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JULIE KAGAWA

Unsterblich

TOR DER NACHT

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Charlotte Lungstraß

 

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Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Eternity Cure –
Blood of Eden 2
bei Harlequin Teen, Ontario
Copyright © 2013 by Julie Kagawa
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Sabine Thiele
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung
eines Motivs von © shutterstock/Ryger
Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
ISBN: 978-3-641-12271-3
V003
www.heyne-fliegt.de

 

Für Natashya, weil sie mich dazu ermutigt hat,

meine Lieblinge zu töten.

Und für Nick, für alles andere.

 

 

ERSTER TEIL – Jägerin

 

1

Sobald ich den Raum betrat, roch ich das Blut.

Mit mir fegte ein kalter Windstoß herein und ließ Schneeflocken um meinen schwarzen Mantel tanzen, die sich auf meinen Haaren und meiner Kleidung niederließen, während ich die Tür wieder zuschob. Drinnen war es eng und schmutzig, einige morsche Tische standen herum, und in den Ecken waren alte Metallfässer aufgestellt worden, aus denen dicker Qualm bis zur Decke aufstieg, wo er dichte Wolken bildete. Dort drehte sich träge ein uralter Ventilator, dessen Blätter entweder kaputt waren oder ganz fehlten, sodass er kaum dazu beitrug, die stickige Luft zu erfrischen.

Als ich durch die Tür trat, richteten sich sämtliche Blicke auf mich und ließen mich nicht mehr los. Harte, gefährliche, zerstörte Gesichter beobachteten aufmerksam, wie ich mir einen Weg zwischen den Tischen hindurch suchte; sie waren wie wilde Hunde, die Blut wittern. Ohne mein Publikum zu beachten, ging ich gelassen über die ächzenden Holzbohlen. Bei jedem Schritt spürte ich alte Nägel und Glasscherben unter meinen Sohlen. Ich musste nicht extra atmen, um zu wissen, dass die Luft nach Schweiß, Alkohol und menschlichen Ausdünstungen stank.

Und Blut. Sein Geruch hing in den Wänden und im Boden, es durchtränkte die modrigen Tische und klebte in dunklen Flecken auf den Holzdielen. Heiß und berauschend floss es durch die Adern jedes Einzelnen hier. Ich hörte, wie sich bei einigen der Herzschlag beschleunigte, während ich Richtung Bar ging, spürte, wie sich Lust und Gier in ihnen regten, aber auch leise Angst, ein leichtes Unbehagen. Zumindest ein paar von ihnen waren also noch nüchtern genug, um die Wahrheit zu erkennen.

Hinter dem Tresen stand ein angegrauter Riese, über dessen Kehle sich ein dickes Geflecht aus Narbengewebe zog. Es erstreckte sich vom Hals bis zum linken Mundwinkel, der dadurch in einer verzerrten Grimasse erstarrt war. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete er, wie ich mich auf einem der schmutzigen Barhocker niederließ und mich mit beiden Armen auf den ziemlich ramponierten Tresen stützte. Kurz huschte sein Blick zu dem Schwertgriff, der hinter meinem Rücken aufragte, und eines seiner Lider zuckte.

»Tut mir leid, aber die Art von Drink, nach der Sie suchen, führen wir nicht«, sagte er leise und ließ die Hände unter die Bar gleiten. Mir war klar, dass sie nicht leer sein würden, wenn er sie wieder hervorzog. Wahrscheinlich ein Gewehr, überlegte ich. Oder vielleicht ein Baseballschläger. »Zumindest nicht frisch gezapft.«

Ohne aufzublicken, lächelte ich. »Sie wissen also, was ich bin.«

»War ja nicht schwer zu erraten. Wenn ein hübsches Mädchen sich an solche Orte wagt, hat es entweder Todessehnsucht oder ist bereits tot.« Er schnaubte abfällig und ließ den Blick über seine Gäste schweifen. Selbst jetzt spürte ich noch ihre verstohlenen Blicke im Rücken. »Ich weiß, was Sie vorhaben, und ich werde Sie nicht daran hindern. Diese Idioten wird niemand vermissen. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, aber demolieren Sie dabei nicht meine Bar, verstanden?«

»Eigentlich bin ich auf der Suche nach jemandem«, erklärte ich schnell, da ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Die Hunde hinter mir regten sich bereits. »Einer wie ich, kahlköpfig, groß, total vernarbtes Gesicht.« Erst jetzt sah ich auf und begegnete seinem reglosen Blick. »Ist hier so jemand aufgetaucht?«

An seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel. Der Puls unter dem schmierigen Hemd beschleunigte sich, und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Eine Sekunde lang schien er versucht zu sein, das Gewehr oder was auch immer er unter dem Tresen versteckte hervorzuziehen. Ich setzte eine bewusst neutrale und möglichst harmlose Miene auf und behielt beide Hände auf der Bar.

»Sie haben ihn also gesehen«, half ich ihm vorsichtig auf die Sprünge. Der Mann schüttelte sich kurz, dann starrte er mich ausdruckslos an.

»Nein.« Die Antwort schien er sich mühsam abringen zu müssen. »Ich habe ihn nicht gesehen. Aber …« Mit einem schnellen Blick zu den Männern hinter mir schien er abschätzen zu wollen, wie viel Zeit wir noch hatten. Dann schüttelte er den Kopf. »Vor ungefähr einem Monat ist hier ein Fremder durchgekommen. Niemand hat gesehen, wie er kam, niemand hat gesehen, wie er ging. Aber wir haben entdeckt, was er zurückgelassen hat.«

»Zurückgelassen?«

»Rickson und seine Jungs. In ihrem eigenen Haus. Überall verteilt. Sie haben gesagt, es wären so viele Leichenteile gewesen, dass sie nicht einmal alle gefunden haben.«

Unwillkürlich biss ich mir auf die Lippe. »Hat jemand gesehen, wer das getan hat?«

»Ricksons Frau. Sie hat überlebt. Zumindest, bis sie sich drei Tage später das Hirn weggeblasen hat. Aber sie meinte, der Killer sei groß gewesen, ein bleicher Mann mit einer vernarbten Teufelsfratze.«

»War jemand bei ihm?«

Stirnrunzelnd schüttelte der Barkeeper den Kopf. »Nein, laut ihrer Aussage war er allein. Aber er hatte einen großen Sack dabei, sah wohl aus wie ein Leichensack. Mehr haben wir auch nicht aus ihr rausbekommen. Sie hat sich nicht besonders klar ausgedrückt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Nickend lehnte ich mich zurück, obwohl mir bei dem Wort Leichensack ganz anders geworden war. Wenigstens komme ich immer näher. »Danke«, murmelte ich und rutschte vom Barhocker. »Ich gehe dann mal.«

Da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Oh nein, du gehst bestimmt noch nicht, Kleines«, hauchte jemand. Heißer, stinkender Atem streifte mein Ohr. Dicke Finger schlossen sich um mein Handgelenk, so fest, dass ich blaue Flecken bekommen hätte, wenn das noch möglich gewesen wäre. »Verdammt kalt da draußen. Komm rüber und wärme uns ein bisschen.«

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Na endlich. Hast ja ziemlich lange gebraucht.

Mein Blick wanderte zum Barkeeper. Der sah mich kurz an, dann wandte er sich demonstrativ ab und ging Richtung Hinterzimmer. Dem Mann neben mir schien das nicht aufzufallen, er ließ den Arm über meinen Rücken gleiten, packte mich an der Taille und wollte mich mit sich fortziehen. Als ich mich nicht rührte, runzelte er irritiert die Stirn, doch er war zu betrunken, um zu begreifen, was gerade passierte.

Ich wartete ab, bis der Barkeeper verschwunden und die Schwingtür hinter ihm zugefallen war, dann drehte ich mich zu dem Kerl um.

Der zog mich quasi mit den Augen aus, während der Alkoholgestank in wahren Wolken von ihm aufstieg. »Ganz recht, Kleines. Das kannst du alles haben.« Hinter ihm erhoben sich noch weitere Gäste von ihren Stühlen. Entweder wollten sie den Spaß nicht verpassen, oder sie waren der Meinung, dass sie mich gemeinsam schon überwältigen könnten. Die restlichen Männer verschanzten sich angespannt und wachsam hinter ihren Gläsern. Sie stanken nach Angst.

»Komm schon, du kleines Flittchen«, grunzte der Kerl neben mir. In seinem brutalen Gesicht spiegelte sich die Gier. »Los geht’s. Ich kann die ganze Nacht.«

Ich grinste breit. »Tatsächlich?«, erwiderte ich leise.

Dann stürzte ich mich brüllend auf ihn und schlug ihm meine Fangzähne in den Hals.

Als der Barkeeper zurückkam, war ich schon weg. Er würde die Körper derjenigen, die dumm genug zum Bleiben und Kämpfen gewesen waren, dort vorfinden, wo sie zu Boden gegangen waren – einige zerfetzt, aber die meisten noch lebendig. Ich hatte bekommen, was ich gesucht hatte. Der Hunger war gestillt, und es war besser, dass es hier in diesem Außenposten voll Krimineller passiert war als irgendwo anders. Besser solche Typen als eine unschuldige Familie oder irgendein altes Ehepaar, das sich in einer einsamen, verfallenen Hütte gegenseitig Wärme spendete. Ja, ich war ein Monster, das tötete und darauf aus war, Menschen das Leben zu nehmen. Dieser Tatsache konnte ich mich nicht entziehen, aber wenigstens konnte ich mir aussuchen, wessen Leben ich beendete.

Draußen schneite es inzwischen wieder. Die dicken Flocken hängten sich an meine Wimpern und Wangen und verfingen sich in meinen glatten schwarzen Haaren, doch ich spürte sie nicht. Jemandem, der bereits tot war, konnte die eisige Kälte nichts anhaben.

Ich schüttelte kurz mein Katana-Schwert, sodass sich auf dem Boden eine blutrote Linie ausbreitete. Anschließend schob ich die Waffe in die Scheide auf meinem Rücken und setzte mich in Bewegung. Meine Stiefel knirschten in dem gefrorenen Schlamm. Aus den Hütten aus Holz und Well­blech ringsum kam kein Laut, lediglich dunkler Rauch drang aus den Fenstern und den improvisierten Schornsteinen. Nachts war niemand draußen unterwegs: Die Menschen blieben alle in ihren Behausungen, drängten sich um ihre Stahlfässer und Flaschen und hielten die Kälte mit Feuer und Alkohol auf Abstand. So würde auch niemand den einsamen Teenager in dem langen schwarzen Mantel bemerken, der zwischen ihren Hütten herumschlich. Genau wie der andere Besucher war ich gekommen, hatte mir genommen, was ich brauchte, und verschwand nun wieder in der Dunkelheit. Und hinterließ ein Gemetzel.

Knapp hundert Meter weiter ragte eine dunkle Mauer aus rostigen Stahlplatten und Stacheldraht auf – eine un­ebene Konstruktion mit Lücken und Löchern, die immer wieder ausgebessert und dann irgendwann vergessen worden war. Eine schwächliche Barriere, um die Monster fernzuhalten, die jenseits der Mauer lauerten. Wenn das hier so weiterging, würde dieser kleine Außenposten über kurz oder lang von der Erdoberfläche verschwinden.

Nicht mein Problem.

Ich sprang auf das Dach einer Hütte, die sich gefährlich nah an die Stahlwand neigte, dann über die Mauer hinweg, und landete leichtfüßig auf der anderen Seite. Nachdem ich mich aufgerichtet hatte, spähte ich über die steinige Anhöhe hinweg zur Straße hinunter, auf der ich hergekommen war. Unter dem frischen Schnee war sie kaum noch auszumachen. Selbst meine Fußspuren, die aus östlicher Richtung kamen, waren unter der weißen Decke verschwunden.

Er war hier, überlegte ich, während mir der Wind ins Gesicht schlug, an meinen Haaren und dem Mantel zerrte. Vor knapp einem Monat. Ich komme immer näher. Langsam hole ich auf.

Ich ließ mich von der Klippe fallen, segelte mit wild flatterndem Mantel sechs Meter in die Tiefe und landete am Straßenrand. Mit einem leisen Ächzen federte ich den Aufprall ab. Als ich den rauen, löchrigen Beton betrat, spürte ich, wie er unter meinen Füßen zerbröckelte. Ich lief bis zu einer Stelle, an der sich die Straße teilte und in zwei unterschiedliche Richtungen weiterführte. Der eine Weg beschrieb eine weite Kurve und zog sich kreisförmig um den Außenposten herum, bevor er Richtung Süden führte. Der andere ging nach Osten und hielt auf die Sonne zu, die dort bald aufgehen würde.

Ich starrte erst in die eine Richtung, dann in die andere, und wartete ab. Und genau wie an jeder anderen Kreuzung, auf die ich bisher gestoßen war, kam es wieder: dieses leichte Ziehen, das mich dazu drängte, in nordöstlicher Richtung weiterzugehen. Es war mehr als eine Ahnung, stärker als ein Bauchgefühl. Auch wenn ich es mir nicht ganz erklären konnte, wusste ich so, welcher Weg mich zu meinem Schöpfer bringen würde. Blut spricht zu Blut. Die Toten, auf die ich während meiner Reise gestoßen war, wie etwa die glücklose Familie in dieser Siedlung, bestätigten das nur. Er bewegte sich schnell, aber ich holte ihn nach und nach ein, langsam aber stetig. Ewig konnte er sich nicht vor mir verstecken.

Ich bin auf dem Weg zu dir, Kanin.

Es blieben mir noch ein paar Stunden bis zum Morgengrauen. Bis dahin konnte ich noch eine ziemliche Strecke zurücklegen, also brach ich wieder auf und folgte der Straße zu meinem unbekannten Ziel. Auf der Jagd nach einem Schatten.

Immer in dem Wissen, dass uns die Zeit davonlief.

Den Rest der Nacht marschierte ich stur weiter, immer den eisigen Wind im Gesicht, der meine sowieso kalte Haut auch nicht weiter abkühlen konnte. Vor mir zog sich die stille, leere Straße dahin. Nichts rührte sich in der Dunkelheit. Ich kam an den Überresten unübersichtlicher Wohnviertel vorbei, deren Straßen verlassen und zugewuchert waren und deren Gebäude unter der Last des Schnees und des Alters zusammenzubrechen drohten. Seit der Seuche, durch die fast die gesamte Menschheit ausgelöscht worden war, und dem anschließenden Ausbruch des Verseuchten­virus war von den meisten Städten nicht mehr geblieben als leere Hüllen. Hin und wieder war ich auf vereinzelte Siedlungen gestoßen, in denen die Menschen trotz der stän­digen Bedrohung durch die Verseuchten oder mögliche Übergriffe ihrer eigenen Artgenossen in Freiheit lebten. Doch der Großteil der Bevölkerung fristete sein Dasein in den Vampirstädten, den großen, von Mauern umschlossenen Gebieten, in denen der Hofstaat im Austausch gegen Blut und Freiheit Nahrung und »Sicherheit« garantierte. In Wirklichkeit waren die Menschen in den Vampirstädten nichts anderes als Vieh, aber das war nun einmal der Preis, den die Vampire für ihren Schutz verlangten. Zumindest sollte man das glauben. Monster gab es auf beiden Seiten der Mauern, aber die Verseuchten ließen wenigstens keinen Zweifel daran, dass sie einen fressen wollten. In einer Vampirstadt wusste man im Prinzip nie, wie viel Zeit einem noch blieb, bis die Killer, die einem lächelnd den Kopf tätschelten, ihr wahres Gesicht zeigten.

Ich musste es wissen, immerhin war ich in einer solchen Stadt geboren worden.

Immer weiter folgte ich den Windungen der Straße durch die verschneiten Wälder, die nun ehemals weitläufige Städte und Vororte umschlossen. Irgendwann wurde der nachtschwarze Himmel grau, und Trägheit breitete sich in meinem Körper aus. Ein Stück abseits des Weges fand ich ein verwittertes Bauernhaus, das fast völlig von Dornbüschen und Unkraut überwuchert war. Sie drangen durch die Bodenbretter der Veranda, rankten sich über das Dach und hüllten die Mauern ein, doch das Haus schien ansonsten noch einigermaßen intakt zu sein. Vorsichtig schlich ich die Stufen zur Veranda hinauf, schob mit dem Fuß die Tür auf und ging hinein. Kleine Nager huschten in die dunklen Ecken, als mit mir eine Schneewolke hereinwehte und sich über den Boden verteilte. Ich betrachtete das spärliche Mobiliar, das zwar voller Staub und Spinnweben war, ansonsten aber seltsamerweise unberührt zu sein schien.

Vor mir an der Wand stand ein altes gelbes Sofa. An einer Seite war es angenagt, sodass die Polsterung herausquoll. In mir stiegen Erinnerungen an eine Szene in einem ganz ähnlichen Haus auf, ebenfalls leer und verlassen.

Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihn dort sitzen, erschöpft zusammengesunken mit den Ellbogen auf den Knien. Seine hellen Haare schimmerten in der Dunkelheit. Ich spürte wieder seine Wärme auf meiner Haut, sah diese durchdringenden blauen Augen auf mich gerichtet, wenn er versuchte, aus mir schlau zu werden, fühlte, wie sich meine Brust schmerzhaft zusammenzog, als ich mich abwenden und ihn zurücklassen musste.

Stirnrunzelnd ließ ich mich auf das Sofa fallen und fuhr mir mit der Hand über die Augen, um die Erinnerungen zu vertreiben und die letzten Eisreste von meinen Wimpern zu streichen. Ich durfte jetzt nicht an ihn denken. Er war zusammen mit den anderen in Eden. Er war in Sicherheit – Kanin nicht.

Ich lehnte mich zurück und stützte den Kopf auf die Rückenlehne. Kanin. Mein Schöpfer, der Vampir, der mich verwandelt hatte, der mir das Leben gerettet und alles beigebracht hatte, was ich heute wusste. Nur auf ihn musste ich mich nun konzentrieren.

Allein beim Gedanken an meinen Schöpfer runzelte ich schon wieder die Stirn. Ich verdankte diesem Vampir mein Leben, eine Schuld, die ich unbedingt begleichen wollte, auch wenn ich ihn nie richtig verstehen würde. Kanin war von Anfang an ein großes Rätsel für mich gewesen, schon seit jener schicksalhaften Nacht, als ich bei strömendem Regen vor den Mauern meiner Heimatstadt von Verseuchten angegriffen worden war. Ich hatte im Sterben gelegen, als wie aus dem Nichts dieser Fremde auftauchte und anbot, mich zu retten. Er stellte mich vor die Wahl: sterben oder … zu einem Monster werden.

Logischerweise hatte ich mich für das Leben entschieden. Doch auch danach hatte Kanin mich nicht allein gelassen. Er war bei mir geblieben und hatte mir gezeigt, was es hieß, ein Vampir zu sein, hatte sichergestellt, dass ich genau wusste, wofür ich mich da entschieden hatte. Ohne ihn hätte ich diese ersten Wochen wahrscheinlich nicht überlebt.

Doch Kanin hatte so einige Geheimnisse, und eines Nachts holte uns das dunkelste von ihnen ein, und zwar in Gestalt von Sarren, einem wahnsinnigen Vampir auf Rachefeldzug. Der gefährliche, durchtriebene und vollkommen geisteskranke Sarren hatte uns in dem verborgenen Labor aufgespürt, das wir als Versteck benutzten, sodass wir gezwungen waren zu fliehen. In dem darauffolgenden Chaos wurden Kanin und ich getrennt, und mein Mentor verschwand ebenso unvermittelt, wie er aufgetaucht war. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Doch dann kamen die Träume.

Ich stand mit einem lauten Quietschen der Sofasprung­federn auf und ging durch einen muffigen Flur, bis ich das Zimmer ganz am Ende erreichte. Offenbar war es ein Schlafzimmer gewesen, und das Doppelbett in der Ecke stand sogar so weit vom Fenster entfernt, dass eventuelle Sonnenstrahlen es nicht erreichen konnten.

Nur um sicherzugehen hängte ich eine alte Decke vor das Fenster und tauchte den Raum so zusätzlich in tiefe Schatten. Draußen fielen immer noch winzige Flocken vom dunklen, wolkenverhangenen Himmel, doch falls es aufklaren sollte, wollte ich kein Risiko eingehen. Anschließend legte ich mich auf das Bett, mein Schwert immer in Reichweite, starrte an die Decke und wartete darauf, dass der Schlaf mich holen kam.

Vampire träumen nicht. Technisch gesehen sind wir tot, und wenn wir schlafen, sinken wir in die endlose Schwärze eines Leichnams. Meine »Träume« handelten immer von Kanin, der offenbar in Schwierigkeiten steckte. Dabei blickte ich durch seine Augen und spürte alles, was er empfand. Denn wenn man extremen Stress, Schmerz oder starke Emotionen durchlebt, spricht das Blut zum Blute, sodass ich fühlen konnte, was mein Schöpfer durchlitt – Höllenqualen. Sarren hatte ihn gefunden. Und nun nahm er Rache.

Beim Gedanken an den letzten Traum kniff ich unwillkürlich die Augen zusammen.

Nach all den Schreien ist meine Kehle wund.

Letzte Nacht hat er sich nicht mehr zurückgehalten. Zuvor hat er nur mit mir gespielt, lediglich einen kleinen Teil seiner kranken Grausamkeit gezeigt. Doch in der vergangenen Nacht kam der wahre Dämon zum Vorschein. Er wollte reden, wollte mich zum Reden bringen, doch diesen Gefallen habe ich ihm nicht getan. Dann hat er mich stattdessen zum Schreien gebracht. Irgendwann habe ich auf meinen Körper hinabgeblickt, der wie ein Stück zerfetztes Fleisch von der Decke hing, und mich gefragt, wie es sein kann, dass ich noch lebe. Niemals zuvor hatte ich mich so sehr nach dem Tod gesehnt wie in diesem Augenblick. Die Hölle konnte nicht schlimmer sein als das. Es ist ein Beweis für Sarrens Geschick – oder vielleicht auch nur für seinen Wahnsinn –, dass es ihm gelang, mich am Leben zu halten, während ich alles daransetzte, endlich zu sterben.

Heute Nacht ist er allerdings erstaunlich zurückhaltend. Wie in den unzähligen Nächten zuvor erwachte ich und hing noch immer an den Handgelenken gefesselt von der Decke. Gleichzeitig bereitete ich mich mental auf die Qualen vor, die bald kommen würden. Der Hunger tobt in mir wie ein lebendiges Wesen, er verzehrt mich und ist allein schon kaum zu ertragen. In letzter Zeit sehe ich überall Blut, es tropft von der Decke und quillt unter der Tür hindurch. Erlösung, die sich mir stets entzieht.

»Es hat keinen Zweck.«

Ein zischendes Flüstern in der Dunkelheit. Sarren steht einen guten Meter von mir entfernt und beobachtet mich ausdruckslos. Wie ein Netz ziehen sich die Narben über sein bleiches Gesicht. Letzte Nacht lag ein fiebriger Glanz in seinen Augen, während er mich beschimpfte, schrie und immer wieder forderte, ich solle seine Frage beantworten. Doch der tote, leere Gesichtsausdruck, mit dem er mich heute mustert, beunruhigt mich mehr als alles andere.

»Es hat keinen Zweck«, flüstert er wieder und schüttelt den Kopf. »Du bist hier, direkt vor mir, und doch spüre ich gar nichts.« Er gleitet heran, streicht mit seinen langen, knochigen Fingern über meinen Hals und sieht mich fragend an. Mir fehlt die Kraft, um zurückzuzucken. »Deine Schreie, welch glorreiches Lied. Jahrelang habe ich mir ausgemalt, wie sie wohl klingen würden. Dein Blut, dein Fleisch, deine Knochen – alles habe ich mir vorgestellt. Wie ich sie breche, sie koste.« Sein Finger wandert zu meiner Kehle. »Du warst ganz mein, ich konnte dich aufbrechen, abschälen, sehen, welch verdorbene Seele sich unter dieser Hülle aus Fleisch und Blut verbirgt. Es sollte ein prachtvolles Requiem werden.« Als er einen Schritt zurücktritt, wirkt er fast schon verzweifelt. »Aber ich sehe nichts. Und ich spüre … nichts. Warum?« Er wirbelt herum und geht zu dem Tisch hinüber, auf dem Dutzende scharfer Instrumente bereitliegen. Sie funkeln in der Dunkelheit. »Mache ich etwas falsch?«, murmelt er, während er mit der Fingerspitze über jedes einzelne von ihnen streicht. »Soll er nicht bezahlen für das, was er getan hat?«

Ich schließe die Augen. Was er getan hat. Sarren hat jedes Recht, mich zu hassen. Was ich ihm angetan habe, was ich zu verantworten habe – ich verdiene jede Folter, der er mich aussetzen wird. Doch dadurch wird es keine Wiedergutmachung geben. Es wird nicht aufhalten, was ich in Gang gesetzt habe.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, dreht Sarren sich zu mir um, und plötzlich kehrt das Funkeln in seine Augen zurück. Seine brennende Intensität verrät den Wahnsinn und die Genialität dahinter, und zum ersten Mal durchdringt eine leise Angst die betäubenden Schmerzen.

»Nein«, haucht er gedehnt, fast schon benommen, so als hätte er nun alles begriffen. »Nein, jetzt verstehe ich. Ich erkenne, was ich tun muss. Nicht du bist der Ursprung dieser Verderbtheit. Du warst lediglich ihr Vorbote. Die ganze Welt strotzt vor Fäulnis, Verfall und Dreck. Doch das werden wir in Ordnung bringen, alter Freund. Oh ja, wir werden das zurechtrücken. Und zwar gemeinsam.«

Seine Hand wandert einmal über den gesamten Tisch, bevor er in der hintersten Ecke nach etwas greift. Dieser Gegenstand funkelt nicht wie die anderen – kein auf Hochglanz poliertes Metall. Er ist lang, aus Holz und endet in einer grob zugeschnitzten Spitze.

Ich fange an zu zittern, sämtliche Instinkte befehlen mir zurückzuweichen, möglichst viel Abstand zwischen mich und diese hölzerne Spitze zu bringen. Aber ich kann mich nicht bewegen, und Sarren kommt langsam auf mich zu, den Pflock wie ein Kruzifix vor sich ausgestreckt. Er lächelt wieder, ein dämonisches Grinsen verzerrt das zerstörte Gesicht und lässt seine Fangzähne aufblitzen.

»Noch kann ich dich nicht töten«, verkündet er und tippt mit der Spitze des Holzpflocks gegen meine Brust, direkt über meinem Herzen. »Nein, noch nicht. Das würde das Ende verderben, und ich habe so ein wundervolles Lied vor Augen. Oh ja, es wird grandios werden. Und du … du wirst das Instrument sein, auf dem ich diese Symphonie komponiere.« Er macht einen Schritt nach vorn und schiebt dabei die Pflockspitze in meinen Brustkorb, ganz langsam. Während sie meine Haut durchstößt, dreht er sie genüsslich. Ich werfe den Kopf zurück, beiße aber die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Sarren fährt fort: »Nicht doch, alter Freund. Der Tod ist immer noch zu gut für dich. Wir legen dich jetzt nur für eine Weile schlafen.« Immer tiefer gleitet der Pflock in mein Fleisch, zerteilt die Muskeln und schabt über mein Brustbein, näher und näher an mein Herz heran. Das Holz verwandelt sich in eine Feuerzunge und verbrennt mich von innen heraus. Mein Körper verfällt in Krämpfe und stellt langsam den Dienst ein. Am Rand meines Gesichtsfeldes lauert die Dunkelheit – die Tiefenstarre zerrt an mir, das letzte Mittel zur Selbsterhaltung. Sarren lächelt.

»Schlaf nur, alter Freund«, flüstert er. Sein vernarbtes Gesicht verschwimmt, als die Dunkelheit mir die Sicht raubt. »Aber nicht lange. Ich habe etwas ganz Besonderes ­geplant.« Sein hohles Kichern verfolgt mich in die Schwärze hinein. »Das wirst du nicht verpassen wollen.«

An diesem Punkt war die Vision abgebrochen. Und seitdem hatte ich keine Träume mehr gehabt.

Schwerfällig verlagerte ich mein Gewicht, zog das Schwert an die Brust und dachte nach. Ich hatte Sarren bis zu einem Ort verfolgt, an dem er mit Sicherheit gewesen war: einem heruntergekommenen Haus in einem verlassenen Vorort, wo mich eine lange Treppe in den Keller hinuntergeführt hatte. Sobald ich die Tür geöffnet hatte, hatte mich schlagartig der Geruch von Kanins Blut überfallen. Es war einfach überall gewesen: an den Wänden, an den Ketten, die von der Decke hingen, an den Instrumenten auf dem Tisch. Direkt unter den Metallfesseln war der Boden dunkel verschmiert gewesen. Fast hätte sich mir der Magen umgedreht. Es schien völlig ausgeschlossen zu sein, dass Kanin das überlebt hatte, dass überhaupt irgendetwas lebend aus diesem makabren Verlies entkommen könnte. Doch ich musste daran glauben, dass er noch am Leben und Sarren noch nicht mit ihm fertig war.

Diese Ahnung hatte sich bestätigt, als ich mich weiter umsah und in einem Schrank im Erdgeschoss die steifen, halb verwesten Leichen einiger Menschen entdeckte, die nachlässig dort hineingeworfen worden waren. Sie waren vollkommen blutleer, die Hälse zeigten nicht nur Bisswunden, sondern waren völlig zerfetzt, außerdem stand auf einem Tisch ein rot verklebter Krug. Sarren hatte Kanin gefüttert, damit er zwischen den einzelnen Sitzungen heilen konnte. Während ich den Schrank mit den Leichen wieder schloss, packten mich Mitgefühl und Sorge um meinen Mentor. Kanin hatte Fehler gemacht, aber so etwas verdiente niemand. Ich musste ihn vor Sarrens krankem Irrsinn retten, bevor dieser meinen Schöpfer endgültig in den Wahnsinn trieb.

Durch die löchrige Decke am Fenster drang graues Licht, was mich noch träger werden ließ. Halt durch, Kanin, dachte ich müde. Ich werde dich finden, das schwöre ich. Ich hole schon auf.

Doch wenn ich ehrlich war, machte mir der Gedanke, Sarren wieder gegenüberzustehen und dieses leere, hohle Grinsen und seinen fiebrigen Blick zu sehen, mehr Angst, als ich zugeben wollte. Wieder tauchte vor mir das Gesicht auf, das ich durch Kanins Augen gesehen hatte. Während des Traums war es mir nicht aufgefallen, dass sich ein milchiger Film über dem linken Auge befunden hatte, sodass es weiß und trüb wirkte. Es war geblendet worden, und das erst vor Kurzem. Das wusste ich so genau, weil das Taschenmesser, das sich bei unserer letzten Begegnung in dieses Auge gebohrt hatte, meines gewesen war.

Daher wusste ich, dass Sarren mich ebenfalls nicht vergessen hatte.