Kaya sieht einem neuen Abenteuer entgegen. Ihr Freund Chris will in die Wildnis Afrikas reisen! Und Kaya will mit, denn dort wird er als Volunteer in einem südafrikanischen Reservat arbeiten: sich um verwaiste Tiere kümmern, aber auch beim Unterricht für Kinder aushelfen! Das ist genau ihr Ding, vor allem, weil im benachbarten Camp Pferdesafaris angeboten werden. Doch wie bringt sie das ihren Eltern bei? Und was passiert, wenn sie plötzlich einem wilden Tier gegenübersteht? Kaya setzt sich durch … und es beginnt ein magischer Pferdesommer in Afrika.
© Dieter Wehrle
Gaby Hauptmann ist eine Vollblutjournalistin: Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung SÜDKURIER (Konstanz) hatte sie ein eigenes Pressebüro in Lindau, war Chefredakteurin der Ersten Stunde von seefunk radio bodensee, wechselte zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk (SWF 1 u. SWF3) und begann gleichzeitig fürs Fernsehen (HR u. SWF, Unterhaltung und Dokumentationen) zu arbeiten. Sie war Regisseurin, Produzentin und Moderatorin, unter anderem moderierte sie 2002/03 mit Lea Rosh die Literatursendung »Willkommen im Club«. 1995 erschien mit »Suche impotenten Mann fürs Leben« ihr erster Bestseller, seitdem hat sie über 30 Bücher (darunter das Kinderbuch »Rocky – der Racker« und die beiden Jugendreiterserien »Alexa – die Amazone« und »Kaya«) geschrieben, wurde in 35 Ländern verlegt, hat allein in Deutschland knapp über 8 Millionen Bücher verkauft, wovon sechs Bücher bisher verfilmt wurden und viele als Hörbücher zu haben sind..
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Langsam legte Kaya ihr Handy auf das Englischbuch, in dem sie gerade noch gelernt hatte. Draußen fuhr der Herbstwind durch den Nussbaum, der in ihrem Garten stand, und ließ die trockenen Blätter bis an ihr Fenster fliegen. Dort rutschten sie taumelnd ab. Manche blieben auch an der vom Nebel feuchten Glasscheibe haften und bildeten ständig wechselnde Muster. Kaya sah es nicht. Ihr war gerade übel geworden. Eine Art von Übelkeit, die sich im Magen festkrallte und dann langsam nach oben kletterte, bis sie die Kehle zuschnürte und die Ohren dröhnen ließ. Kaya glaubte, ihr Kopf müsse platzen, weil sie keine Luft mehr bekam. Alles war in diesem Moment sinnlos geworden. Sie saß wie versteinert.
Wie lange sie so saß, wusste sie nicht. Irgendwann griff sie zu ihrem Handy und überprüfte, ob es auch wirklich stimmte. Ja, der letzte Anruf war von Chris gewesen. Es stimmte also. Er wollte für drei Monate nach Afrika. Drei Monate! Weg von ihr, jetzt, da doch alles gerade schön geworden war, jetzt, da sie spürte, dass auch er etwas für sie empfand, jetzt, da sie an eine Zukunft geglaubt hatte, sich ausgemalt hatte, wie schön es werden würde: gemeinsame Spaziergänge im Advent, Ausritte im Schnee, Kuscheln vor dem Fernsehapparat, alles das hatte vor ihr gestanden, bildlich, zum Greifen nah … Und jetzt? Jetzt war alles weg. Touché, aus und vorbei. Er ließ sie zurück. Wie Fallobst, dachte Kaya und eine neue Welle der Übelkeit erfasste sie. Sie hätte heulen können, aber es kamen keine Tränen.
Draußen senkte sich die Dunkelheit über den Garten, sie schaffte es nicht, die Lichter anzumachen. Sie saß einfach da und wollte untergehen, untergehen mit dieser Welt, die genau wie sie von Dunkelheit erfasst wurde.
Da wurde die Tür aufgerissen, ein Lichtschein fiel herein und mit ihm ihre ältere Schwester Alexa.
»Was ist denn …«, polterte sie, dann sah sie Kayas Silhouette vor dem Fenster. »Warum sitzt du denn im Dunkeln?«
Sie knipste das Licht an.
»Hey!«, sagte sie. »Wir warten! Das Essen wird kalt!«
Als sie keine Antwort bekam, schob sie ein »Was machst du denn?« nach. Und schließlich ging sie die wenigen Schritte durchs Zimmer auf Kaya zu. »Was ist denn los?«
Jetzt brach plötzlich der Damm und Kaya schluchzte auf. Sie sank vornüber auf die Schreibtischplatte und ließ ihren Kopf zwischen ihre verschränkten Arme sinken. Die Tränen schossen aus ihren Augen und gleichzeitig lief ihre Nase. Aber es war trotzdem ein befreiendes Gefühl. Dann spürte sie Alexas Hand auf ihrer Schulter.
»Was ist denn los? Ist was mit den Pferden?«
Das brachte Kaya nur noch mehr zum Heulen. Bei den Pferden kannte sie sich aus. Bei Chris nicht.
»Es ist alles so furchtbar«, heulte sie und ihr nächster Satz wäre »Ich bring mich um« gewesen, den verkniff sie sich aber. Sie wusste, dass sie sich nicht umbringen würde. Nicht für Chris und auch für sonst niemanden. Trotzdem. Im Moment fühlte sie genau so.
»Schwesterchen …«
Wann hatte Alexa dieses Wort zuletzt gebraucht? Ewig her, dachte Kaya, während ihre Tränen im Ärmel ihres Pullovers versickerten. Sie war im Juni 16 Jahre alt geworden und Alexa war vier Jahre älter. Für Alexa war sie immer die »Kleine« gewesen, klar. Aber »Schwesterchen«, das war liebevoll, tröstend. Anders als sonst.
»Dann ist was mit Chris«, mutmaßte Alexa. »Stimmt’s?« Sie zog sich einen Hocker herbei und setzte sich neben Kaya. »Hat er eine andere?«, wollte sie wissen und ihre Stimme klang einfühlsam, fast zärtlich. Das brachte Kaya noch mehr zum Weinen. Was war mit ihrer kratzbürstigen Schwester los? Früher hatte sie ständig befürchtet, Alexa würde ihr Chris wegschnappen. Schließlich war sie die toll aussehende große Schwester, die schon so erwachsen war, außerdem sexy Kurven hatte und nicht so schlaksig daherkam wie sie selbst.
»Nein«, schluchzte Kaya.
»Also nichts mit Chris?«, es klang fast enttäuscht. Da war sie wieder, ihre große Schwester. Hatte sie eine Sensation gewittert?
»Ach, lass mich«, wehrte Kaya ab und zog die Nase hoch. Sie hob ihren Kopf und einige Sekunden sahen sie sich schweigend in die Augen.
»Unser Kater lebt«, zählte Alexa auf, »deinem Pony geht es gut, unsere Eltern sind auch okay, unser Haus bricht nicht zusammen und unser Restaurant ist meistens voll, also wird mein Studium bezahlt und auch dein Sir Whitefoot. Was kann es also sein? Eine Sechs geschrieben? Bleibst du sitzen?«
»Das wäre mir egal«, sagte Kaya und selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme trostlos.
»Eine Freundin? Krank? Was Schlimmes?«
»Chris geht nach Afrika. Gerade jetzt, wo es anfängt, gut mit uns zu laufen.«
»Nach Afrika?« Alexa setzte sich auf. »Na, so was«, sagte sie und ihre Stimme hörte sich plötzlich ganz anders an als eben noch. Aufgeweckt, interessiert. »Was macht er denn dort?«, wollte sie wissen.
»Dort gibt es ein Resort, nennt sich Daktari, hat er mir erzählt. Die kümmern sich dort um Kinder und wilde Tiere, oder so. Und dort will er drei Monate hin. Als Volunteer, also Praktikant.«
»Ist doch spitze!«, kommentierte Alexa voller Inbrunst. »Super Idee!«
Kaya sagte nichts. Es war eben ein Fehler, eine große Schwester einzuweihen. Die hatte einfach keine Ahnung, kein Mitgefühl und auch sonst nichts.
In diesem Moment ging die Zimmertür auf. »Der Herr, der schickt den Jockel aus …« Ihr Vater streckte den Kopf herein. »Leute, Mutti steht unten, das Essen wird kalt und sie …«, dann sah er Kayas Gesicht. »Was ist denn los?«, wollte er wissen und kam näher. »Hast du geweint?«
»Ich?« Kaya fuhr sich mit dem Ärmel kurz unter der Nase entlang. »I wo. Alles gut. Wir kommen.«
Harald blieb stehen und betrachtete sie kritisch. »Habt ihr euch gestritten?«
»Papa!« Alexa sagte das so bestimmt und in einem Ton, der klarmachte, dass weiteres Nachfragen zwecklos war. Dafür bewunderte Kaya sie. Alexa hatte das einfach besser drauf. Und irgendwie, fand sie, war das früher auch schon so gewesen. Kaya rutschte mit ihrem Stuhl nach hinten und stand auf.
Ihre Mutter saß schon am Tisch, das Weinglas in der Hand.
»Ich wollte gerade mit mir alleine anstoßen«, sagte sie. »Auf den Sonntag und die Freude, mit meiner Familie mal wieder an einem Tisch zu sitzen.«
Alexa warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. »Fünf«, sagte sie. »Vielleicht ein bisschen früh für ein üppiges Abendmenü …?« Sie zeigte auf die große Platte mit Fleischstücken und die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse.
»Geht nicht später.« Harry zuckte die Achseln. »Ab 18 Uhr sind wir drüben schon fast ausgebucht. Und früh zu essen ist bekömmlich.«
Kaya befürchtete, dass sie nicht einen einzigen Bissen hinunterbringen würde. Noch immer hatte sie einen dicken Kloß im Hals und ihr Magen war wie zugeschnürt.
»Hast du die Heizung zu weit aufgedreht?«, wollte ihre Mutter wissen. Kaya warf ihr einen Blick zu. Karin war 43 Jahre alt, und Kayas Meinung nach hatte Alexa alles Schöne von ihr geerbt. Die dichten Haare, die großen Augen und die langen Beine.
»Wieso?«, fragte sie und wappnete sich innerlich auf eine entsprechende Antwort.
»Weil du ein leicht verquollenes Gesicht hast. Das kann von zu trockener Heizungsluft herrühren.«
»Oder von was anderem«, warf Harald ein.
Kaya reagierte nicht darauf. Ihr Vater war eindeutig der Sensiblere. Schon immer gewesen. Auch was das Essen angeht. Wie oft saß sie bei ihrem Vater in der Restaurantküche und sah ihm zu, wenn er kochte. Das war einfach gemütlich und ein wahrer Zufluchtsort, wenn ihr etwas auf der Seele brannte. Ihre Mutter dagegen sauste hin und her, brachte Bestellungen rein und nahm Essen raus, aber mehr bekam sie eigentlich nicht mit. Außer, dass sie vielleicht Pommes oder Spätzle mit Soße aß und ihr Vater ihr, wie sie meinte, besser etwas Gesundes wie Salat oder Gemüse hinstellen sollte.
Kaya holte tief Luft und griff nach ihrem Wasserglas.
»Ah!« Alarmiert lag jetzt der Blick ihrer Mutter auf ihrem Gesicht.
»Tafelspitz?«, fragte Alexa und stieß ihre Gabel in ein großes Stück Fleisch.
»Gekochtes Rindfleisch«, ließ sich ihre Mutter ablenken. »Ist mir besonders zart geraten. Wird auch deinem Vater schmecken …« Sie lächelte ihren Mann an.
Alexa zwinkerte Kaya zu und Kaya nickte leicht zurück. Manchmal war eine Schwester eben doch zu was gut.
Nachdem ihre Eltern gegangen waren und die beiden Schwestern den Tisch abgeräumt und alles verstaut hatten, saß Kaya wieder in ihrem Zimmer.
Sie wählte Sinas Nummer. Sina war ihre beste Freundin. Sie hatte auch Freundinnen aus dem Reitstall, Freundinnen, mit denen sie seit Jahren durch dick und dünn gegangen war, mit denen sie viel erlebt hatte und die sie alle mochte, aber wenn es um ihr Herz ging, wusste sie nur eine, die ihr helfen konnte: Sina. Mit Sina konnte sie über alles reden, Sina würde sie ohne große Worte verstehen.
Sie sah aus dem Fenster, während sie darauf wartete, dass Sina an ihr Handy ging. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, aber sie hörte, wie der Wind ums Haus pfiff und an den Rollläden zerrte. Überall waren Geräusche, es musste wirklich heftig stürmen. Ob bald Schnee kam? Anfang November, in vierzehn Tagen war der erste Advent. Sie schluckte. Wann, hatte er noch mal gesagt? Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Jedenfalls über Weihnachten und Silvester. Dort sei jetzt Frühling, eine gute Zeit, hatte er ihr erklärt. Als ob das für ihr Herz eine Rolle spielte.
Sina meldete sich nicht. Kaya warf einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Wo war sie um diese Zeit? Gut, sie hatte einen Freund … Bei diesem Gedanken kamen ihr schon wieder die Tränen. Sie gönnte Sina jedes Glück, aber der Gedanke, dass die beiden jetzt vielleicht eng umschlungen unterwegs waren oder gemütlich im Bett lagen, war schier unerträglich.
»Rufst du mich bitte an?«, simste sie und legte ihr Handy auf die Seite. Es ließ ihr aber dennoch keine Ruhe. Sie konnte jetzt nicht einfach hier herumsitzen und Englisch lernen, keine einzige Vokabel würde sie sich merken können. Sie musste in den Stall, zu Sir Whitefoot. Sie hatten am Morgen eine Quadrille fürs Weihnachtsreiten eingeübt, also würde am Abend keine ihrer Freundinnen im Stall sein. Das war gut, sie mochte jetzt mit niemandem reden müssen. Und schon gar nicht irgendein unwichtiges Zeug. Kaya stand auf und streifte sich ihren dicken Rollkragenpullover über. Der roch so schön nach Heu und warmem Pferd. Sie schnüffelte am Ärmel und fühlte sich augenblicklich etwas besser. In diesem Moment ging die Tür auf und Alexa kam mit ihrem Tablet herein.
»Hast du schon gegoogelt?«, wollte sie wissen.
»Was?«
»Na, diese Daktari-Geschichte …«
»Wozu soll ich das?«
»Ja, Mann! Ist er nun dein Freund oder nicht?«
Alexa schob ihr das Tablet unter die Nase. »Also, wenn man ›Daktari‹ eingibt, kommt zunächst mal eine Fernsehserie, die kenne ich aber nicht. Sieht trotzdem lustig aus, mit einem schielenden Löwen und so. Bei ›Daktari Afrika‹ kommt dann Bush School & Wildlife Orphanage. In Südafrika. Bei Hoedspruit … Ist es das?«
»Bei … wo?«
»Hoedspruit.« Alexa wiederholte es und musste lachen. »Ich weiß nicht so richtig, wie man das ausspricht.«
Kaya zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Daktari, Afrika. Mehr hat er nicht gesagt.«
»Er hat ganz bestimmt mehr gesagt!«
Kaya spürte, wie sie ungeduldig wurde. Warum mischte sich Alexa überhaupt ein? Was ging sie das Ganze an?
»Also«, fuhr Alexa mit Feuereifer fort und tippte auf das Display ihres Tablets. »Wenn es dieses Daktari ist, dann ist das eine ganz tolle Sache! Schau dir mal das Video an!«
Und schon lief vor Kayas Augen ein Film ab, den sie nicht sehen wollte. Sie wollte sich nicht für eine Sache begeistern, die ihr ihren Chris wegnahm.
»Schau! Alleine dieser Satz!« Alexa glühte förmlich. »Help the animals by educating people! Das ist genau richtig! Darum geht es. Aufklärung, in allen Richtungen, egal ob bei Tieren, in der Politik, überall. Wer lernt, wird offener, liberaler, sieht die Gefahren …«
»Ja, schon gut!« Kaya unterbrach sie schroff. »Mag ja sein. Soll sich jeder aufklären lassen, wo er will. Aber muss Chris deswegen drei Monate nach Afrika? Ist doch bescheuert!«
Sie griff nach ihrer Jacke und wollte an Alexa vorbei.
»Ich finde, dass es ein perfektes Projekt ist.« Alexa machte einen Schritt zur Seite, damit Kaya an ihr vorbei zur Tür kam. »Ich überlege mir ernsthaft, ob ich das auch mache.«
In Kayas Hirn explodierte etwas. »Wie bitte? Du willst mit Chris nach Afrika?«
Alexa verzog das Gesicht. »Informier dich doch erst mal, bevor du lostrompetest. Das ist eine Art Wildtier-Reservat, non-profitable. Die nehmen verletzte Wildtiere auf und pflegen sie auf Spendenbasis, und außerdem laden sie unterprivilegierte schwarze Kinder ein. Denen zeigen sie anhand ihrer Tiere, dass Tiere auch Lebewesen sind. Das wissen die zum Teil gar nicht. Und zudem unterrichten sie diese Kinder, die sonst in Klassen mit 60 anderen sitzen. Das hat doch was!«
»Ja, toll!!!«
»Das ist aktive Lebenshilfe. Für die Tiere und die Kinder.«
»Ja, dann geh! Geh nach Afrika! Aber lass mich damit in Ruhe!«
Kaya stürmte hinaus, lief die Treppe hinunter, zog ihre dicken Stiefel an, knallte die Haustür hinter sich zu und schwang sich auf ihr Fahrrad. Sie trat wie verrückt in die Pedale, kam aber kaum von der Stelle, weil sie Gegenwind hatte. Sie wusste nicht, ob sie angriffslustig sein oder sich geschlagen geben sollte. Der Schweiß brach ihr aus und diese Hilflosigkeit gegenüber den Naturgewalten brachte sie noch mehr auf. Die Straße lag wie ein schwarzes, endloses Band vor ihr, die Bäume am Straßenrand ächzten im Wind und die wenigen Straßenlaternen schwankten, als ob sie tanzen würden. Die Windböen fuhren ihr in die Haare, wirbelten sie hoch, warfen sie nach vorn über ihre Augen, sodass sie nichts mehr sah, und Kaya ärgerte sich, dass sie sie nicht zusammengebunden hatte. Alles um sie herum war in Bewegung. Auf der anderen Seite, dachte sie, passte es gerade. Dieser Aufstand der Natur war genau das, was sie fühlte. In ihr war auch alles in Aufruhr. Sie musste dringend zu ihrem Pony. Sie brauchte ein Ohr, dem sie alles erzählen konnte. Und zwar ein Ohr, das keine eigenen Pläne schmiedete und keine Weisheiten von sich gab. Eine liebe Seele, die brauchte sie jetzt. Warme Nüstern, weiche Lippen, ein offenes Auge. Sie sehnte sich so nach Sir Whitefoot, dass sie alle Kraft in die Pedale legte, um schnell zu ihm zu kommen.
Der Reitstall lag dunkel da. Klar, es war Sonntagabend, alle waren jetzt bei ihren Familien oder bereiteten sich auf die nächste Woche vor. Sie dachte kurz an ihre Englischarbeit, aber das schlechte Gewissen blieb aus. Eine schlechte Arbeit konnte sie sich leisten und überhaupt, was war Englisch gegen Chris? Bei dem Gedanken schlug ihr Herz wieder doppelt schnell. Chris. Chris in Afrika. Drei Monate lang. Unvorstellbar!
Sie lehnte ihr Fahrrad gegen den Zaun und ging zu Sir Whitefoots Box. Er hatte ein Paddock, konnte raus und rein, wie er wollte, und eigentlich hätte sie darauf gewettet, dass er kuschelig im Warmen stand. Er war aber draußen, die Nüstern weit gebläht und den Wind in seiner Mähne. Offensichtlich gefiel ihm das. Als sie ihn rief, drehte er den Kopf nach ihr um und begrüßte sie mit einem warmen Schnauben.
»Oh, Whitefoot«, sagte Kaya und schlang ihre Arme um ihn. Aber nach den ersten Sätzen wurde ihr etwas klar: In der Eile hatte sie vergessen, ihm etwas mitzubringen. Das ging natürlich nicht. Wenigstens eine Handvoll Hafer. Whitefoot stupste sie auffordernd. »Ich komm gleich wieder.« Kaya öffnete die Boxentür und ging auf die Stallgasse zurück. In der Dunkelheit sah sie auf der anderen Seite etwas schimmern. Sie ging näher heran. Tatsächlich, vor der Box von Luxury Illusion lag eine Plastiktüte. Kaya bückte sich. Eine Plastiktüte mit Äpfeln, wie praktisch! Sie entschuldigte sich insgeheim bei ihrer Reiterfreundin. »Sorry, Minka, morgen bringe ich zwei Äpfel zurück.«
»Brauchst du nicht, ich hab genug …«
Es war wie ein Schlag vor die Brust, so erschrocken fuhr Kaya zurück.
Hinter den Gitterstäben der Pferdebox tauchte ein dunkler Schatten auf.
»Minka?«, hauchte Kaya.
»Was glaubst du? Der Heilige Geist?«
»Aber was machst du hier?« Kaya musste erst mal durchatmen.
»Was machst du hier?«, stellte Minka die Gegenfrage. »Im Dunkeln?«
»Und du?«
Sie mussten beide lachen. Sie kannten sich einfach schon zu lang. Die gleichaltrige Minka, Fritzi, Reni und die jüngere Cindy waren seit Jahren die Mädchenclique im Stall. Die wilden Amazonen hatten sie sich genannt und bei all den Abenteuern, die sie in den letzten Jahren erlebt hatten, hatte sich dieser Gangname bestätigt.
Nun presste auch Luxury Illusion seine Nüstern an die Eisenstäbe. Teils, weil er die Plastiktüte hatte rascheln hören und auf einen Apfel spekulierte, teils, weil er neugierig war. Der Wallach war ein schöner Schimmel mit edlem Vollblutkopf und einem sportlich-eleganten Körperbau. Minka war unter ihnen die Erste gewesen, die schon früh ein eigenes Pony besaß. Aber dieses Glück bezahlte sie mit einem besonders ehrgeizigen Vater, der auf Turnieren nur vordere Plätze akzeptierte. Das setzte sie ständig unter Leistungszwang.
Minka schob die Boxentür auf und Luxury streckte sofort seinen Kopf in Richtung der Plastiktüte.
»Er ist so was von verfressen«, schimpfte Minka mit zärtlicher Stimme.
»Vernascht, würde ich sagen«, korrigierte Kaya sanft.
»Ja, schütze ihn nur …«
Minka wuschelte ihm durch die Mähne. Ein Donnerschlag gegen die Boxentür auf der anderen Seite erinnerte Kaya an Sir Whitefoot und die beiden Äpfel in ihrer Hand.
»Darf ich?«, fragte sie Minka.
»Sowieso! Aber jetzt müssen die anderen auch was kriegen, sonst ist es ja ungerecht.«
Sie zog ein Messer aus der Tüte. »Wir teilen sie, dann reicht es für alle!«
»Soll ich Licht machen?«, fragte Kaya.
»Untersteh dich! Das ist unsere spezielle Stunde.«
»Die blaue Stunde«, fügte Kaya an. Das sagten ihre Eltern ständig, wenn sie nebeneinander auf dem Sofa in die Dämmerung hinaussahen und dabei Händchen hielten. Kitschig, hatte Kaya mal dazu gesagt. Ihr seid ja richtig kitschig!
Das Wort peinlich