moral weisende Zeigefinger begleiten unsere Geschichte seit der Antike. Die derzeitige Situation ist also nicht so neu, wie man glauben möchte. Es ist wohl nur natürlich, dass man das eigene Zeitalter etwas anders wahrnimmt als die Vergangenheit.
Haben wir uns mit unseren jeweiligen Moralansprüchen vielleicht zu viel vorgenommen? Vertragen wir möglicherweise weniger Moral, als wir uns mit unseren eigenen Moralsystemen vorschreiben?
Die Sichtweise der modernen Evolutionstheorie legt eine nüchterne Betrachtung der menschlichen Moralfähigkeit nahe und gibt zu bedenken, dass wir Menschen, wie alle anderen Arten von Lebewesen
Egoisten sind,
➔ in erster Linie das Problem des Überlebens (= erfolgreiche Fortpflanzung) zu lösen haben,
➔ im Dienste des Überlebens Ressourcen benötigen und
➔ um diese im Wettbewerb miteinander stehen.
Von Natur aus ist der Mensch also weder gut, noch böse, sondern macht nur, was ihm sein biologischer Imperativ gebietet. Was soll ihm da noch »Moral«?
Als soziales Lebewesen ist der Mensch allerdings auf ein Miteinander mit Artgenossen angewiesen. Seine geistigen Fähigkeiten ermöglichen ihm obendrein, sein Verhalten und Handeln kritisch zu reflektieren. So hat er »Gut« und »Böse« erfunden, und es ist kein Zufall, dass Moralvorstellungen (Werte und Normen) in allen seinen Kulturen und Gesellschaften anzutreffen sind. Dabei sind Formen der Kooperation und gegenseitigen Hilfe – gleichsam als moralische Minimalforderungen – praktisch universell etabliert. Allerdings ist der Mensch von Natur aus ein Kleingruppenwesen und auf das Leben in anonymen Massengesellschaften seiner evolutionären Veranlagung gemäß nicht vorbereitet. Er ist sozusagen der geborene Nepotist, ausgestattet also mit der Neigung zur Vetternwirtschaft. Hier begegnen wir einem grundsätzlichen Problem: Ist eine Erweiterung der »Kleingruppenmoral« möglich? Ja, ist sie überhaupt wünschenswert, falls damit nur die Vetternwirtschaft ausgeweitet wird?
Im vorliegenden Buch gehe ich – nach einer kurzen Einleitung, die klären soll, was »Moral« eigentlich ist – zunächst auf die Fragen nach der Herkunft und dem Zweck moralischen Verhaltens ein, wobei der Verschränkung der biologischen mit der sozialen beziehungsweise soziokulturellen Evolution Rechnung getragen wird. Anschließend erörtere ich das Problem der Moral in Massengesellschaften, was zur zentralen Frage des Buches überleiten wird: Wie viel Moral verträgt der Mensch? Diese Kapitel werden konkrete (»praktische«) Beispiele vor allem aus den Bereichen Wirtschaft und Wissenschaft enthalten. Die Grundthese des Buches lautet: Unsere Moralfähigkeit ist begrenzt, jedes idealistische Werte- und Normensystem ist zum Scheitern verurteilt. Dennoch hat – wie im letzten Kapitel dargelegt wird – das »Gute« eine Chance, wenn wir unsere Gesellschaften an die Bedürfnisse des Individuums anpassen (und nicht umgekehrt). Es gilt, die uns von der Evolution sozusagen mitgegebenen Neigungen zur Kooperation und gegenseitigen Hilfe zu fördern. Wir Menschen sind keine Engel, aber auch keine geborenen Totschläger. Wenn das »Gute« in uns gegen das »Böse« obsiegen soll, müssen wir allerdings die derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unseres Lebens ändern. Einige Vorschläge dazu werden in diesem Buch ausgebreitet – vor einer Diktatur der Moral aber wird gewarnt.
Das Buch wendet sich an einen breiten Leserkreis und will als Sachbuch informieren – und provozieren. Trotz des im Grunde ernsten Themas habe ich versucht, es so unterhaltsam wie möglich zu gestalten. Ich war auch bemüht, mich mit Fachterminologie zurückzuhalten. Manche mehr oder weniger spezielle Begriffe ließen sich allerdings nicht vermeiden. Hier mag das angehängte Glossar helfen, wo ich bei nicht eindeutig definierten Begriffen auch angebe, wie ich sie verwende. Und noch eins. Ich befasse mich in diesem Buch nicht mit den verschiedenen Strömungen beziehungsweise Positionen innerhalb der Ethik, der (philosophischen) Disziplin, die von Moral handelt. Darüber gibt es viele einschlägige Bücher, von denen einige im Literaturverzeichnis angeführt sind.
 
Franz M. Wuketits
Wien, im April 2010

EINLEITUNG: VERFALL ODER UMWERTUNG ALLER WERTE?
Ach, die Werte!
HARTMUT VON HENTIG
 
 
Lassen wir gleich einmal Friedrich Nietzsche (1844-1900) zu Wort kommen, jenen »aufwieglerischen« Philosophen, der nach wie vor ebenso viel Zustimmung wie Ablehnung erntet. In der Vorrede zu seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral lesen wir Folgendes:
Wir haben eine Kritik der moralischen Werte nötig, der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske …, als Krankheit, als Mißverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch begehrt worden ist. Man nahm den Wert dieser »Werte« als gegeben, als tatsächlich …; man hat bisher nicht im entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, »den Guten« für höherwertig als »den Bösen« anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? Wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? Wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narkotikum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? … So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre (vgl. Nietzsche 1983, S. 285).
Über die Herkunft der Moral und die Bedingungen, unter denen Werte entstanden sind, ist mittlerweile viel geschrieben worden; darüber bräuchte sich Nietzsche heute keine Sorgen zu machen. Die Behauptung aber, dass Moral ihre »giftigen« Seiten hat und überhaupt große Gefahren in sich birgt, erscheint immer noch manchem wohl als eine Ungeheuerlichkeit. Doch ich bitte um Geduld; darauf wie auch auf die Herkunft der Moral wird in diesem Buch noch ausführlich einzugehen sein.
Was aber ist Moral? Moral und Sitte, so entnehmen wir einem modernen Lexikon der Ethik, »stellen den für die Daseinsweise der Menschen konstitutiven (keineswegs auf Fragen der Sexualität beschränkten) normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur und zu sich selbst dar« (Höffe 1997, S. 204). Sie schreiben uns also vor, was wir tun sollen. Heerscharen von Philosophen haben sich seit der Antike den Kopf darüber zerbrochen, wie unser »Sollen«, also das moralisch richtige Handeln, begründet werden könne. Denn es geht ja, frei nach Sokrates (469-399 v. Chr.) gesagt, um nicht weniger als um die Frage, wie man leben soll. Sokrates war der erste Moralphilosoph des Abendlandes, und sein Lebensende verleiht schon dem Anfang dieser philosophischen Disziplin – also Moralphilosophie oder Ethik – eine Symbolik des Tragischen und des Doppelbödigen. Er wurde angeklagt, dass er nicht an die staatlichen Götter glaube und die Jugend verderbe, und zum Tode durch den Giftbecher verurteilt – dem er sich aus Achtung vor dem Gesetz nicht durch Flucht entziehen wollte (!). Ist es nicht aberwitzig, das eigene Leben freiwillig einem Gesetz zu opfern, von dem man selbst nicht überzeugt ist? Aber Sokrates sah das wohl anders …
Das bringt uns auch schon zu einer Definition von Moral, wie ich sie bereits in früheren Veröffentlichungen zum Thema (siehe Literaturverzeichnis) vorgetragen habe: Moral ist die Summe aller Regeln (Normen, Wertvorstellungen), die der Aufrechterhaltung beziehungsweise Stabilisierung einer Gesellschaft oder Sozietät dienen. Bei der jeweils betreffenden Sozietät kann es sich um eine Familie oder einen Familienverband handeln, eine Religionsgemeinschaft, einen Taubenzüchterverein, eine staatlich organisierte Gesellschaft, eine Verbrecherorganisation und vieles mehr. Ja, ganz richtig – auch kriminelle Vereinigungen werden von bestimmten Normen zusammengehalten, unabhängig davon, dass sie nach außen hin unmoralische Aktivitäten entfalten. Meine Definition von Moral ist also eine rein funktionale und sagt nichts darüber aus, ob – und, wenn ja, inwieweit – bestimmte Normen und Wertvorstellungen allgemeine Akzeptanz finden sollen. Diese Definition stützt sich aber auf die einfache empirische Tatsache, dass in allen Gesellschaften – welcher Form auch immer – irgendeine Moral gilt. Gänzlich ohne (moralische) Regeln kann anscheinend keine Sozietät existieren. Doch so wie es keine Gesellschaft ohne Moral gibt, existiert auch keine Moral, die für alle Gesellschaften verbindlich wäre. Es gibt also keine absoluten Werte.
Mit dieser Aussage habe ich bei manchen Vorträgen und Diskussionen schon irritiertes Kopfschütteln oder gar Empörung ausgelöst. »Ja, woran soll ich mich denn halten?« ist die häufig aufgeworfene Frage. Diese Frage kann freilich nur jemand stellen, der davon überzeugt ist, dass Normen und Werte gleichsam höheren Ursprungs und unwandelbar seien. Dabei müsste doch leicht einzusehen sein, dass Normen und Werte ihre Geschichte haben und einem dynamischen Wandel unterliegen. Während beispielsweise noch im England des 19. Jahrhunderts die Sklaverei auch in gebildeten Bevölkerungsschichten durchaus befürwortet und nicht als unmoralisch angesehen wurde, wird heute kaum ein Brite die Versklavung von Menschen als moralisch korrekt empfinden. Aber ich gehe noch einen Schritt weiter. Selbst im Laufe eines individuellen Lebens können sich Moralvorstellungen – zum Teil sehr stark – wandeln. Und wer ein bestimmtes Alter erreicht hat und von sich behauptet, er habe immer und ausnahmslos die gegebenen moralischen Regeln befolgt, dem glaube ich persönlich nicht. Der hat wahrscheinlich die sprichwörtliche – wenn nicht gar die buchstäbliche – Leiche im Keller und will nur davon ablenken. Wer hier bereits eine Provokation vermutet, dem muss ich entgegnen, dass ich das völlig ernst meine. Der Philosoph Bernulf Kanitscheider erinnert in der autobiographischen Einleitung zu seinem Buch Die Materie und ihre Schatten an »die alle moralischen Grundsätze überschreitenden Organisationsstrategien zur Gewinnung von Lebensmitteln« (2007, S. 11) in den Hungerjahren am Ende des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit. Dass dem Fressen gegenüber der Moral Priorität zukommt, wird aber wahrscheinlich niemand, der jene Jahre erlebt – und überlebt – hat, ernsthaft bezweifeln.
Zwar sind Vorstellungen von Moral beim Menschen universell – jede Gesellschaft hat ihre, wie auch immer gearteten, Werte und Normen -, aber es dürfte keine Gesellschaft geben, in der sich ausnahmslos alle immer an die jeweiligen Moralvorstellungen halten. Anders gesagt: Überall gibt es einige »Abweichler«, die sich nicht so verhalten, wie sie sich verhalten sollten, und zwar auch dann, wenn sie nicht aus der Not heraus agieren. Die Frage muss schon erlaubt sein, ob sich der Mensch vielleicht mit manchen seiner Moralprinzipien die Latte zu hoch gelegt hat und sich damit selbst überfordert. Schließlich sind nicht alle, die die jeweiligen Wertvorstellungen und Normen verletzen, automatisch Verbrecher. Im Gegenteil, die wahren Verbrechen begehen häufig die selbsternannten Hüter der Moral. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Der heute oft beklagte Verfall von Werten ist jedenfalls zu relativieren. Man sollte vielleicht besser vom Verlust von Werten sprechen, an deren Stelle möglicherweise andere treten werden. Außerdem ist ja nicht gesagt, dass alles, was – zum Beispiel in unserer Kultur – bislang an Werten propagiert wurde, auch unsere Zustimmung finden muss. Wenn man etwa an »Vaterlandstreue« denkt, die mit dem Zwang verbunden ist, dem Land mit der Waffe zu dienen und sich unter Umständen erschießen zu lassen, dann kann man darauf wohl verzichten. Auf der anderen Seite ist heute nicht zu übersehen, dass allerorten, insbesondere in der Politik, wieder »Werte« propagiert werden. Dabei belässt man es aber meist beim Allgemeinen und sagt nicht, welche Werte wir denn überhaupt pflegen sollen. Von der Europäischen Union wird oft gesagt, dass sie eine Wertegemeinschaft sei. Noch aber konnte uns niemand schlüssig darlegen, welche Werte denn die 500 Millionen Menschen, die im politisch und wirtschaftlich konstruierten Raum der Europäischen Union leben, miteinander verbinden (oder verbinden sollen). Ein häufiger und inflationärer Gebrauch des Wertebegriffs lässt diesen zu einer bloßen Worthülse verkommen, in die alles Mögliche hineingestopft werden könnte.
Nicht zu leugnen jedoch ist, dass die Menschen im Allgemeinen ein gutes Leben anstreben; genug zu essen und zu trinken, ein stabiles Dach über dem Kopf, eine angenehme Arbeit, etwas Freizeit und ein paar Freunde haben und ansonsten in Ruhe gelassen werden wollen. Freilich, mancher kann nicht genug kriegen und ist mit dem jeweils Erreichten nie zufrieden – aber das ist schon ein anderes Thema (worauf allerdings noch zurückzukommen sein wird). Es wäre wohl zumindest für diejenigen von uns, die das Glück haben, hier im Herzen Europas (und nicht etwa im Sudan oder in Afghanistan) zu leben, vieles in Ordnung, gäbe es da nicht immer wieder Leute, die uns vorschreiben wollen, wie wir zu leben haben, und ihre Vorstellungen vom »richtigen« Leben mit Werten verbrämen, die vermeintlich höheren Ursprungs sind. Glaubt man jedoch, wie es der Philosoph Wilhelm Windelband (1848-1915) in seinen Aufsätzen und Reden tat, »das Ewige« käme »in der Gestalt des Wertbewußtseins zum Durchbruch« (1907, S. 462), dann leistet man auch schon, wenngleich ungewollt, einer »Entwertung der Werte« Vorschub. Was ist denn »das Ewige«? Welcher Werte soll man sich denn bewusst werden? So entwerten sich, wie Nietzsche meinte, gerade die obersten Werte gleichsam von selbst, gerade weil sie nur noch Werte sind. Und etwa dem Ausspruch »Ohne Werte sind wir wertlos« aus dem Munde eines österreichischen Politikers kann man den Charakter eines netten Wortspiels zubilligen, einen Inhalt vermittelt er allerdings nicht. Außerdem: Ein Mensch kann sich doch auch dann als wertvoll empfinden, wenn er sich keine Werte von Politikern einimpfen lässt. Es steht zu vermuten, dass so gut wie jedem Menschen irgendetwas wertvoll ist – sein eigenes Leben, seine Familie, sein Hund, seine Briefmarkensammlung, sein Garten oder was auch immer. Wozu soll er einer von oben diktierten Moral bedürfen?!
Moral ist ein strapazierter, ja eigentlich längst überstrapazierter Begriff. Meine Definition von Moral sollte diejenigen auf den Boden der Tatsachen zurückholen, die meinen, die eine und einzig richtige Moralvorstellung zu haben, die sich jedoch vielfach als Doppelmoral entpuppt, eine gefährliche noch dazu. Das ist ja gerade das Dilemma: Die Verteidiger bestimmter Werte treten »fremde« Werte oft mit Füßen; indem sie ihre eigenen Werte durchsetzen wollen, verletzen sie die Werte anderer. Daher wäre es ihnen natürlich sehr recht, wenn ihre Werte von einer höheren Instanz begründet wären oder sich auf eine oberste Autorität stützen könnten. Aber Werte kommen nicht von oben – sie kommen von unten. Wie das gemeint ist, möchte ich in der Folge zeigen.

1. MORAL: WOHER?
Gern dien‘ich den Freunden, doch tu‘ich es leider aus Neigung. Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
FRIEDRICH SCHILLER
 
 
Moral fiel nicht vom Himmel. Alle Moralsysteme aus Vergangenheit und Gegenwart haben sich allmählich entwickelt, und zwar entsprechend den Vorstellungen und Bedürfnissen von Menschen unter jeweils spezifischen Lebensbedingungen. Die Moralität, also die Moralfähigkeit als solche, hat noch tiefere Wurzeln und reicht weit in die Evolution unserer Gattung zurück. Nur wer diese Fähigkeit als dem Menschen von Gott eingepflanzt deutet, kann sich ihrer naturhistorischen Rekonstruktion und Erklärung entziehen – um dann einem gefährlichen moralischen Absolutismus zu verfallen, der später in diesem Buch noch ausdrücklich zurückzuweisen sein wird. Was wir heute als »Moral« bezeichnen und mit unterschiedlichen Inhalten (bestimmten Werten und Normen) füllen, ist nichts weiter als die Verlängerung und Verfeinerung von Verhaltensmechanismen, die schon in grauer Vorzeit, als noch niemand über »Gut« und »Böse« nachdachte, wirksam waren. Ja, manche Beobachtungen an Schimpansen, unseren nächsten Verwandten im Tierreich, legen nahe, dass Moralität keine menschliche Eigenart sei, sondern zumindest in bestimmten ursprünglichen Ausprägungen auch jenen Kreaturen zugestanden werden muss. Ich verweise auf das Buch Der gute Affe des holländischen, in den USA wirkenden Primatenforschers Frans de Waal.
Woher also kommt die menschliche Moral in ihren vielen Facetten und mit allen ihren Widersprüchlichkeiten? Wie ist es zu verstehen, dass sich in der Evolution, in der – worauf bereits im Vorwort hingewiesen wurde – nur das genetische Überleben, also die erfolgreiche Fortpflanzung und als Voraussetzung dafür die Sicherung von Ressourcen zählt, Verhaltens normen entwickelt haben, über die sogar noch kritisch reflektiert wird? Eine Antwort darauf soll dieses Kapitel liefern. Ich werde dabei, im Dienste der guten Lesbarkeit und der Kürze der Darstellung, um einige Vereinfachungen zwar nicht herumkommen, werde aber zugleich bemüht bleiben, die relevanten wissenschaftlichen Ergebnisse und Theorien nicht zu entstellen.

MORAL AUS DEM »KAMPF DER NATUR«?

Im Schlusskapitel seines 1859 erschienenen, wegweisenden Werkes Die Entstehung der Arten schrieb Charles Darwin (1809-1882) Folgendes: »So geht aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod also unmittelbar das Höchste hervor, das wir uns vorstellen können: die Erzeugung immer höherer und vollkommener Wesen« (1967, S. 678). Die Vorstellung, dass in der Evolution fortgesetzt »höhere« und »vollkommenere« Arten hervorgebracht werden, beruht auf der im 19. Jahrhundert beliebten Fortschrittsidee, die in der heutigen Evolutionsbiologie obsolet geworden ist. Aber das ist an dieser Stelle gar nicht das Entscheidende. (Später, in Kapitel 3, werden wir noch kurz darauf zurückkommen.) Bemerkenswert ist, dass Darwin den »Kampf der Natur« als maßgebliche Triebkraft der Evolution gesehen und auch für das Auftreten des Menschen verantwortlich gemacht hat. Und in seinem zwölf Jahre nach dem »Artenbuch« veröffentlichten Werk Die Abstammung des Menschen führte er schließlich – mit der ihm eigenen Konsequenz – selbst die den Menschen auszeichnenden seelischen, geistigen, sozialen und moralischen (!) Fähigkeiten auf die Evolution durch natürliche Auslese oder Selektion zurück.
Die Metapher »Kampf ums Dasein« wurde oft und gründlich missverstanden. Man hätte den englischen Ausdruck struggle erst gar nicht mit »Kampf« übersetzen dürfen. Richtiger ist vielmehr »Wettbewerb«. Darwin verwies ausdrücklich auf Pflanzen, die ja – in Ermangelung von Zähnen, Hörnern und Klauen und aufgrund ihrer festsitzenden Lebensweise – nicht miteinander kämpfen können, trotzdem aber im Wettbewerb miteinander stehen. Wenn von zwei Nussbäumen einer längere Wurzeln und ein stärker entfaltetes Laubwerk besitzt, dann wird er dem anderen Feuchtigkeit und Licht wegnehmen. Das ist einsichtig. Zwar kommen wirkliche Kämpfe (zum Beispiel um Reviere) in der Natur durchaus vor, aber sie sind nicht das, was Darwin gemeint hat. Er meinte mit dem Wettbewerb einen gleichsam zwingend wirkenden Automatismus, der aus der Tatsache folgt, dass zwar alle überleben wollen, die Ressourcen aber knapp bemessen sind. Im Übrigen bezieht sich der Wettbewerb ums Dasein immer auf die Individuen derselben Art. So ist der Konkurrent eines Zebras nicht ein Löwe, der gelegentlich ein Exemplar dieser Spezies tötet und frisst – sondern ein anderes Zebra. Auch das ist einsichtig, denn es sind stets Artgenossen, die dieselben Lebensansprüche anmelden und sich daher im Wettbewerb um Raum, Nahrung und Geschlechtspartner fortgesetzt in die Quere kommen.
Nicht einsehen wird man aber, dass all das etwas mit Moral zu tun haben könnte. Und ich beeile mich auch zu betonen, dass die Natur in der Tat moralisch völlig neutral ist, dass »Gut« und »Böse« in ihr nicht vorkommen. Allenfalls erscheint uns, die wir wertende Lebewesen sind, manches am Verhalten von Tieren als gut oder böse. Aber das sind Projektionen, die zwar Einiges über uns, aber nichts über die uns umgebende Natur aussagen. Wenn man allerdings zur Kenntnis nimmt, dass auch der Mensch, wie alle anderen Arten, mit seinesgleichen im Wettbewerb steht, dann ist die Frage berechtigt, ob nicht gerade dieser Wettbewerb an der Ausbildung seiner Moralfähigkeit beteiligt war. Denn anders als Löwen oder Zebras stellen wir Menschen uns zumindest gelegentlich die Frage, ob wir denn alles tun dürfen, was wir tun können. In der Natur erlaubt der Wettbewerb ums Dasein alle Tricks, auch die tödliche Beschädigung von Artgenossen. Waren die Vertreter der klassischen Verhaltensforschung – allen voran Konrad Lorenz (1903-1989) – noch davon überzeugt, dass das Verhalten von Individuen dem Wohl ihrer Art dient, wissen wir es inzwischen besser. Aus der Sicht der modernen Soziobiologie steht in der Evolution nicht die Arterhaltung im Vordergrund, sondern das genetische Überleben des Individuums. Das heißt, es geht um die erfolgreiche Weitergabe der eigenen Gene an die nächste Generation. Wenn mithin gelegentlich zum Beispiel beobachtet werden kann, dass ein Löwe Löwenbabys tötet, die nicht sein eigener Nachwuchs sind, um deren Mutter für sich als Fortpflanzungsgehilfin zu gewinnen, dann handelt es sich dabei keineswegs um eine Anomalie. Es ist vielmehr für den Löwen eine wirkungsvolle Strategie, möglichst ohne Umschweife eigene Nachkommen zu erzeugen.
In Anbetracht der Tatsache, dass in der Natur nur das eigene Überleben zählt, mag es als Unding erscheinen, die Wurzeln der Moral in der Natur aufspüren zu wollen, zumal die Natur, wie gesagt, keine Moral kennt. Denjenigen, die Moral mit Evolution und Selektion auch nur lose in Verbindung gebracht haben, wurde ein kruder Biologismus vorgeworfen, eine Reduktion der Moral auf Naturprinzipien, die letztlich nur Unmoral fördern könnten. Und wo Moral direkt aus der Natur abgeleitet wurde, wurde sie zu einem »Recht des Stärkeren« pervertiert, zu einer Ideologie mit verheerenden Konsequenzen (Stichwort: Sozialdarwinismus). Und dennoch: Moral kann nicht aus dem Nichts gekommen sein, sie muss sich, analog zu anderen menschlichen Verhaltenseigenschaften, schrittweise entwickelt haben. Die menschliche Moralfähigkeit beruht auf Verhaltensweisen, die mit (bewusster) Moral gewiss nichts zu tun haben, in ihrer Fortentwicklung über lange Zeiträume aber schließlich zum Fundament der Moral zusammengewachsen sind. Ich habe bereits in meinem Buch Warum uns das Böse fasziniert (und auch noch in anderen Veröffentlichungen zum Thema) hervorgehoben, dass
➔ sich das soziale Verhalten des Menschen (einschließlich dessen, was wir jeweils als moralisches oder unmoralisches Verhalten bezeichnen) in der Evolution seiner Gattung entwickelt hat, in seiner Natur verwurzelt ist und daher
➔ Moralsysteme, auch wenn sie später eine Eigendynamik entwickelt haben und sogar gegen die menschliche Natur gerichtet sein können, »natürlich gewachsen« sind.
Die folgenden Ausführungen mögen diese Aussagen näher erläutern und begründen, wobei es lohnend erscheint, mit einem kleinen Ausflug ins Tierreich zu beginnen.

GESELLIGKEIT ALS TRIEBKRAFT DER MORAL

Viele Tierarten leben gesellig. Ihre Individuen schließen sich zu kleineren oder auch größeren Gruppen zusammen, sei es vorübergehend oder dauerhaft. Da gibt es Affenhorden, Wolfsrudel, Herden von Huftieren, Vogelschwärme, Bienenstöcke und vieles mehr. Oft beobachtet man sogar Tieransammlungen, die aus Individuen verschiedener Arten bestehen, zum Beispiel Antilopen und Zebras in einer Herde oder Hyänen und Geier an derselben Futterquelle. Dabei handelt es sich allerdings nicht um Gruppen im engeren Sinn. Ein äußerer Faktor, zum Beispiel die plötzliche Verfügbarkeit von Nahrung, bringt verschiedene Tiere vorübergehend zusammen, ohne dass sie wirklich etwas miteinander zu tun haben wollen. (Geier und Hyänen wetteifern um dieselben Brocken Nahrung und versuchen sich gegenseitig zu vertreiben.) Viel interessanter – und für unser Thema bedeutsam – sind die im eigentlichen Sinn gesellig lebenden Tiere, beispielsweise Wölfe.
Ein typisches Wolfsrudel besteht aus zehn bis dreizehn Individuen und hat ein eigenes Jagdrevier von hundert bis tausend Quadratkilometern Fläche. Sowohl unter den männlichen als auch unter den weiblichen Individuen herrscht eine Rangordnung, nur das jeweils ranghöchste Männchen und das jeweils ranghöchste Weibchen paaren sich und zeugen Nachkommen. Wölfe jagen im Kollektiv und erbeuten Großtiere. Bei kleinerer Beute oder in Krisenzeiten haben ranghohe Erwachsene und Welpen primären Anspruch auf Futter. Offensichtlich bringt den Wölfen das Leben in einer Gruppe bestimmte Vorteile. Insbesondere verhilft ihnen das gemeinschaftliche Jagen im Allgemeinen zu relativ großer Beute. Ein einzelner Wolf könnte etwa einen Elch kaum erlegen, in der Gruppe aber gelingt das. Der »einsame Wolf« ist daher auch in unserer Redensart eine eher bedauernswerte Erscheinung.