Als E-Book beim Hummelburg Verlag erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint im Hummelburg Verlag,
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
© 2021 Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
Cover- und Innenillustration: Florentine Prechtel
Covertypografie: Florentine Prechtel
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch
Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH,
Postfach 2460, D-88194 Ravensburg

ISBN 978-3-7478-0050-8

www.hummelburg.de

Für Hanne – die sich fast niemals gruselt

Es war früher Nachmittag, als der Mann in der Portobello Road auftauchte. Er trug eine Pluderhose und ein schwarzes Wams, dazu eine altmodische Halskrause mit Rüschen, und auf seinem Kopf saß ein breiter Federhut.

Trotz seiner ungewöhnlichen Kleidung schien der Mann den zahlreichen Passanten nicht aufzufallen. Er stand genau gegenüber vom Pandora’s Antiques, dem kleinen Raritätengeschäft mit der dunkelgrün lackierten Fassade. Gerade ertönte ein schepperndes Läuten, und die Tür des Ladens öffnete sich – pünktlich zum Ende der Mittagspause. Eine junge Frau trat heraus, an der Hand ein Mädchen mit langen braunen Zöpfen.

Der Mann verfolgte aufmerksam, wie die Frau die Tür weit aufsperrte und dann begann, die Ladenauslage zurück auf den Gehweg zu räumen: einen alten Spiegel, zwei Rollwagen mit Geschirr, mehrere Gemälde in dicken Holzrahmen und einen Sessel mit rot glänzendem Brokatbezug. Das Mädchen platzierte ein paar Teddybären mit geflickten Nähten auf der Außenfensterbank des Ladens.

Wie alt mochte sie sein? Drei, vielleicht vier Jahre?

Der Mann betrachtete sie nachdenklich. Irgendetwas störte ihn, doch er wusste nicht genau, was. Erst als das Mädchen schon wieder im Laden verschwunden war, kam er darauf: Sie sah so gewöhnlich aus. Das war es!

Aber was hatte er erwartet? Wie hätte man es ihr auch ansehen sollen?

In stilles Brüten versunken, bemerkte der Mann viel zu spät, dass eine ältere Dame auf ihn zustöckelte. Direkt vor seiner Nase blieb sie stehen und pfefferte mit Schwung ein zerknülltes Taschentuch in einen Abfalleimer hinter ihm. Angeekelt blickte der Mann an sich hinunter. Das Tuch war direkt durch seinen Bauch hindurchgeflogen. Er hasste es, wenn so etwas passierte. Jedes Mal fühlte es sich an, als wirbelten seine Atome wie angestoßene Billardkugeln auseinander.

Mit grimmigem Gesicht zog er eine goldene Taschenuhr aus dem Wams hervor. Er sollte jetzt sowieso besser gehen. Harold würde bald im Herrenhaus eintreffen, und er musste ihm noch einige Anweisungen geben.

Energisch steckte der Mann die Uhr zurück und sah ein letztes Mal zu dem Mädchen, das nun wieder vor dem Laden stand und in die Sonne blinzelte. Bei genauerer Betrachtung stellte er fest, dass sie die Nase ihrer Mutter hatte. Das beruhigte ihn ein wenig. Es sprach alles dafür, dass sie die Richtige war, und wenn seine Überlegungen stimmten, könnte sie die Lösung für all seine Probleme sein. Natürlich noch nicht gleich. Er würde mehr als genug Zeit haben, sich vorzubereiten.

Seufzend strich der Mann noch einmal über die Stelle, an der ihn das Taschentuch durchdrungen hatte. Dann wandte er sich ab und schwebte lautlos wie eine regenschwere Gewitterwolke davon.

Fannys Mum hatte mal wieder alles im Griff. Schon vor drei Tagen hatte sie Fannys Koffer gepackt, um ihn danach noch fünf Mal umzupacken. Nun war Fanny sogar mit einem Schuhlöffel und mit Warzenpflastern ausgestattet. Dabei hatte sie in ihrem Leben noch nie eine Warze gehabt. Doch ihre Mum meinte, man könne ja schließlich nie wissen, was passiert. Womit sie natürlich recht hatte, wie sie ja immer bei allem recht hatte!

Heute war endlich Samstag, und Fanny hievte das tonnenschwere Kofferungetüm schnaufend aus dem Haus und in den Kofferraum des grauen Bentleys. Ihre Mum trommelte bereits unruhig auf das Lenkrad. Während der Fahrt redeten sie nicht viel. Fanny wusste, dass ihre Mutter angespannt war. Wie immer, wenn sie ihre Schwester Harriet treffen würde. Fannys Laune hingegen war wie das Wetter: wolkenlos und frühsommerlich warm.

Nach zwanzig Minuten Stadtverkehr stoppte der Bentley kurz vor dem Laden mit der grün lackierten Fassade, und während ihre Mum noch einen Parkplatz suchte, rollte Fanny das Koffermonster bereits auf die Ladentür zu. Mit jedem Schritt machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer. Sie liebte das Geschäft ihrer Tante, das bis unter die Decke mit Krimskrams vollgestopft war: Geschirr, Möbel, Postkarten, verstaubte Bücher und so absonderliche Dinge wie Zeitungsumblätterstäbe aus Ebenholz und sogar Schrumpfköpfe – die natürlich nicht echt waren, wie Tante Harriet versicherte.

Erwartungsfroh reckte Fanny ihre Nase in die Luft. Der Laden verströmte seinen Duft bis hierher auf die Straße. Eine Mischung aus Holzpolitur, Staub, Tee und Keksgeruch. Herrlich! Als sie die Ladentür öffnete, ertönte die kleine rostige Glocke über dem Eingang.

»Komme gleich!«, rief es von irgendwoher.

Pandora’s Antiques bestand aus drei vollgestopften Verkaufsräumen. Dem vorderen, in dem Fanny sich gerade befand, einem zweiten, der ein paar Stufen höher zum Hof hin lag, und dem dritten in der ersten Etage, der über eine Wendeltreppe mit dem Rest des Ladens verbunden war.

Fanny blieb mit ihrem Koffer neben der Ladentheke stehen und begrüßte Grandma Pandora. Natürlich nicht Grandma Pandora persönlich. Die Namensgeberin des Ladens war schon gestorben, als Fanny noch ein Baby war. Aber es hing eine goldgerahmte Fotografie von ihr an der Wand, und weil Harriet die Angewohnheit hatte, mit dem Bild ihrer Mutter zu sprechen, kam es auch Fanny unhöflich vor, den Laden zu betreten, ohne Pandora Hallo zu sagen.

»Bin schon da!«, schallte Harriets Stimme aus der oberen Etage herunter. Fanny hörte, wie Schritte auf den Holzstufen klackerten. Als Harriet ihre Nichte erblickte, legte sie verdutzt den Kopf schief.

»Du hast es vergessen!«, stöhnte Fanny.

»Was? Nein … Quatsch, natürlich nicht!« Harriet eilte auf Fanny zu, um sie in die Arme zu schließen.

»Du hast es doch vergessen, oder?«, fragte Fanny, als ihre Tante sie wieder aus der Umarmung auftauchen ließ.

»Na ja, vielleicht ein klitzekleines bisschen«, gab Harriet zu. »Tee?«

Fanny nickte, und Harriet verschwand durch den bunten Glasperlenvorhang in die Ladenküche. Bald darauf kam sie mit einem Tablett zurück, auf dem sie zwei Thermoskannen, drei Porzellantassen, etwas Gebäck und ein geblümtes Zuckerdöschen balancierte.

»Ich hab extra grünen Tee für deine Mutter gekocht«, erklärte sie und stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem roten Samtsofa ab, das schon seit Jahren niemand kaufen wollte. Die Sprungfedern ächzten vertraut, als Fanny sich darauf niederließ. Sie nahm einen Butterkeks und dachte, dass auch der grüne Tee die frostige Stimmung zwischen Harriet und ihrer Mum nicht aufwärmen würde.

Fanny hatte nie einen speziellen Grund herausfinden können, warum die Schwestern sich so spinnefeind waren. Sie vermutete aber, dass es an ihrer Gegensätzlichkeit lag. Die eine war ordentlich und extrem penibel, die andere unordentlich und manchmal ziemlich kopflos. Eine stand auf Zartbitterschokolade, die andere auf Vollmilch-Nuss. Jennifer hatte blonde glatte Haare und liebte Katzen. Auf Harriets Kopf ringelten sich braune Locken, und natürlich mochte sie Hunde. Diese Liste hätte man endlos fortführen können.

Außerdem beschlich Fanny oft das Gefühl, ihre Mum wäre ein bisschen eifersüchtig auf Harriet. Vielleicht missfiel ihr, dass Fanny sich so gut mit ihrer Tante verstand. Wahrscheinlich störte es sie sogar, dass Fannys Haare braun wie Harriets waren und nicht blond wie ihre eigenen. Dabei hatte Fanny erstens blaue Augen genau wie ihre Mutter, und zweitens war das alles vollkommen bedeutungslos, weil Fanny nämlich adoptiert war. Ihre Augen- und Haarfarbe konnte mit keiner von beiden etwas zu tun haben.

»In dieser Gegend ist es wirklich unmöglich, einen Parkplatz zu finden«, schimpfte Jennifer Jones, als sie den Laden betrat.

Wie immer begrüßten sich die Schwestern mit einem steifen Küsschen auf die Wange, und dann begann dieser gezwungen fröhlich-freundliche Small Talk, den Fanny so hasste.

»Wann geht denn euer Flieger?«, fragte Harriet, während sie den grünen Tee eingoss.

»Morgen früh um sechs.« Fannys Mum nahm ein akkurat gefaltetes Papier aus ihrer Handtasche und reichte es ihrer Schwester. »Ich hab dir alles noch mal genau aufgeschrieben«, sagte sie. »Wir sind von morgen bis zum 28. Juli unterwegs. Auf dem Zettel sind alle Hotels mit Telefonnummern notiert, außerdem Henrys und meine Handynummer und auch die von Henrys Assistenten. Ach ja, und natürlich die Nummer von unserem Hausarzt, die von Fannys Zahnarzt und für den Notfall die der amerikanischen und der britischen Botschaft. Man weiß ja schließlich nie, was passiert …«

Aus den Augenwinkeln betrachtete Fanny Harriets Gesichtsausdruck. Sie wusste genau, was ihre Tante dachte.

Mindestens fünf Butterkekse lang plätscherte das Gespräch weiter so belanglos vor sich hin. Funnys Mum zählte alle siebzehn amerikanischen Städte auf, die sie und ihr Mann in den nächsten acht Wochen abklappern würden, um neue Kunden für ihre Schnürsenkelfirma Jones and Sons – Nichts hält besser zu werben. Danach führte Harriet stolz eine Sammlung von antiken Rückenkratzern vor, die sie für den Laden spottbillig erstanden hatte und die Jennifer mit höflich unterdrückter Abscheu bewunderte. Fanny hatte schon die Hoffnung, dieses Treffen würde einmal ohne Streit verlaufen. Doch dann stach sie plötzlich etwas ins Schulterblatt.

»Au!«, stieß Fanny aus. Sie versuchte mit der Hand die schmerzende Stelle zu erreichen, doch im selben Moment spürte sie den gleichen piksenden Schmerz auch im anderen Schulterblatt. »Au!«

»Fanny? Was ist denn?« Ihre Mutter griff blitzschnell nach ihrem Handy. Es sah aus, als wolle sie augenblicklich einen Notruf absetzen.

»Gar nichts, glaube ich«, beruhigte Fanny sie. »Mich hat nur irgendwas gestochen.« Mit dem Zeigefinger lüpfte sie den Kragen ihres T-Shirts und verrenkte sich den Kopf, um ihren Rücken hinunterschielen zu können. Deswegen bemerkte sie gar nicht, wie das Gesicht ihrer Mum von einer Sekunde auf die nächste versteinerte.

»Har-ri-et?«

Fannys Blick schnellte nach oben. Jennifer Jones’ Stimme hatte diesen spitzen Unterton, den sie nur bei ihrer Schwester bekam und der so oft der Vorbote eines dicken Unwetters war. Fanny zog unmerklich den Kopf ein, doch ihre Tante wirkte nicht weiter beeindruckt.

»Das waren bestimmt nur die alten Sprungfedern, Jenny. Ich muss das Sofa irgendwann mal entsorgen. Das kauft sowieso keiner mehr.«

Harriet nahm in aller Ruhe einen Schluck Tee, aber irgendwie hatte Fanny das Gefühl, ihre Tante benutzte die Tasse nur, um sich dahinter zu verstecken.

Nur warum? Diesmal hatte sie ja überhaupt keinen Fehler gemacht. Für die blöden Sprungfedern konnte sie schließlich nichts!

Fannys Mum machte trotzdem keinerlei Anstalten, ihr Dobermanngesicht abzulegen.

»Du hast es mir versprochen«, zischte sie Harriet zu. Wie steinhart gefrorene Erbsen prasselten die Worte auf ihre Schwester nieder. Unwillkürlich wartete Fanny auf eine zweite eiskalte Salve, doch anscheinend war für Jennifer das Thema damit beendet – ebenso wie das Gespräch. Mit einem energischen Ratsch zog sie den Reißverschluss ihrer Handtasche zu.

Fanny entschied, besser draußen vor dem Laden Auf Wiedersehen zu sagen. Da war die Luft nicht ganz so dick. Natürlich hatte ihre Mutter noch tausend Ermahnungen auf Lager, doch Fanny ließ sie heute wortlos über sich ergehen. Erstens wusste sie, dass ihre Mum sich eigentlich nur Sorgen machte, und zweitens war sie unendlich dankbar, dass sie bei Harriet bleiben durfte.

Im Vorfeld war das nämlich Anlass zu tausend Diskussionen gewesen. Ursprünglich hatten Fannys Eltern sie auf die Geschäftsreise mitnehmen wollen. Doch die Ferien begannen erst in zwei Wochen, und Mrs Gardener, die Direktorin der Oakhill International School, hatte es nicht erlaubt. Mrs Gardener konnte ein ziemlicher Drache sein, und Fanny mochte sie nicht besonders, doch diesmal hatte die Direktorin ihr einen echten Gefallen getan. Schließlich war Fanny bereits zwölf. Wer wollte mit zwölf schon ganze acht Wochen lang gemeinsam mit seinen Eltern Schnürsenkel verkaufen? Auch wenn es in den USA war! Wahrscheinlich hätte Fanny die meiste Zeit im Hotelzimmer verbracht und mit sich selbst Scrabble gespielt.

Als klar war, dass Fanny nicht mitkommen konnte, wollte ihre Mum sie zuerst bei Grandma Jones unterbringen. Doch Fanny hatte deswegen einen ziemlichen Aufstand angezettelt. Grandma Jones war zwar furchtbar lieb, aber sie nahm ständig ihr Gebiss heraus und legte es irgendwo in der Wohnung ab, weil es sie angeblich beim Denken störte. Und sie war so schwerhörig wie ein Marmeladenbrot. Alles musste man viermal sagen. Schließlich hatten Fannys Eltern zugestimmt, dass sie bei Harriet bleiben durfte, worüber Fanny mehr als glücklich war. Normalerweise besuchte sie ihre Tante höchstens ein- oder zweimal im Monat, und jetzt durfte sie ganze acht Wochen im Pandora’s Antiques verbringen.

»Was sollte das denn eben bedeuten?«, fragte Fanny, als sie zurück in den Laden trat. »Was hast du Mum versprochen?«

»Ach, das Übliche.« Harriet winkte ab. »Dass … ich auf dich aufpasse und so weiter. Du weißt doch, wie deine Mutter ist. Sie macht sich viel zu schnell viel zu viele Sorgen.«

Das stimmte ohne jeden Zweifel. Aber dass sich ihre Mum so dermaßen über einen Pikser durch ein altersschwaches Sofa aufregte, kam Fanny trotzdem ziemlich ungewöhnlich vor …

Genau eine Woche später werkelte Fanny am Samstagnachmittag gut gelaunt im Laden herum. Es waren nur noch ein paar Tage bis zu den Sommerferien. Das Schlimmste war also geschafft. Bald konnte sie den ganzen Tag im Pandora’s Antiques sein, anstatt sich mit Mrs Edwards Lateindeklinationen herumschlagen zu müssen. Die Aussichten hätten nicht besser sein können.

Pfeifend räumte Fanny ein Dutzend kleiner Kristallkaraffen in das Regal neben die Kaffeemühlen ein und versah danach die chinesischen Gürtelschnallen mit Preisen. Harriet lag auf dem Sofa und las einen Krimi.

Als Fanny mit den Gürtelschnallen im Arm am Tresen vorbeikam, stutzte sie.

»Harriet, wo ist mein Schokoriegel?«

»Dein was?«, fragte Harriet zerstreut. Sie schaute nicht einmal auf.

»Mein Schokoriegel. Der, den ich gestern hier neben die Kasse gelegt habe.«

»Keine Ahnung.«

»Wie, keine Ahnung?«

»Ja, keine Ahnung!«

»Hast du ihn gegessen?«, fragte Fanny.

»Nein, natürlich nicht.« Jetzt lugte Harriet doch hinter ihrem Buch hervor. »Ich ess doch nicht deine Sachen auf. Was denkst du denn?«

»Gar nichts denke ich«, sagte Fanny. »Ich weiß nur, dass ich ihn gestern genau da hingelegt habe. Zwischen die Kasse und die Vase mit dem Popo.«

»Welche Vase mit ’nem Popo?«

Fanny hielt die Vase in die Höhe.

»Das ist kein Popo. Das sind nur zwei Weintrauben.«

»Und wieso sind die rosa?«

Harriet gab zu, dass auf der Vase vielleicht doch ein Popo abgebildet war, aber was den Schokoriegel betraf, konnte oder wollte sie Fanny nicht weiterhelfen.

Das gleiche Spiel ereignete sich einige Tage später noch mit einer Packung Shortbread und mit einer Tüte extrasaurer Limonenbonbons. Danach ließ Fanny nichts mehr im Laden liegen.

Zu ihrer eigenen Überraschung konnte sie mehr und mehr verstehen, warum ihre Mum manchmal so genervt von Harriet war. Ihre Tante war absolut chaotisch! Die meiste Zeit verbrachte sie mit Suchen, da sie immer irgendetwas verschlampt hatte. Und weil Fanny Harriets Unordnung zunehmend auf den Wecker fiel, beschloss sie, im Pandora’s Antiques aufzuräumen.

Eine gute Gelegenheit dafür ergab sich am späten Nachmittag des vorletzten Schultages. Harriet war auf einem Geburtstag eingeladen und konnte Fanny bei ihrem Vorhaben nicht im Weg stehen.

Als Erstes sortierte Fanny die alten Postkarten nach Ländern, dann wienerte sie den Boden und ordnete die historischen Glanzbildchen. Weil Harriet danach immer noch nicht zurückgekehrt war und sich auch kein Kunde blicken ließ, entstaubte sie eine mit Schnitzereien verzierte Truhe und rieb das gute Stück sogar sorgfältig mit Möbelpolitur ein. Dann war es Zeit für eine kurze Tee- und Kekspause. Als Fanny nach einer Viertelstunde erneut nach ihren Putzutensilien griff und sich nach einem besonders lohnenswerten – das heißt besonders dreckigen – Objekt umsah, blieb ihr Blick an der Truhe mit den Schnitzereien hängen. Sie erstarrte. Der Deckel, der nach ihrer Putzaktion nussbraun geglänzt hatte, lag jetzt wieder unter einer dicken Staubschicht verborgen.

Nur um sicherzugehen, trat Fanny an die Truhe heran und wischte mit der Hand über den Deckel. Ihre Finger hinterließen schlanke, dunkle Spuren auf dem Holz – wie Schneisen im Schnee. Ein unangenehmer Schauer lief Fanny über den Rücken, dann fuhr sie zusammen, weil die Glocke über dem Eingang bimmelte. Gleich einem Wirbelwind kam Harriet in den Laden gesaust. Geräuschvoll lud sie ihr Schlüsselbund, die Handtasche und ihre Sommerjacke auf dem Tresen ab.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte sie, als sie Fannys Gesichtsausdruck bemerkte.

Immer noch verstört, berichtete Fanny ihrer Tante von dem rätselhaften Geschehen. Kurz darauf wünschte sie jedoch, sie hätte den Mund gehalten. Denn Harriet trat an sie heran und legte ihr mit besorgter Miene eine Hand auf die Stirn.

»Ich hab kein Fieber«, wehrte Fanny ab. Sie griff nach dem Blusenärmel ihrer Tante und zog sie zu der Truhe hinüber.

»Guck! Die war eben noch blitzblank.«

Wie Fanny zuvor strich Harriet mit ihrem Zeigefinger über den Truhendeckel. Fanny bemerkte, dass das rechte Augenlid ihrer Tante kurz zuckte, aber dann sagte Harriet leichthin:

»Ja, siehst du, deswegen hab ich den Kampf aufgegeben. Der alte Kram hier zieht den Staub geradezu an. So schnell, wie alles wieder schmutzig wird, kannst du gar nicht hinterherputzen.« Sie hob bedauernd die Schultern und wischte den staubigen Finger an ihrer Jeans ab.

Fanny zog die Stirn kraus. Wie sollten Möbel derart schnell einstauben? Das war doch Blödsinn! Sie fühlte sich von Harriet nicht ernst genommen.

Immer wieder wurde ihr Blick von dem staubigen Truhendeckel angezogen. Fanny hatte ein merkwürdig beklemmendes Gefühl, das sie den ganzen restlichen Tag nicht mehr losließ. Nicht einmal die Tatsache, dass Harriet zum Abendbrot Pizza bei Fannys Lieblingsitaliener bestellte, konnte sie davon ablenken.

Noch im Bett wälzte Fanny sich unruhig von einer Seite auf die andere, und immer wieder sah sie die verstaubte Truhe vor sich. Um auf andere Gedanken zu kommen, griff sie schließlich nach dem Buch, das sie vor ein paar Tagen zu lesen begonnen hatte. Es war eine Geschichte über zwei verfeindete Zaubererfamilien in Paris und so spannend, dass Fanny gar nicht merkte, wie die Nacht weiter voranschritt.

Kurz nach Mitternacht schreckte sie von einem polternden Geräusch auf. Zuerst dachte sie, der Krach käme von draußen. Doch dann folgte eine Reihe weiterer dumpfer Schläge, und spätestens ab dem dritten war Fanny sicher, dass das Spektakel von unten aus dem Laden kam. Bei jedem Rums erzitterte Fannys Bettgestell leicht. Sie sprang auf. Was, wenn da Einbrecher am Werk waren? Aufgeregt eilte sie in Harriets Zimmer, knipste ohne Zögern das Licht an und rüttelte ihre Tante wach.

»Harriet, ich glaub, da ist jemand im Laden!«

»Hm, waaas?« Harriet blinzelte und strich sich die wirren Locken aus der Stirn. Krawumm, machte es da, und sofort saß auch Fannys Tante kerzengerade im Bett.

»Vielleicht sind das Diebe«, wisperte Fanny, doch Harriet schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich weiß, was das ist«, sagte sie.

Auf einmal sah sie richtig wütend aus. Stampfend verließ sie den Raum und erschien kurz darauf mit einem Kehrbesen wieder. Wie wild begann sie, mit dem Ende des Besenstiels auf den Dielen herumzuhämmern.

»Was machst du denn?«, rief Fanny verwirrt.

»Ich – rums – stelle diesen – rums – Lärm ab – rums!«, schnaubte Harriet mit wehenden Haaren. Nach einigen weiteren Hieben ließ sie sich erschöpft zurück aufs Bett fallen.

Fanny lauschte einen Moment in die Stille hinein. Der Krach hatte tatsächlich aufgehört.

»Was war das?«, fragte sie.

»Ach, das sind die ganzen alten Rohre in diesem Haus. Irgendwo ächzt und poltert immer irgendwas.«

»Und da hilft es, mit einem Besenstil auf dem Boden rumzukloppen?«, fragte Fanny irritiert.

»Jep. Das hilft«, sagte Harriet knapp.

Sie erhob sich und stellte gähnend den Besen in die Zimmerecke. Auf dem Rückweg gab sie Fanny einen schmatzenden Kuss auf die Stirn und kuschelte sich dann wieder unter ihre Bettdecke. »Mach das Licht aus, ja?«, murmelte sie, dann war sie schon fast wieder eingeschlafen.

Fanny nickte ratlos. An der Tür kippte sie den Lichtschalter nach unten, und dann schlüpfte auch sie wieder in ihr Bett. Nervös spitzte sie noch einmal die Ohren, doch die Geräusche schienen wirklich verstummt zu sein. Zumindest die aus dem Laden. Draußen fuhren brummend mehrere Autos vorbei, und einmal kickte jemand auf der Straße eine Dose, sodass ein metallenes Scheppern zu Fanny heraufdrang.

Die Rohre, dachte sie und schüttelte in der Dunkelheit den Kopf. So ein Quatsch! Außerdem, welche Rohre verliefen denn unter dem Fußboden des ersten Stocks entlang? Fanny glaubte keine Sekunde an das, was ihre Tante behauptet hatte. Eine neue Welle des Unbehagens schwappte in ihr hoch.

Weshalb log Harriet?

Irgendetwas stimmte hier nicht, so viel war sicher!

Genauso sicher war allerdings, dass Fanny herausfinden würde, was es war.