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© 2014 Hans Bonneval
Lektorat: Ulrike Bonneval
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-7386-6977-0
Zur Zitierweise aus Rudolf Steiners Werken:
Die Kennzeichnung erfolgt über jedem Absatz und beginnt mit der GA-Nr. der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe. Es folgt nach dem ersten Schrägstrich die Vortragsnummer und nach dem zweiten Schrägstrich die Nummer des Absatzes innerhalb des Vortrages. Beispiel:
184/6/23
In einigen Fällen konnten die Vortrags- und Absatz-Nummer nicht ermittelt werden. In diesen Fällen sind nur die GA-Nr. und die Seitenzahl angegeben.
Beispiel:
184, Seite 17
Sämtliche Zitate sind kursiv gedruckt, die Hervorhebungen (Fettdruck) stammen von mir.
Januar 2014, Hans Bonneval
Der Titel dieser Schrift beschreibt eine leicht nachzuvollziehende, höchst bedeutsame Aussage Rudolf Steiners, auf die man in dessen Werk wiederholt trifft, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen. Die Mitteilung, daß Wahrheit nicht bloß Irrungen und Wirrungen vermeidet, sondern zusätzlich eine allumfassende Heilwirkung hat, ist eine frohe Botschaft für alle Menschen.
Da wäre es sicher anzuraten, sich zu bemühen, möglichst wahrheitstreu zu leben. Und man kann gewiß einiges tun, um seine Wahrheits-Situation zu verbessern, indem man strenger auf die Wahrheitstreue der eigenen Äußerungen und Handlungen achtet.
Doch bei näherem Hinsehen regen sich Zweifel. Könnte es sein, daß ich trotz meiner Bemühungen Unwahres in mir trage und daß dieses schädigend auf mich wirkt? Wieviel von dem, was ich glaube zu wissen, ist möglicherweise ein Irrtum oder gar eine Lüge? Auch wenn ich nicht die Schuld an einer für Wahrheit gehaltenen Lüge trage, so ist sie doch eben eine Unwahrheit. Und wenn ich aus dieser heraus im guten Glauben handle, dann ist meine Handlung von der ihr zugrundeliegenden Lüge infiziert.
Es genügt offenbar nicht, das Wissen, welches mir von außen zukommt, ungeprüft anzunehmen. Wollte ich wahrheitlich leben, so müßte ich nicht nur meine eigenen Äußerungen und Taten moralisch gestalten, sondern auch das Wissen, die Nachrichten, die mir von außen zukommen, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen.
Rudolf Steiner weist durch zahllose Beispiele auf die im allgemeinen Weltverständnis enthaltenen Unwahrheiten hin und zeigt durch die Resultate seiner übersinnlichen Forschung die tatsächlichen Weltzusammenhänge auf. Auch weist er sehr deutlich auf gravierende Täuschungen und bewußt gesetzte Lügen in der Entwicklungsgeschichte hin, welche die Menschheit in eine sehr bedenkliche Lage gebracht haben.
Da stellt sich dem Leser allerdings sogleich die Frage: Woher weiß man, ob gerade das, was Rudolf Steiner behauptete, wahr ist? Diese nur allzu verständliche Frage stellt sich gegenüber den sehr ungewöhnlichen Angaben der geistigen Forschung um so mehr. Doch diese Abhandlung wird zeigen, daß die Geisteswissenschaft ein ganz besonderes Verhältnis zur Wahrheit hat, sie zeigt, daß die eigentliche Wahrheit der Welt nur im Geistigen zu finden ist. Im Kapitel „Anthroposophie und Wahrheit“ wird diese Frage ausführlich behandelt. Doch schauen wir zunächst, was Rudolf Steiner über geisteswissenschaftliche Gedanken bezüglich der Wahrheit sagt.
„Der Geistesforscher tritt seinem Schüler entgegen mit der Zumutung: nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken, es zum Inhalte deiner eigenen Gedankenwelt machen, dann werden meine Gedanken schon selbst in dir bewirken, daß du sie in ihrer Wahrheit erkennst.“
Jenes neue Denken, welches Rudolf Steiner seinen Lesern und Zuhörern zu vermitteln sucht, entwickelt auch ein Gespür für Wahrheit, es wird wahrheitsfähig. Man fühlt dann einfach, ob ein Gedanke wahr ist oder nicht. Dies ist freilich kein Beweis im üblichen Sinne, doch für jeden, der sich auf die Geisteswissenschaft einläßt, ist es am Ende mehr als ein Beweis.
Je tiefer man nun in die geistige Wissenschaft Rudolf Steiners vordringt, desto deutlicher wird die Erkenntnis, daß ungeheuer vieles von dem, was man als Wahrheiten in sich aufgenommen hat, von Unwahrheit und Lüge durchsetzt sein muß. Und je weiter man vordringt, desto mehr erweist sich die Frage nach der Wahrheit als ein Abgrund. Dies ist gewiß ernüchternd, ja niederschmetternd, doch es birgt in sich die große Möglichkeit, durch das vertiefte Studium der Anthroposophie zu einem wahrheitstreuen Leben zu gelangen, aus dem meiner Überzeugung nach allein die konstruktiven Kräfte für eine gedeihliche Zukunft hervorgehen können. Damit erführe die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners ihre angemessene Würdigung als Quelle der Wahrheit und der Heilung der Menschen.
Wer mit dem Werk Rudolf Steiners bereits vertraut ist, wird keine Zweifel mehr hegen gegenüber der Glaubwürdigkeit der Angaben Steiners. Wer aber dessen Werk noch nicht oder nur wenig kennt, sollte seinen Zweifeln treu bleiben. Ich empfehle daher, die vielen sehr ungewöhnlichen Angaben Steiners möglichst unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen und mit dem Urteil zu warten, bis alle Aussagen erfaßt wurden. Denn – wie gesagt – teilt sich die tatsächliche Wahrheit der Seele auf ihre eigene Weise mit, auch wenn man noch nicht in der Lage ist, die Angaben durch eigene geistige Anschauung zu überprüfen. Die Voraussetzung dazu sind Offenheit und Unvoreingenommenheit. Blinder Glaube verhindert das Empfinden der Wahrheit ebenso wie Unglaube und Vorurteil.
»Wahrsein ist ein Ideal, das die Seele des heutigen Menschen vor sich hinstellen sollte. Denn Gedanken sind Wirklichkeiten. Und wahre Gedanken sind heilsame Wirklichkeiten.«
»Wahrheiten in sich aufnehmen, bedeutet nämlich nicht nur etwas für die Erkenntnis, sondern Wahrheiten als solche enthalten Lebenskraft. Und indem wir uns mit der Wahrheit durchdringen, durchdringen wir uns in unserem Seelischen mit einem Elemente der Welt, wie wir uns durchdringen müssen in unserem Leiblichen fortwährend mit der von außen aufgenommenen Luft, damit wir leben können.«
»… aber die Wahrheit kann nicht vollständig unterdrückt werden, aus dem Grunde, weil sie – und das ist jetzt bildlich ausgesprochen – gewissermaßen die Schwester der menschlichen Seele ist.«
»Wahrheit ist durchaus etwas in der Welt, was sich durch seine Fruchtbarkeit, durch seinen Segen für die Menschheit selber rechtfertigt.«
»Die Wahrheit wird dasjenige sein, was die höchsten Impulse für die Menschheitsentwickelung abgeben wird, und näher soll mir die Wahrheit stehen als ich mir selber… Nicht durch unser Wollen, wohl aber durch die göttliche Kraft der Wahrheit selbst wird diese Wahrheit siegen.«
»Dem Geisteswissenschafter sollte es nun klar sein, daß bildend, entwickelnd, aufbauend, wachstumsfördernd nur das Leben der Menschen in der Wahrheit sein kann…«
»Was müssen wir denn suchen für eine Erkenntnis? Eine diese Krankheitsanlagen unseres eigenen Organismus heilende Erkenntnis. Wir müssen wiederum den Weg zurück finden zu der Auffassung, daß alle Erkenntnis, insofern sie an den Menschen heran will, einen medizinischen Charakter habe. Wir müssen wiederum den Begriff bekommen können, daß wir Erkenntnis um des Heilens willen zu suchen haben, daß Medizin nicht nur ist auch eine Erkenntnis unter anderen Erkenntnissen, und daß alle Erkenntnis im Entwickelungsprozeß der Menschheit ein Heilfaktor sein muß, weil die Menschheit es nötig hat, dasjenige, was in ihr auf dem physischen Plane entsteht, fortwährend geheilt zu bekommen. Nicht derjenige redet der Menschheit das Richtige vor, der ihr ein irdisches Paradies verspricht, sondern derjenige allein redet die Wahrheit, der den Menschen klarmacht: Auch wenn wir alles tun, um brauchbare irdische Zustände herzustellen, so muß der Mensch seinen Zusammenhang mit der geistigen Welt suchen! – Denn selbst die besten irdischen Zustände müssen fortwährend geheilt werden, geheilt werden bis in den menschlichen Organismus hinein. Auch dieser ist fortwährend mit Krankheitsanlagen durchsetzt. Das heißt, es muß ein Geistesleben in der Menschheit da sein, welches die Kraft hat, heilende Mächte aus sich heraus zu bilden.«
»Und man glaube nicht, daß Gedanken, daß Behauptungen nicht objektive Mächte sind. Sie sind objektive, reale Mächte. Und es ist ganz unausbleiblich, daß sie ihre Wirkungen nach sich ziehen… Unsere Gedanken… werden sich in den Taten der Zukunft entladen.«
Aus diesen Sätzen des großen Eingeweihten des 20. Jahrhunderts spricht schon so unendlich viel. Und es würde vollkommen genügen, wenn Sie, lieber Leser, nur diese Sätze immer wieder in Ihrer Seele bewegen und nach und nach die sich ergebenden Konsequenzen aus dem Gesagten ziehen würden. Sollte Ihnen dies aber nicht genügen, sind Sie herzlich eingeladen zu einer abenteuerlichen Reise in das unbekannte Land der Wahrheit.
Es hat sich mir stets als äußerst hilfreich erwiesen, zu Beginn einer jeden Erörterung die darin verwendeten zentralen Begriffe zu erklären. Dadurch lassen sich zahllose Mißverständnisse vermeiden. Die zentralen Begriffe dieser Schrift sind Wahrheit und Heilung. Beginnen wir mit der Wahrheit. Versuchen wir zu erklären, was Wahrheit ist. Fragen wir uns also, welche Idee steht hinter dem Wort »Wahrheit«?
Das Wort ist lediglich der Name einer bestimmten Idee – in diesem Falle der Name für die Idee der Wahrheit. Ideen aber sind gedanklicher Natur. Das Wort dagegen ist wahrnehmlich, beziehungsweise wahrnehmbar. Es wird gehört, gelesen oder gesprochen. Seine Bedeutung aber muß gedacht werden. Worin besteht nun also die Idee der Wahrheit? Was erscheint als Gedanke bei dem Wort »Wahrheit«?
Bei längerem Nachdenken zeigt sich, daß Wahrheit sich immer auf Gedanken bezieht. Wir fragen uns nicht, ob Gegenstände oder Vorgänge wahr sind, sondern ob unser Denken über diese wahr, das heißt zutreffend ist oder nicht. Ist es wahr, so gilt dies nicht nur für den Denkenden, sondern prinzipiell für alle Menschen, die in der Lage sind, den Gedanken zu erfassen. Wahrheit ist also etwas Überpersönliches, Objektives. Wenn ich zum Beispiel im Regen stehe und behaupte: »Es regnet!«, so ist diese Behauptung wahr. Und jeder, der sich an meinen Standort stellt, wird finden, daß meine Behauptung eine Wahrheit ist, daß sie wahr ist.
Der Grund, weshalb der Mensch so sehr auf die Wahrheit angewiesen ist, liegt darin, daß jede Wahrnehmung erst dann verstanden werden kann, wenn der erklärende Gedanke – genauer der Begriff – ihr hinzugefügt wurde. Wahrnehmung und Begriff zusammen ergeben die erstrebte Erkenntnis, welche die Grundlage für unser Verhalten, für unsere Handlungen bildet.
Die Wahrnehmung kann nicht falsch, unzutreffend oder irrtümlich sein. Deswegen trägt sie den Namen »Wahrnehmung«. Da nimmt der Mensch von dem, was stets wahr ist, er nimmt wahr. Falsch, unzutreffend, irrtümlich kann nur der die Wahrnehmung erklärende Gedanke sein. Ohne diesen Gedanken weiß der Mensch nicht, was er wahrnimmt. Durch den Gedanken oder Begriff erfährt er es. Aber stets besteht die Gefahr, daß der Mensch sich im Gedanken irrt. Er ordnet der Wahrnehmung den falschen Gedanken, beziehungsweise Begriff zu, mit der möglicherweise fatalen Folge, daß sein daraus resultierendes Verhalten Schaden und Mißverständnis hervorruft. Erkenntnis tritt also ein, wenn mein Gedanke wahr ist. Bei unwahren Gedanken spricht man von Irrtum.
Aus dem Dargestellten folgt, daß Erkenntnis, daß wahre Gedanken das zentrale und wichtigste Streben des denkenden Menschen darstellen.
Über die Wirkung der Erkenntnis sagt Rudolf Steiner auch das Folgende:
»… die Erkenntnis ist die ernsthafteste Angelegenheit des menschlichen Lebens. Und derjenige, der alle die Dinge weiß, um die es sich bei der menschlichen Natur handelt und nur ein wenig den Willen hat, diese Dinge nicht im egoistischen Sinne zu nehmen, sondern sie objektiv zu denken und zu empfinden, der hat in der Erkenntnis zugleich ein wichtiges Heilungsmoment. … Man hat es nur dann nicht, wenn man ganz in seiner subjektiven Natur steckenbleiben, wenn man aus ihr nicht herauskommen will.«
»Je mehr man in der Lage ist, von sich abzusehen und das Allgemein-Weltliche, das Allgemein-Menschliche zu verstehen sucht, desto mehr hat man auch ein Heilmittel an der Erkenntnis.«
Die Zitate lassen deutlich werden, daß es keineswegs gleichgültig ist, ob ein Mensch die Welt um sich herum wirklich erkennt oder ob er sich nur soweit für diese interessiert, als ihm dies nützlich erscheint. Die heilende Wirkung der Wahrheit hat also auch eine moralische Komponente. Je selbstloser ein Mensch zu leben versteht, desto wahrheitsgetreuer ist er, denn das rücksichtslose oder auch nur gedankenlose Verhalten ist insofern der Wahrheit nicht gemäß, als der Betreffende meint, sich durch sein Verhalten Vorteile zu verschaffen. Wahr ist, daß ihn dieses Verhalten im Nachtodlichen um so mehr beschäftigen wird und in einem der nächsten Leben als ein auszugleichendes Karma entgegentritt.
Die Wahrheit ist also ein klar zu definierender Sinnzusammenhang, der nur von wenigen Menschen in der richtigen Weise verstanden wird. Viele denken wohl, daß es eine Weltwahrheit geben kann, aber daß diese ihnen in keiner Weise zugänglich sei. Andere leugnen die Existenz einer Wahrheit ganz. Sie glauben, daß alles Wahrnehmen und Denken des Menschen rein subjektiv sei. Diese häufiger anzutreffende Auffassung ist jedoch bei näherem Hinsehen schwer aufrecht zu erhalten. Denn es würde wohl kaum den Begriff der Wahrheit geben, wenn diese nicht existierte.
Soviel zunächst zum Begriff der Wahrheit. Kommen wir dann zu dem sehr umfassenden Begriff der Heilung. Was ist Heilung?
Um die Sache nicht zu schwierig und umfangreich werden zu lassen, will ich an dieser Stelle nicht auf all die esoterischen Aspekte dieses Themas eingehen. Aber soviel dürfte jedem klar sein, daß Heilung jener Prozeß ist, der ein Krankes wieder in den gesunden Zustand zu versetzen vermag. Ein durch Krankheit verlassener Normal- oder Ideal-Zustand wird durch Heilung wieder errungen. Sie ist der Weg vom Kranken zum Gesunden. Soweit zum Begriff der Heilung.
Wenn wir uns jetzt, nachdem wir die Begriffe charakterisiert haben, den Titel dieser Abhandlung noch einmal vornehmen, so bedeutet er: Nach Rudolf Steiner soll die Wahrheit, also die wirklich zutreffenden Gedanken, die sich der Mensch über die Welt und sich selbst bildet, dazu beitragen, daß der Mensch aus einem angekränkelten Zustand wieder dem gesunden Zustand seines ganzen Wesens nähergebracht wird. Die bloße Wahrheit ist ein den Menschen aufbauendes Element, denn wie wir schon von Rudolf Steiner erfahren konnten, ist die Wahrheit die Schwester der menschlichen Seele.
Nun findet man heute die Auffassung weit verbreitet, daß es keinerlei übergeordnete Wahrheit gäbe. Man hört sehr oft Menschen sagen, daß doch jeder seine eigene Wahrheit habe, jeder würde die Dinge etwas anders sehen und das wäre doch auch »in Ordnung«. Nun, selbstverständlich, man soll schon jedem seine eigene, subjektive Meinung, seinen Glauben, seine Auffassung oder Ansicht zugestehen. Das hat jedoch nichts mit der hier gesuchten Wahrheit zu tun. Denn bei ihr handelt es sich gerade nicht um etwas Subjektives. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. Wenn man mir sagt: »Gehen Sie in den zweiten Stock und fragen Sie nach Herrn Wedemeyer!«, und ich – im zweiten Stock angekommen – den ersten Mann, den ich treffe, frage: »Sind Sie Herr Wedemeyer?«, dann würde ich wohl kaum zufrieden sein, wenn er antwortete: »Nach meiner Meinung nicht!«, denn dies ist keine Frage einer Meinung oder Auffassung, keine Frage eines Subjektiven, sondern eine objektive Sache. Ich würde vermutlich antworten: »Ja, läßt sich das denn nicht eindeutig und wahrheitsgemäß feststellen? Sie müßten doch wissen, wer Sie sind.« Ich spreche damit den Herrn auf ein Überpersönlich-Gültiges, ein Objektives an und das ist eben keine Meinung, keine Auffassung, kein Standpunkt oder eine Sichtweise, sondern die eine und einzige Wahrheit. Gewiß ist damit noch nicht geklärt, wie man im Einzelfalle zur Wahrheit kommt. Und auch das ist wahr, daß es vielen Menschen nicht so gut gefällt, daß es eine objektive Wahrheit geben soll, denn es ist in gewisser Weise recht bequem, zu denken, daß man keiner Objektivität verpflichtet sei. Man schafft sich damit die Legitimation, in seinen Meinungen schwelgen und dabei stehenbleiben zu dürfen, ohne nach Wahrheit zu suchen.
Da erinnere ich einen Mathematiker, der in einem meiner Kurse zu Gast war und sich unsere Begriffsbeschreibungen aufmerksam anhörte und am Ende sinngemäß sagte: Hier werden so ganz einfach die Begriffe von Wahrheit und Wirklichkeit definiert und es klingt zunächst auch ganz plausibel. Aber ob das Gesagte wirklich auch wahr ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Daraufhin fragte ich ihn, was er denn statt dessen als wahr betrachte. Da sagte er, daß er das natürlich nicht so direkt wisse, daß ihn das auch nicht so sehr interessiere und daß er sich da auch nicht festlegen wolle. Das menschliche Denken sei subjektiv, soviel stehe fest. Ja, sagte ich zu ihm, sie glauben also, daß es wahr ist, daß es keine Wahrheit gibt. Und damit hatte er sich selbst widerlegt, allerdings ohne dies einsehen zu wollen. Seine Auffassung sei, so meinte er, die gängige Auffassung der heutigen Wissenschaft – und die sei ja doch wohl unumstritten wahr. Nun ja, arme Wissenschaft – ich jedenfalls muß ihre Gültigkeit in diesem Punkt bestreiten. Wenn man sicher weiß, daß es keine Wahrheit gibt, dann hat man aber doch gerade eine solche gefunden, will dies aber offenbar nicht zugeben. Man sagt: »Es gibt keine Wahrheit« und will damit ausdrücken, daß dies etwas überpersönlich Gültiges sei. Aber damit erfüllt man bereits alle Anforderungen des Wahrheitsbegriffes, kurioserweise zu keinem anderen Zweck, als um dessen Existenz zu leugnen.
Rudolf Steiner klärt das Phänomen der Wahrheitsleugnung recht ausführlich im 5. Kapitel seines Buches »Die Philosophie der Freiheit«.
Im folgenden Zitat ist neben dem überaus wichtigen Hinweis, daß die Wahrheit direkt aus der geistigen Welt an den Menschen herantreten kann, noch auf einen anderen Aspekt des problematischen Umganges mit der Wahrheit verwiesen.
»Der Mensch nimmt heute nicht gern Wahrheiten entgegen, weil er gar nicht glaubt, daß Wahrheiten etwas sein könnten, was unmittelbar aus der geistigen Welt hereintritt und an die Menschen herankommt. Der Mensch der Gegenwart glaubt, Wahrheit kann nur etwas sein, was absolut auf seinem Grund und Boden wächst. … Heute hat jeder seinen Standpunkt, und jeder glaubt, daß auch auf dem unvorbereiteten Boden die absolute, allein sichere Wahrheit wächst. Die Menschen sind nicht geneigt, Wahrheiten entgegenzunehmen, sondern sie ernennen sich zum Besitzer der Wahrheit.«
Noch ein weiteres Beispiel heutiger Denkweise sei angeführt, welches auf die Leugnung von Objektivität und Wahrheit hinausläuft. In einer Buch-Rezension konnte ich lesen, daß ja eigentlich jeder wisse, daß die menschliche Wahrnehmung diversen Täuschungen unterliege, daß sie gewissermaßen Irrtümer erzeugen würde. Als Beispiel wurde genannt, daß allein schon der Blick auf die in die Ferne verlaufenden Bahngleise die Täuschung entstehen lasse, daß diese sich mit der Entfernung verengen. Zwar wisse der Mensch durch Erfahrung, daß dies eine Täuschung, ein Irrtum, sei, doch im Falle anderer Wahrnehmungen wisse er eben nicht, daß sie ihn täuschen. Man müsse daher stets die allgemein bekannte Subjektivität des eigenen Erkennens berücksichtigen, ja, man solle sich gar nicht erst einbilden, daß man Wahrheit und Objektivität erreichen könne.
Nun, der Autor jenes Buches hatte Recht, denn er bemerkte seinen eigenen Irrtum auch nicht. Allerdings glaubt er, daß die Irrtümer durch die Wahrnehmung entstehen würden, und das ist nun sein Irrtum. Wie man an seinem Beispiel sieht, entstehen die Irrtümer allein im Denken. Schauen wir seinen vermeintlichen Beweis für die irrtümliche Wahrnehmung noch einmal an.
Zunächst glaube ich nicht, daß irgendein gesunder erwachsener Mensch je denken würde, daß es sich bei der Verjüngung der Bahngleise um etwas anderes als perspektivische Erscheinungen handelt. Das enthält doch schon der Gedanke, welchen der Mensch sich zur Erklärung der angeschauten Bahngleise bildet. Der Gedanke sagt: Die Gleise verlaufen in die Ferne und erscheinen deshalb enger in der Ferne als in der Nähe. Der Irrtum über diesen Zusammenhang entsteht, weil gewöhnlich angenommen wird, daß der Mensch seine Erkenntnisse allein aus der Wahrnehmung generieren würde. Das ist aber nicht der Fall. Wahrnehmung für sich hat keinen Inhalt. Diesen fügt erst das Denken hinzu. Würde es gelingen, das Denken vollkommen zu unterdrücken, so würde – gleichgültig, was gerade wahrgenommen beziehungsweise angestarrt wird – keinerlei Kenntnis entstehen. Man würde nicht wissen, daß man etwas anstarrt. Erst das Denken macht den Menschen auf die Wahrnehmung aufmerksam. Zu wissen, daß man etwas wahrnimmt, kann nur aus dem entsprechenden Gedanken entnommen werden. Ja, selbst zu wissen, daß man existiert und daß man Augen und Ohren geöffnet hat, kann nur durch den dies beinhaltenden Gedanken gewußt werden. Wer diese Tatsache nicht berücksichtigt, wird dem Verstehen seiner selbst als Mensch und dem Verstehen der übrigen Welt nicht näherkommen können. Das Problem der Wahrheit und des Subjektiven stellt sich also nicht gegenüber der Wahrnehmung, sondern gegenüber dem Denken. Wahrnehmung ist – wie bereits beschrieben – grundsätzlich vom Objekt kommende Wirkung, sie ist das, was wirkt, die Wirklichkeit, die als solche im Menschen abgebildet wird, um vom Denken erklärt zu werden. Wahrnehmung kann grundsätzlich nur objektiv sein, auch wenn der Mensch nicht alle auf ihn einwirkenden Qualitäten erkennen kann. Eine Subjektivität des Wahrnehmens kann überhaupt nur in der eingeschränkten oder begrenzten Wahrnehmungsmöglichkeit durch den eigenen Standort oder durch gewisse Sinnesschwächen wie zum Beispiel Farbenblindheit oder Schwerhörigkeit gesehen werden, was aber angesichts der Funktion des Denkens von untergeordneter Bedeutung ist. Entscheidend ist das Denken für das Erkennen des Menschen. Entscheidend ist vor allem, ob das verwendete Denken ein objektives ist, denn hier ist nun die für das Erkennen relevante Subjektivität möglich – dann nämlich, wenn Wissen anderer ungeprüft übernommen wurde und zur Anwendung kommt. Dann stammt der Gedanke vom Subjekt. Dann spricht sich in ihm nicht das Objekt aus.
Der Grund für die Leugnung der Wahrheit und der damit verbundenen Verwirrungen ist darin zu suchen, daß etwa seit der Mitte des 15. Jahrhunderts der Mensch mehr und mehr in eine neue Art des Denkens hätte hineinwachsen sollen, was auch teilweise geschah, aber dann doch im 19. und 20. Jahrhundert wieder in Vergessenheit geriet. Die noch heute bewunderten Künstler der europäischen Klassik haben ihre Werke durch dieses neue, schöpferische Denken hervorbringen können. Dieses Denken hätte von der Allgemeinheit übernommen werden sollen, was jedoch nicht geschah. Im Gegenteil, die Zahl der wirklich schöpferischen Künstler ging zurück und heute fußen die gesamte Wissenschaft, die Pädagogik und das Lehrwesen allein auf dem alten Verstandes-Denken, welches nicht in der Lage ist, Neues hervorzubringen und Wahrheit zu erkennen. Eigentlich sollte der heutige Mensch seine Gedanken immer wieder neu erzeugen. Er sollte sich von den Objekten sagen lassen, wie sie sind, was in ihnen an Impulsen, an Sinn, liegt, was sie können und wessen sie bedürfen. Statt dessen aber versucht man nach der Manier des alten Menschen, für alles feste Wissens-Sätze zu bilden ähnlich den kirchlichen Dogmen. Man will festlegen, wie alles sei und wie der Mensch sich verhalten muß. Und gerade an dieser Diskrepanz zwischen dem freiheitlich Schöpferischen, welches die Welt gestalten sollte, und dem dogmatisch Festgelegten, welches noch immer als das wissenschaftlich korrekte Vorgehen angesehen wird, krankt die heutige Menschheit.
Der Verstand des Menschen übernimmt Gedanken von anderen Menschen, ohne sie selbst nachgeschaffen zu haben und verwendet sie, als handele es sich um sicheres Wissen. Man könnte zum Beispiel einem Kind sagen, daß Regenwürmer schädlich für den Boden seien und daß deshalb die Amseln und Drosseln die Würmer aus dem Boden ziehen und fressen würden. In diesem Falle würde das Kind wahrscheinlich glauben, was man ihm sagt, und diesen Gedanken wie eine Wahrheit annehmen. Wann immer es dann im folgenden Leben auf Regenwürmer träfe, würde es denken, daß es sich um Schädlinge handele, bis es von der Falschheit dieses Gedankens überzeugt werden kann. Man erkennt unschwer, daß in einer solchen Weise, willentlich oder auch versehentlich, falsche, unzutreffende Gedanken im blinden Vertrauen von Kindern und überhaupt vom Menschen übernommen werden können. Darin liegt eine große Gefahr, denn es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Vorgang, der überaus häufig vorkommt. Aber in einem solchen Falle wäre der Gedanke, mit dem das Kind sich einen jeden wahrgenommenen Regenwurm erklärt, um einen gewissen Faktor irrtümlich, fehlerhaft, falsch. Und man kann nicht von einem objektiven Gedanken sprechen, denn er ist nicht das, was beobachtete Regenwürmer den unvoreingenommenen Menschen denken machen, sondern das Kind erinnert bloß immer wieder, was man ihm einmal beigebracht hat. Auch wenn ein Mensch von sich aus gewisse Erklärungen für fragliche Zusammenhänge erfindet, zusammenkombiniert, kommt es sehr leicht zu Irrtümern. Denn der heutige Mensch ist nicht gewohnt, auf alles Denken zu verzichten und zu warten, was das fragliche Objekt ihn denken macht. Das wäre dann nämlich ein objektiver Gedanke. Die gewöhnliche Art der Gedanken, das Erinnerte oder Zusammenkombinierte kann man als subjektiv bezeichnen. Auf jeden Fall ist solches Denken nicht objektiv, es kommt nicht vom Objekt, sondern aus dem Subjekt.
Das objektive Denken bezeichnet Steiner auch als Goetheanismus, weil Goethe für sich diese Form als die richtige wissenschaftliche Art, die Welterscheinungen zu studieren, erkannt hatte. Er konnte bei jedem fraglichen Objekt sein ganzes Wissen schweigen lassen und warten, bis ihm das Wesen des Objektes innerlich aufging. Diese Art des Denkens aber bezeichnet Steiner als die heute notwendige, um den ebenso notwendigen Schritt zur Spiritualisierung unserer Kultur vollziehen zu können. Damit seine Leser das Neue Denken würden ergreifen können, schrieb Rudolf Steiner »Die Philosophie der Freiheit« als ein Übungsbuch zur Erkraftung des Denkens. Leider haben nicht viele Menschen seinen Absichten Folge leisten können und so blieb die notwendige Spiritualisierung Mitteleuropas vorerst aus. Die Folge davon war, daß der erste Weltkrieg und alles, was dem nachgefolgt ist, nicht vermieden werden konnte.
Die Seelen der heutigen Menschen sind eingerichtet auf ein frei erwägendes, objektives Denken, doch die dogmatische Kultur läßt uns allein das alte, mit Subjektivität behaftete Denken ausüben. Zur Wahrheit im Denken kämen wir aber erst durch jenes frei erwägende Denken, auf welches Rudolf Steiner hinweist.
Das neue Denken ist ein produktives, schöpferisches, welches vom Objekt ausgehend sich dem Menschen mitteilt. Das intensive fragende Vertiefen in ein Objekt bringt dessen Wesen im Denken zum Vorschein. Und fragen wir uns nach solchermaßen gewonnenen Erkenntnissen auch noch, ob das Erkannte auch wirklich wahr sei, so kann sich auch der neue Wahrheitssinn ausbilden. Dann lernt man zu spüren, ob ein Gedanke wahr oder unwahr ist. So wird das Denken wahrheitsfähig.
Um diese Schrift nicht zu kompliziert werden zu lassen, will ich von tiefergehenden Fragen des menschlichen Erkennens absehen. Das Neue, Revolutionäre für den hier bewegten Zusammenhang besteht zunächst darin, zu sagen: Das Denken kann objektiv und wahrheitsfähig werden. Dies würde allerdings nicht von selbst aus der menschlichen Natur heraus entstehen, sondern dazu muß sich jeder Interessierte erst unter großen Anstrengungen durchringen.
Bleibt man beim heute üblichen Verstandes-Denken, so wird man sich eigentlich immer zu einem gewissen, recht großen Prozentsatz in der Unwahrheit bewegen. Insofern muß es nicht verwundern, daß wissenschaftlich geschulte Menschen, die ja oftmals ganz besonders im reinen, aber doch eben veralteten, dekadenten Verstand leben, solche Ungedanken hegen, wie, jeder habe seine eigene Wahrheit, die Welt sei bloß meine Vorstellung oder alles Denken sei subjektiv.
Ich möchte an dieser Stelle einmal deutlich davor warnen, dieses Faktum als harmlos anzusehen, nur weil doch heute jeder mit dem dekadenten Verstand und in übernommenen, aber meist ungeprüften Gedanken denkt. Es kommt nicht an auf das, was normal ist, sondern allein auf das, was wahr ist. Denn schon, wenn ein Mensch zu der Überzeugung kommt, daß es eine objektive Wahrheit geben müsse, beginnt er ganz anders zu leben. Ohne eine solche Überzeugung wird man den Sinn eines tieferen Nachdenkens über das Leben, die Welt und sich selbst nicht finden. Was sollte denn all das Denken bringen, wenn von vornherein feststeht, daß man Wahrheit nicht finden kann? Dann kann man es doch gleich sein lassen.
Man ist ganz anders gestimmt, sobald man erfahren hat, daß man durch eigene Anstrengung Wahrheit finden kann. Und sobald dies zur gesicherten Erkenntnis wird, erhebt sich eine moralische Frage. Und diese Frage möchte ich als eine der entscheidenden Fragen des Menschen bezeichnen. Sie lautet: Wenn Wahrheit existiert und ich grundsätzlich in der Lage bin, sie zu finden, bin ich dann nicht verpflichtet, sie in jedem Falle zu suchen und so ich sie finde, nach ihr zu handeln, zu leben? Eine äußerst schwerwiegende Frage, an der man aber schon das Aufbauende, Heilende, Helfende, welches mit der Wahrheit zusammenhängt, aufblitzen sehen kann.
Wer aber zu dieser Frage vordringt, wird sich auch die wichtigste aller Fragen stellen wollen, nämlich die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins und dem Sinn der Welt, auf welche im dritten Teil des Buches eingegangen wird. Ohne Aussicht auf Wahrheit jedoch, mag man solche Fragen nicht stellen und verbleibt in einem unwissenden und irrtümlichen Zustand. Das bleibt nicht ohne Folgen und die Folgen sind prinzipiell entkräftender, mutverzehrender und die Gesundheit schädigender Art. Weiß man aber von der Wahrheit oder glaubt man wenigstens daran, sie finden zu können, so wird das natürliche Interesse an der Welt wieder erwachen und den Betreffenden befeuern, immer weiter und weiter zu forschen. Lebensmut, Sinn und Zuversicht gehen aus solcher Erkenntnis hervor und zeigen einmal mehr, daß Wahrheit wirklich ist und heilt.
Die folgenden Zitate aus Rudolf Steiners »Theosophie« zeigen, wie Steiner den Gedanken der übergeordneten Wahrheit vor seinen Lesern ausbreitet. Die irrige Idee, daß alles menschliche Erkennen subjektiv sei und daß es keine über alles Persönliche hinaus gültige Wahrheit gäbe, war sehr häufig Thema der Auseinandersetzungen Steiners. Denn diese Auffassung versetzt den Menschen in eine gewisse denkerische Inaktivität, weil er nicht an die allgemeine Gültigkeit seines Denkens glaubt. Immer wieder versuchte Steiner, seine Zuhörer aus der denkerischen Lethargie herauszureißen und zu einem aktiven Ergreifen der Welterscheinungen im Denken zu bewegen. Man müsse die Bequemlichkeit überwinden, sein Denken erkraften und zur Wahrheitsfähigkeit steigern, dann würden Ideen, wie die von der Subjektivität des Erkennens und ähnliche, sich ganz von selbst als irreal erweisen. Leider hatten diese Anregungen und Appelle nicht den gewünschten Erfolg. Nach meiner Einschätzung konnten bisher nur sehr wenige Menschen ihr Denken zu jener höheren Form steigern. Die große Masse der Menschen blieb bei dem längst dekadent gewordenen Verstandes-Denken, welches in sich nicht produktiv, nicht schöpferisch und ebenso wenig wahrheitsfähig ist. Deshalb leben auch die angesprochenen Ideen zu Subjektivität und Wahrheit unangefochten weiter. Dabei habe ich den Eindruck, daß es so manchem ganz recht ist, wenn er sich als subjektiv und nicht wahrheitsfähig ansehen kann, denn damit enthebt man sich sehr geschickt etwaiger moralischer Verpflichtungen. Gibt es nur Subjektivität und keine Wahrheit, ja, dann brauche ich auch nicht besonders wahrhaftig zu sein. Und tatsächlich, in Gesprächen konnte ich immer wieder einen gewissen Zorn aufwallen sehen gegen mein Eintreten für die Existenz von Objektivität und Wahrheit.
Die hier angesprochenen Probleme entstehen vor allem durch den alles Geistige leugnenden Materialismus unserer Zeit und die aus diesem resultierende Auffassung, daß allein die Wahrnehmung der Zugang des Menschen zur Welt sei. Das Denken verkommt in dieser Auffassung zu einem materiellen Nervenvorgang, der beim Erkennen keine besondere Rolle spielt. Der Mensch selbst wird zur Bio-Maschine degradiert. Man frage sich nur einmal, ob man denn wirklich nur eine Nerven-Software ist, oder ob da doch noch etwas wie eine Persönlichkeit, ein seelisch-geistiges Selbst, ein Ich vorhanden ist. Zahlreiche wissenschaftliche Theorien entstanden aus diesen materialistischen Mißverständnissen, wie zum Beispiel die Atom-, die Relativitäts- und die Urknall-Theorie, um nur einige zu nennen. Rudolf Steiner widerlegt sie alle und weist auf die wahre Rolle des Denkens hin, indem er sagt: »Ehe anderes begriffen werden kann, muß es das Denken werden«. Erkenne ich nicht, daß das Leben in den Welt-Ideen mein eigentlicher Zugang zur Welt ist, dann bleibt mir dieselbe verschlossen, meine Theorien treffen ins Leere. In Wahrheit schaffen und erhalten die geistigen Welt-Ideen die äußere physische Welt. Das ist das Welten-Denken. Und der Mensch nimmt objektbezogen und ausschnittweise an dem Weltendenken teil. Das ist sein Denken, wenn es objektiv ist, wenn die Objekte sich ihm anvertrauen dürfen. Und es kann nicht stark genug betont werden, wie wahr es ist, wenn Steiner sagt: Ehe man nicht das Denken in seiner ganzen Tragweite begriffen hat, wie er es in »Die Philosophie der Freiheit« beschreibt, ist man nicht in der Lage, irgend etwas anderes zu begreifen. Das ist eine der ganz großen Wahrheiten.
Man sehe nur zum Beispiel die Urknall-Theorie an. Da wird behauptet, daß alles zufällig geschehen und entstanden sei und daß nichts in der Welt absichtlich, sondern nur zufällig sinnerfüllt zum Rest der Welt stünde. Demnach wäre aber die natürliche Weltordnung eine zufällige, von niemandem gewollte – so kann diese Theorie ausgelegt werden. Kann man das an irgendwelchen Erscheinungen beobachten? Ich finde nicht. Beobachtet werden kann nur eine tiefe Sinnhaftigkeit, die in allem waltet. Wie können Wissenschaftler trotzdem an solche Theorien glauben?
Rudolf Steiner spricht von der Weltenordnung. Würde diese auf Zufall basieren, so wäre sie keine Ordnung, sondern ein Chaos von unzusammenhängenden Einzelheiten. Dann aber hätten wir Lücken in der Landschaft und Löcher im Himmel. Was wir in Wirklichkeit in der Welt vorfinden, ist eine außerordentlich weise Weltordnung, deren Weisheit die des Menschen bei weitem übersteigt. Die tiefe Sinnhaftigkeit im Zusammenwirken der Erscheinungen zeigt aber, daß der Welt ein Plan, eine Absicht zugrunde liegen muß anstelle des Zufalls. Wer dies nicht anerkennen will, der leugnet, daß sein Hals eigentlich ganz sinnvoll zwischen Kopf und Rumpf eingepaßt wurde, so als hätte man ihn auch zwischen Brust und Bauch anbringen können. Das Argument, es habe sich eben alles einzig so als überlebensfähig herauskristallisiert, tut dem keinen Abbruch, denn auch diese Auffassung anerkennt letztlich eine gewisse Sinnhaftigkeit als der Schöpfung zugrunde liegend. Diese populären Vorstellungen sind nur der Beweis für die geringe Mühe, die der heutige Mensch beim Bedenken der Welt aufbringt.
»Durch das Denken wird der Mensch über das Eigenleben hinausgeführt. Er erwirbt sich etwas, das über seine Seele hinausreicht. Es ist für ihn eine selbstverständliche Überzeugung, daß die Denkgesetze in Übereinstimmung mit der Weltordnung sind. Er betrachtet sich deshalb als ein Einheimischer in der Welt, weil diese Übereinstimmung besteht. Diese Übereinstimmung ist eine der gewichtigen Tatsachen, durch die der Mensch seine eigene Wesenheit kennenlernt. In seiner Seele sucht der Mensch nach Wahrheit; und durch diese Wahrheit spricht sich nicht allein die Seele, sondern sprechen sich die Dinge der Welt aus. Was durch das Denken als Wahrheit erkannt wird, hat eine selbständige Bedeutung, die sich auf die Dinge der Welt bezieht, nicht bloß auf die eigene Seele. Mit meinem Entzücken über den Sternenhimmel lebe ich in mir; die Gedanken, die ich mir über die Bahnen der Himmelskörper bilde, haben für das Denken jedes anderen dieselbe Bedeutung wie für das meinige. Es wäre sinnlos, von meinem Entzücken zu sprechen, wenn ich selbst nicht vorhanden wäre; aber es ist nicht in derselben Weise sinnlos, von meinen Gedanken auch ohne Beziehung auf mich zu sprechen. Denn die Wahrheit, die ich heute denke, war auch gestern wahr und wird morgen wahr sein, obschon ich mich nur heute mit ihr beschäftige. Macht eine Erkenntnis mir Freude, so ist diese Freude so lange von Bedeutung, als sie in mir lebt; die Wahrheit der Erkenntnis hat ihre Bedeutung ganz unabhängig von dieser Freude. In dem Ergreifen der Wahrheit verbindet sich die Seele mit etwas, das seinen Wert in sich selbst trägt. Und dieser Wert verschwindet nicht mit der Seelenempfindung, ebensowenig wie er mit dieser entstanden ist. Was wirklich Wahrheit ist, das entsteht nicht und vergeht nicht: das hat eine Bedeutung, die nicht vernichtet werden kann. – Dem widerspricht es nicht, daß einzelne menschliche «Wahrheiten» nur einen vorübergehenden Wert haben, weil sie in einer gewissen Zeit als teilweise oder ganze Irrtümer erkannt werden. Denn der Mensch muß sich sagen, daß die Wahrheit doch in sich selbst besteht, wenn auch seine Gedanken nur vergängliche Erscheinungsformen der ewigen Wahrheiten sind. Auch wer – wie Lessing – sagt, er begnüge sich mit dem ewigen Streben nach Wahrheit, da die volle, reine Wahrheit doch nur für einen Gott da sein könne, der leugnet nicht den Ewigkeitswert der Wahrheit, sondern er bestätigt ihn gerade durch solchen Ausspruch. Denn nur was eine ewige Bedeutung in sich selbst hat, kann ein ewiges Streben nach sich hervorrufen. Wäre die Wahrheit nicht in sich selbständig, erhielte sie ihren Wert und ihre Bedeutung durch die menschliche Seelenempfindung, dann könnte sie nicht ein einiges Ziel für alle Menschen sein. Indem man nach ihr streben will, gesteht man ihr ihre selbständige Wesenheit zu.«
Den Begriff der Weltordnung genauer zu bestimmen, erfordert einige Mühe. Dabei dürfte jedem klar sein, daß eine Ordnung nur unter mehreren Einzelheiten hergestellt werden kann. Die Ordnung selbst ergibt sich aus dem Verhältnis des einzelnen zum Gesamten und der Einzelheiten untereinander. Schaut man auf die Weltordnung, so sind alle Teile des Weltganzen in ihrer Beziehung zueinander vorzustellen. Tatsächlich steht jede einzelne Welterscheinung in einem ganz bestimmten Verhältnis zum Rest aller Erscheinungen. Und wollte man eine der Welterscheinungen vollständig erklären, so müßte man das Verhältnis dieser Erscheinung zum Rest der Welt erforschen. Das Verhältnis der Erscheinungen untereinander wäre dann die Weltordnung. Das Verhältnis einer einzelnen Erscheinung zum Rest der Welt nennt man aber auch den Sinn, der jener Erscheinung innewohnt. Der Sinn muß allerdings als etwas Höheres als der bloße praktische Zweck angesehen werden. Während ein Zweck die oftmals eng begrenzte Nützlichkeit einer Erscheinung für den Menschen beschreibt, kann der Sinn dem Zweck sogar gegenläufig sein. Wenn ich zum Beispiel den Stamm eines lebenden Baumes zum Annageln eines Zaunes verwende, ist das zwar ein zweifelhafter Zweck, aber gewiß nicht der Sinn des Baumes. Obwohl der Dienst, den die Bäume dem Menschen durch ihr Holz zu leisten in der Lage sind, auch als ein Teil ihres Sinnes angesehen werden kann, so ist dies doch eher eine Nebenerscheinung im gesamten Wesen der Bäume, die ja ihren Sinn im lebendigen Pflanzensein haben und weniger in der Produktion von totem Holz. Das Sein eines Baumes läßt sich nicht mit menschlichen Zwecken erklären, sondern besteht in einem großen, umfassenden Welten-Sinn, den der Mensch noch kaum fähig ist, zu umgreifen.
Wir sehen, daß man schon bei genauerer Erklärung des Begriffes der Weltenordnung auf den Sinn der einzelnen Welterscheinungen kommt. Bezüglich der Weltordnung sagt Rudolf Steiner in dem zitierten Absatz, daß die Denkgesetze mit der Weltordnung übereinstimmen und daß wir Menschen ganz selbstverständlich davon ausgingen, daß dies so sei. Das ist ganz gewiß wahr, aber niemand scheint sich darüber wirklich im Klaren zu sein. Denn hat man sich dies einmal wirklich vor Augen gestellt, gibt es schon keine Möglichkeit mehr, das gesamte Denken des Menschen für subjektiv zu erklären. Dies wird um so deutlicher, als die Bemerkung Steiners uns zu verstehen gibt, daß die Weltordnung in unserem Denken erscheint. Sie erscheint, indem wir zur Wahrnehmung der einzelnen Erscheinungen durch Denken den Sinn der Erscheinung finden und hinzufügen. Da die Denkgesetze mit der Weltordnung übereinstimmen, kann ich den Sinn einzelner Erscheinungen im Denken erfassen.
Erfasse ich aber den Sinn einer Welterscheinung auch nur auszugsweise, so nehme ich damit teil am geistigen Sein eines Teils der Welt, welcher wahr ist. Je mehr meine Gedanken nicht erlernte, übernommene Theorien etc. enthalten, sondern das, was aus den Welterscheinungen zu mir spricht und mich den Sinn miterleben läßt, erfülle ich mich mit Wahrheit, mit heilsamen Kräften. Heilsam wirkt menschliche Erkenntnis, wenn keine Differenz besteht zwischen der Welt und dem, was ich über sie denke. Denke ich aber zum Beispiel, der Mensch erkennt die Welt allein durch Wahrnehmung, so ist dies ein Irrtum, der eine Disharmonie zwischen mir und der Welt entstehen läßt, aus welcher schädigende Kräfte hervorgehen.
Indem Rudolf Steiner in seinen ersten Büchern, wie »Die Philosophie der Freiheit« oder »Theosophie«, die Wahrheit über das Denken zu verbreiten suchte, schaffte er der Menschheit ein starkes Werkzeug für die Rückkehr zur Wahrheit und schenkte und verordnete uns damit eine starke Medizin.
Durch das Buch »Das geheime Leben der Pflanzen« wurde die mitleiderregende Geschichte des amerikanischen Polizisten Baxter bekannt, der in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts beruflich mit dem Lügendetektor arbeitete. Der Lügendetektor mißt den elektrischen Hautwiderstand eines Menschen während eines Verhörs. Im Falle einer Lüge verringert sich der Hautwiderstand, weil dann die Haut mehr Schweiß produziert und damit die elektrische Leitfähigkeit zunimmt. Man kann also offenbar in einer Vielzahl von Fällen messen, ob der Proband die Wahrheit sagt oder lügt.
Eines Tages schloß der Polizist den Detektor an seinen Philodendron an, der in seinem Amtszimmer stand. Er wollte sehen, ob die Pflanze irgendwelche Reaktionen zeigen würde. Da man bei ihr nicht von Lügen ausgehen konnte, ersann er verschiedene Vorgehensweisen, die Pflanzen zu behandeln. Er schnitt Blätter und Triebe ab, ließ die Erde trocken werden, dann gab er der Pflanze Wasser oder auch Dünger, dann wieder gab er zuviel Wasser etc. Zu seiner Überraschung schlug der Lügendetektor stets aus. Offenbar gab es Veränderungen in der elektrischen Leitfähigkeit der Pflanzenoberfläche je nachdem, was der Polizist mit seinen Pflanzen anstellte. Alsbald bemerkte er, daß der Ausschlag des Detektors stets schon dann auftrat, wenn er bloß den Entschluß gefaßt hatte, dies oder jenes mit der Pflanze zu tun. Der Polizist und seine Kollegen waren erstaunt und begeistert. Sollte die Pflanze eine Seele haben, wie ein Tier oder ein Mensch? Er ging davon aus und versuchte seine Entdeckung bekannt zu machen, was ihm jedoch nicht recht gelingen wollte. Enttäuscht blieb er mit seiner Entdeckung zurück. Er glaubte nachgewiesen zu haben, daß Pflanzen beseelt seien.
Erst als Christopher Bird und Peter Tompkins ihr interessantes Buch 1977 (deutsche Ausgabe) veröffentlicht hatten, wurde Baxters Entdeckung vielen Menschen bekannt. Einige esoterisch gesinnte Menschen glaubten sowieso an Pflanzenseelen und würdigten seine Entdeckung. Der Durchbruch in die große Öffentlichkeit gelang allerdings auch diesmal nicht. Die Wissenschaft nahm von Baxters Entdeckung nach wie vor keine Notiz.
Die geistige Forschung Rudolf Steiners bezüglich der Beseelung von Pflanzen ergab, daß es zwar Pflanzen-Gruppen- oder Pflanzen-Gattungs-Seelen gibt, daß aber keine Pflanze in sich eine Seele, einen Astralleib trägt. Über diese Tatsache hat sich Rudolf Steiner sehr eindeutig ausgesprochen. Seine Begründung ist außerordentlich plausibel, leider aber zu umfangreich für diese Arbeit. Die alte vorchristliche Weisheit kannte jedoch diesen Zusammenhang. Das griechische Wort für »Seele« ist »Anima«, das englische Wort für »Tier« ist »Animal«. Und so kann man sagen: Das Mineral hat lediglich Form, es ist das Form-Wesen. Die Pflanze hat neben der Form auch noch Leben und ist das Lebe-Wesen. Das Tier hat neben Form und Leben auch noch eine Seele in jedem Exemplar und ist also das Seele-Wesen, das Animal, und der Mensch hat zusätzlich noch den Geist in Form seines Ich, er ist das Ich- Wesen. Insofern klingt auch aus der alten Weisheit herüber, daß Pflanzen ihre Gruppenseele nicht in sich tragen, sondern nur Tiere und Menschen. Dies mag vielleicht genügen, um deutlich zu machen, daß Baxter sich geirrt haben muß. Und da die Gruppenseelen der einzelnen Pflanzengattungen nicht in den Pflanzen anwesend, sondern außerhalb der materiellen Pflanzen in der geistigen Welt zu finden sind, können sie in diesen keine derartigen Wirkungen erzeugen. Daher können es auch nicht diese Gruppenseelen sein, von denen die Ausschläge des Lügendetektors verursacht wurden. Trotzdem bleibt die Frage: Was hat diese Ausschläge verursacht?
Tatsächlich zeigte sich bei jeder die Pflanze fördernden Maßnahme durch den Menschen ein – wie Baxter es nannte – positiver Ausschlag, bei einem negativen Vorgehen ein negativer Ausschlag. Wie kommt die Pflanze dazu? Wer reagiert da?
Die Beschreibungen Baxters machen schon darauf aufmerksam, daß er selbst ganz klare Vorstellungen hatte, was positiv und was negativ für die Pflanze sein müßte, und er wurde nie enttäuscht. Stets verhielt sich die Pflanze erwartungsgemäß. Das hätte schon Verdacht erwecken können, denn so einfach kann es doch nicht sein, daß die Pflanze all das auch positiv »empfindet«, was sich der Mensch für die Pflanze als positiv vorstellt. Und ebenso im negativen Falle. Das ist wirklich allzu menschlich gedacht.
Von Rudolf Steiner wissen wir nämlich, daß Pflanzen es in der Regel positiv »erleben«, wenn man ihnen etwas abpflückt, abfrißt oder abschneidet.