Mit seinen Tennisschlägern im Gepäck begibt sich Felix Hutt auf die Suche nach dem Glück – und dem einen ATP-Punkt, der ihn endlich in die Tennisweltrangliste bringt. Angefangen hat das alles, als Boris Becker zum ersten Mal Wimbledon gewann. Hutt sah das Match und ging danach mit einem Aluminiumschläger und einem Ball nach draußen und versuchte, diesen gegen das Garagentor zu schlagen. Ohne zu wissen, was mit ihm passierte, war er der größten Leidenschaft seines Lebens begegnet: Tennis. Sie sollte ihn nie mehr verlassen.
Viele Jahre und eine gescheiterte Tenniskarriere später, kurz vor seinem 38. Geburtstag, verfolgt Hutt den Triumph Roger Federers bei den Australian Open im Januar 2017. Er trinkt Bier, während Federer mit 35 Jahren ein Grand-Slam-Turnier gewinnt. Da beschließt Hutt, dass auch er es noch einmal versuchen will. Vielleicht nicht die Australian Open zu gewinnen, aber wenigstens in die Weltrangliste zu kommen. Hutt macht sich auf, die Welt zu bereisen, um an exotischen und weniger exotischen Orten zu versuchen, gegen jüngere Spieler zu gewinnen. Was dem Backpacker sein Rucksack, ist Hutt das Tennisbag.
»Felix Hutt, Tennis-Globetrotter« könnte auf seiner Visitenkarte stehen, wenn er denn eine dabei hätte ...
Wie ich einmal versuchte, in die Tennis-Weltrangliste zu kommen
Ullstein
Besuchen Sie uns im Internet:
www.ullstein.de
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
ISBN 978-3-8437-2068-7
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Zero Media, München
nach einer Vorlage von Rodrigo Corral
Umschlagmotiv: © Richard Sanya
E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.
Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
Für
Eitzi, Satsche, Régis, Maxi, Olli, Renze, Mäx, Marco,
Blankito, Cristian, Nussi, Julian, Peter, Gojo, Bachi,
n’ Hoser, Vladi, Franzi, Noam, Volker,
Andrew, Axel, Luis, Pavol, Butch
und die anderen Verrückten.
»Wenn man Erfolg haben will, dann klappt es garan-
tiert nie. Ab dem Moment, wo man Erfolg haben will,
macht man was, was man nicht machen will, weil man
will ja Erfolg haben. Das ist genauso, wie wenn man Musik macht für Fans, überlegt: ›Was könnte dem Fan gefallen?‹
Ab dem Moment, wo man das denkt, kann man aufhören.«
Flake, Rammstein
»Don’t let the Tour take away your run in the morning and your book in the evening.«
Bob Brett, Trainerlegende
Am Sonntagnachmittag des 23. Juli 2017 spielte der Argentinier Leonardo Mayer auf dem Center Court am Hamburger Rothenbaum gegen den Berliner Rudolf Molleker. Es war die letzte Runde der Qualifikation. Mayer hatte das größte deutsche Tennisturnier vor drei Jahren gewonnen. Er musste durch die Qualifikation, weil er wegen Verletzungen in der Weltrangliste abgerutscht war. Für Molleker, 16 Jahre alt, war es der erste Auftritt bei einem großen Turnier. Mayer spielte schlecht. Molleker frech. Er hatte nichts zu verlieren und gewann mit 6:3 im dritten Satz. Die Zuschauer erhoben sich nach dem Matchball und klatschten, minutenlang.
Mayer hätte nach seiner Niederlage gedemütigt abreisen können, aber er beschloss, noch ein paar Tage in Hamburg zu trainieren. Er mochte den langsamen Sandplatz, schrieb sich als Lucky Loser ein. Sollte ein Spieler aus dem Hauptfeld absagen, käme er auf diesem Weg vielleicht doch zum Zug. Nach dem letzten Match der Qualifikation wurde eine Reihenfolge unter den Lucky Losern ausgelost. Der erste auf der Liste würde der erste Nachrücker sein, der achte hatte wenig Chancen.
Mayer stand oben auf der Lucky-Loser-Liste. Der Slowake Martin Kližan zog zurück. Mayer durfte im Hauptfeld antreten.
Leonardo Mayer steigerte sich von Runde zu Runde und gewann am Ende das Turnier. Eine Woche nach seiner Niederlage gegen Rudi Molleker erhielt er 500 Weltranglistenpunkte und 323 145 Euro Preisgeld. Mayer war der erste Lucky Loser, der ein Turnier der 500er-Kategorie gewann.
Ein Lucky Loser ist kein Verlierer. Ein Lucky Loser ist ein Tennisspieler, der eine zweite Chance bekommt. So wie Leonardo Mayer. Oder ich. Mayer nutzte seine zweite Chance für den Turniersieg in Hamburg. Aus meiner zweiten Chance entstand dieses Buch.
Ich heiße Felix Hutt, bin 1,88 Meter groß und wurde am 1. Februar 1979 im Kreiskrankenhaus Stuttgart-Bad Cannstatt geboren. Ich habe blaugrüne Augen, glaube an Horoskope und Pearl Jam, wiege nie, was ich sollte, weiß zu selten, was ich will, aber immer, wovon ich träume. Ich träumte seit meiner Jugend von einem ATP-Punkt. Mit einem ATP-Punkt war man in der Weltrangliste. Dafür musste man eine Runde im Hauptfeld eines Futures gewinnen. So werden die unterklassigen Weltranglistenturniere genannt. Ich wollte einmal meinen Namen in der Weltrangliste lesen.
Ich bin auf eine Reise gegangen, um mir diesen Traum zu erfüllen, und an ihrem Ende kam ich bei mir selbst an. Ich habe mein Tennisbag auf den Rücken gepackt, wie der Globetrotter seinen Rucksack, und bin los. Ich habe versucht, täglich zu trainieren, mich gesund zu ernähren, den Verlockungen zu widerstehen. Ich bin unter anderem nach Kambodscha, Pakistan und Uganda gereist, weil die Weltranglistenturniere in exotischen Ländern schwächer besetzt waren. »Buschpunkte« nannten die Profis die Punkte auf diesen Turnieren. Mir war egal, wie sie hießen, die ATP-Punkte dort zählten genauso viel wie die, die ich in Europa erringen konnte. Ich habe akzeptiert, dass ich von den Ländern auf meiner Reise wenig sehen würde, obwohl sie mich interessierten. Es ging mir nicht um Sightseeing oder kulturelle Bildung, sondern um Training und Turniere, Gewinnen und Verlieren. Ich habe versucht, Ablenkung und Anstrengung außerhalb des Platzes zu vermeiden, den Körper regenerieren zu lassen. Ich wollte für dieses Buch wie ein Tennisprofi leben.
Ich habe vor meiner Reise nicht lange die Pros und Contras abgewogen. Mir nicht überlegt, was vernünftig ist oder Schlimmes passieren konnte. Ich bin einfach meinem Gefühl gefolgt. Ich war in einem Alter, in dem ich der Coach vieler meiner Gegner hätte sein können. Ein Tennis-Senior. Zu alt, zu dick, zu desillusioniert, zu untrainiert, zu müde, zu pessimistisch. Ein bisschen wie Mickey Rourke in The Wrestler. Doch ich musste noch einmal in den Ring. Tennis hatte eine zu große Bedeutung für mich gehabt, um es einfach so ausklingen zu lassen. Ich wollte Frieden schließen mit diesem Sport, dieser Leidenschaft, diesem Leben. Mit den Niederlagen, die ich nicht vergessen konnte. Ich hätte es mir nicht verziehen, wenn ich es nicht gewagt hätte aufzubrechen. Es war nicht schlimm zu scheitern, aber es war schlimm, es nicht zu versuchen. So abgedroschen der Spruch auch klingen mochte, ich fand ihn zutreffend.
Vor der Reise waren die Bahnen meines Lebens vorgezeichnet. Wie bei vielen meiner Freunde. Glück hatte für uns häufig zu bedeuten: Festanstellung, Eigentumswohnung, Auto, gedecktes Konto, Frau, Kinder, Labrador, italienische Kaffeemaschine. Ich will nicht sagen, dass es die falschen Ziele waren, aber mich langweilte ihre Konformität, die dann doch selten zum Glück führte.
Meine Idee, aufzubrechen, um ein Mal im Leben in die Tennis-Weltrangliste zu kommen, hielt ich anfangs für die Vorhut einer Midlife-Crisis: die Verwirklichung einer Bucket List. Aus den gewohnten Bahnen ausbrechen. Eine Flucht vor dem Alltag mit seinen Verpflichtungen und Routinen. Wie banal, tausendfach gehört und gelesen. Aber es entwickelte sich dann alles anders. Ich lief vor nichts weg. Ich kam ständig an. Ich lernte mich besser kennen.
Die Erinnerungen haben sich auf meine Festplatte gebrannt. Sie sind nicht mehr zu löschen. Die Erfahrungen, Anekdoten und vor allem die Begegnungen haben für mich einen Wert, den kein Statussymbol erreichen kann. Einer meiner neuen Freunde spielt jetzt Davis Cup für Neuseeland. Ich werde ihn bald bei den Australian Open besuchen. Einer meiner Gegner wurde wegen Matchfixing, Spielmanipulation im Zusammenhang mit Sportwetten, zu 250 000 Dollar Strafe verurteilt und lebenslang gesperrt. Ihn werde ich nicht mehr sehen.
Ich habe nicht aufgegeben, als sich das Projekt gar nicht mehr lustig anfühlte. Ich habe vom Training, den Matches und den Gegnern viel für mein Leben gelernt. Ich bin geduldiger und toleranzfähiger geworden. Wenn man in Ugandas Hauptstadt Kampala versucht, ein Match zu gewinnen, während neben dem Platz ein Musikfestival stattfindet, dann stört es einen nicht mehr so sehr, wenn die Bahn Verspätung hat oder die Schlange an der Supermarktkasse sich nicht bewegen will.
Es gibt viele Erzählungen, die zwischen dem sportlichen Wettkampf und dem Leben Parallelen ziehen. Das Drama des Boxkampfes, die Einsamkeit des Torhüters, der Mut des Skispringers. Ich glaube, dass es keinen Sport gibt, der einem so viel fürs Leben mitgeben kann wie Tennis. Man muss seinen Gegner lesen können und sollte ihm wenig von sich selbst preisgeben. Man braucht Ausdauer, Beweglichkeit, Koordination, Konzentration, Schnellkraft, strategisches Denken und den Willen, über Stunden Selbstzweifel und äußere Widrigkeiten, wie die Beschaffenheit des Platzes oder das Wetter, zu überwinden. Im Tennis gibt es keinen glücklichen Zufall, keinen Lucky Punch und keinen Ausgleich in letzter Minute. Es gibt nur Sieg oder Niederlage. Egal wie hoch man führt, wenn man den letzten Punkt nicht macht, kann der Gegner jederzeit zurückkommen. Und: Wer ein Tennismatch gewinnen will, muss über einen langen Zeitraum viele Punkte gewinnen. Selten läuft es dabei so, wie man es geplant hat. Tennisspieler müssen eine hohe Frustrationstoleranz entwickeln, wenn sie erfolgreich sein wollen. Das eigene Unvermögen, der Netzroller des Gegners im falschen Moment, die Sonne, die beim Aufschlag den Ball verschluckt, der Typ am Zaun, der laut auf seinem Handy telefoniert – in jedem Match gibt es viele Gründe, die für eine Niederlage verantwortlich gemacht werden können. Aber wer sich leicht aus der Fassung bringen lässt, der wird verlieren.
Günter Bresnik, der Trainer von Österreichs Nummer eins, Dominic Thiem, sagte einmal: »Ich würde jedem Kind professionelles Tennistraining empfehlen, selbst wenn es keine Chance hat, jemals einen einzigen Dollar Preisgeld zu gewinnen. Es gibt keine bessere Lebensschule.« Ich bin kein Anhänger von Ratgebern und will niemanden belehren, aber ich bin überzeugt, dass von dem, was ich vom Tennissport für mein Leben gelernt habe, auch andere profitieren können. Deshalb habe ich im letzten Kapitel meine wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst (Kapitel 14, Seite 222).
Ich war sechs Jahre alt, als ich zum ersten Mal mit einem viel zu großen Aluminium-Schläger versuchte, einen weißen Tennisball (ja, die gab es damals noch …) gegen das Garagentor meiner Großeltern zu schlagen. Als Boris Becker am 7. Juli 1985 mit 17 Jahren zum ersten Mal Wimbledon gewann, war das die Geburtsstunde meiner Leidenschaft. Wurde Tennis vor diesem Sonntag von Leuten gespielt, die Pastellfarben trugen und in Südfrankreich Urlaub machten, holte Beckers Triumph mich und viele meiner Freunde vom Fußball- auf den Tennisplatz. Auf einmal gab es nichts Cooleres, als nach Bällen in den roten Sand zu hechten und die Becker-Faust zu ballen. Seine Matches waren unsere Messen, er war unser Messias, und für seine großen Spiele verzieh ich ihm alles, was er nach seiner Karriere anstellte.
Heute bin ich vierzig Jahre alt und verbringe immer noch viel Zeit mit Tennis. Ich spiele, bewundere, betrachte, analysiere, lebe und vor allem lerne ich Tennis. Ich verdanke dem Sport viele Freundschaften. Viele meiner Freunde waren früher meine Gegner. Es verbindet, wenn man sich stundenlang bekriegt. So ehrlich lernt man sich nie wieder kennen. Auf dem Tennisplatz lässt sich der Charakter nicht verstecken. Ich weiß, wer du bist, wenn ich gegen dich gespielt habe.
Denke ich heute an Tennis, denke ich an einen Knirps, dessen Mutter kein Geld hatte, um seinen Schläger bespannen zu lassen. Denke ich an Tennis, denke ich an einen Teenager, der mit seinem Schläger ausbrechen wollte wie Kurt Cobain mit seiner Gitarre. Denke ich an Tennis, denke ich an einen Collegespieler, der in keiner Bar in den USA ein Bier bekommen konnte, weil er noch nicht 21 Jahre alt war. Denke ich an Tennis, denke ich an »the most intense player«, den mein Teamkamerad Jerry in mir sah, diesen Hutt, der immer ein bisschen zu sehr gewinnen wollte. Denke ich an Tennis, denke ich an die Matches, die ich nach Matchbällen verloren habe. Denke ich an Tennis, denke ich an Paul aus Uganda, gegen den ich in Kampala gespielt habe. Denke ich an Paul, denke ich an alles, was mir Tennis so wichtig macht.
Die 23,77 Meter Länge und 8,23 Meter Breite eines Tennisplatzes geben mir Orientierung und ein Gefühl des Zuhause-Seins, unabhängig davon, wie konfus mein Leben gerade erscheinen mag. Ich weiß heute, am Ende meiner Reise, wer ich bin und wo ich hingehöre. Ich muss dafür kein Gewinner mehr sein. Ein größeres Geschenk hätte mir Tennis nicht machen können.
Kambodscha, November 2012
Es goss wie aus Kübeln, als ich aus dem Phnom Penh International Airport durch eine Schiebetür ins Freie trat. Kambodscha war ein Königreich, das hatte ich auf dem Flug in meinem Reiseführer gelesen, und ich wollte sein Prinz sein die nächsten zwei Wochen. Na ja, vielleicht kein Prinz, aber auf jeden Fall ein Gewinner. Unter einem Vordach warteten die Fahrer. Der Cambodia Country Club hatte mir auch einen geschickt. Auf der Tennisanlage des Clubs fanden die Turniere statt, im dazugehörigen Hotel wollte ich übernachten. Obwohl es regnete, war es jetzt, am späten Abend, sehr schwül. Wie würde sich das erst am Tag anfühlen, in der Sonne, auf dem Tennisplatz?
Ein junger Mann in Flipflops und durchnässtem T-Shirt hielt ein Schild hoch, auf dem »Filix Hut« stand. »Hi«, sagte ich, »nice to meet you.« Er nickte, sagte nichts, lächelte und hörte damit auch nicht auf, als er meinen Koffer zu einem alten Honda Civic schob und ihn im Kofferraum verstaute. Ich setzte mich auf die Rückbank. Der Regen prasselte auf das Dach. Aus dem Radio ertönte Musik, die ich nicht einordnen konnte. Eine hohe weibliche Stimme sang zu einer schrillen Melodie. Die Fenster des Hondas waren beschlagen. Der Fahrer wischte die Scheibe mit seinen Händen frei. Er bezahlte eine Parkgebühr an der Sicherheitsschranke. Der Soldat trug ein Gewehr, schaute kurz ins Auto, winkte uns durch.
Wir fuhren auf einer Hauptstraße Richtung Stadtzentrum. In der Dunkelheit erkannte ich die Leuchtschrift der Karaoke-Bars, vor denen Frauen rauchten. Die meisten trugen High Heels und kurze Röcke. Die Verkäufer am Straßenrand hatten Planen über ihre Stände gespannt, es sollte nicht in die Feuer regnen, auf denen sie Hühner, Fische und Gemüse grillten. Vor, hinter und neben uns hupten Mopeds und Tuk-Tuks. Trotz des Unwetters waren die Straßen der Hauptstadt Kambodschas verstopft. In Phnom Penh lebten rund 1,5 Millionen Menschen, auch das hatte ich gelesen, und es gab fast eine halbe Million Mopeds. Wenn man miteinbezog, dass auf vielen Mopeds zwei bis vier Menschen saßen, musste man zum Schluss kommen, dass hier keiner ohne motorisiertes Zweirad auskam. Ich hatte auch mal ein Moped gehabt, eine 50er, mit der bin ich immer über Feldwege zum Tennisplatz gefahren, weil ich keinen Führerschein hatte. Ein Freund hatte mir mein Moped mit irgendwelchen Tricks frisiert, aber da war ich 15 Jahre alt. Lange her.
Nach einer halben Stunde erreichten wir den Cambodia Country Club. Der Mann hinter der Rezeption wollte ein Deposit, in Dollar, und verlangte meine Kreditkarte. Ich reichte sie ihm. Ich war sehr müde, seit fast einem Tag unterwegs. München – Bangkok – langer Aufenthalt – Phnom Penh. In meinem Zimmer brummte die Klimaanlage. Der Sound sollte mich die nächsten zwei Wochen begleiten. Ohne kühlende Belüftung war es nicht auszuhalten. Auf den Handtüchern auf dem Bett lagen gefaltete Stoffblumen.
Was ist dein Jugendtraum, etwas, das du unbedingt einmal tun wolltest, aber bisher nicht geschafft hast? Das war die Frage, die mich nach Phnom Penh brachte. Gestellt hatte sie NEON, das Jugendmagazin mit dem Slogan »Eigentlich sollten wir erwachsen werden«. Besser als mit diesem Satz hätte ich mein Leben nicht zusammenfassen können. Ich war 33 Jahre alt, arbeitete als Bayern-Korrespondent beim STERN in München. Mein Büro befand sich im selben Gebäude wie die NEON-Redaktion. Beide Magazine gehörten zum Gruner & Jahr Verlag. Ich mochte die Kollegen und freute mich, wenn sie mich auf Reportage schickten.
»Eigentlich«, antwortete ich dem Chefredakteur auf die Frage nach meinem Jugendtraum, »eigentlich wollte ich es immer einmal in die Tennisweltrangliste schaffen.« Er schaute mich fragend an. Ich erklärte ihm, dass ich dafür einen ATP-Punkt gewinnen musste und in ein Tennisentwicklungsland reisen, wo die Turniere schwach besetzt waren. Ich schlug ihm Kambodscha vor. Er überlegte kurz und sagte dann: »Cool, viel Erfolg.«
Ich saß jetzt hier, auf dem Bett im Cambodia Country Club, weil ich über meinen Weg in die Weltrangliste schreiben wollte. Ich hatte einen Auftrag auf dem Platz und außerhalb. Ich war optimistisch, dass ich sportlich erfolgreich sein könnte und mein Tennisabenteuer in einer unterhaltsamen Reportage festhalten würde. Draußen regnete es immer noch heftig. Wie in Gottes Namen sollte man hier überhaupt Tennis spielen?, dachte ich. Aber, und das war die erste von vielen Lektionen in Phnom Penh, das funktionierte wunderbar. Sobald es zu regnen aufhörte, verdampften die Pfützen wie der Aufguss in der Sauna.
In meinem ersten Match spielte ich zwei Tage später gegen den Ungarn Gábor Csonka, neunzehn Jahre alt, Nummer 1416 der Weltrangliste. Es stand 1:2 im ersten Satz, noch kein Break auf Court 4 im Cambodian Country Club, direkt neben dem Parkplatz.
Um die Mittagszeit herrschten 37 Grad, es gab keinen Schatten, dafür neunzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Sauerstoff, bitte, dachte ich, bevor es nach dem nächsten Ballwechsel mit dem Denken vorbei war. Hitzschlag. Mein Körper zitterte, der Physiotherapeut kam auf den Platz und legte mir einen Eisbeutel in den Nacken. Die einheimischen Balljungen schauten verwundert, mein Gegner schwieg. Er wusste, dass er in die nächste Runde einziehen würde.
Eine Stunde nach meiner Niederlage döste ich unter der Klimaanlage in meinem Hotelzimmer und stellte meine Fitness, meine Schläge, meine Vorbereitung, mich, einfach alles infrage, was mich an diesem Tag zu einem Verlierer in Phnom Penh gemacht hatte. Von meinem Ziel, einen ATP-Punkt zu holen und meinen Namen in der Weltrangliste zu lesen, war ich weit entfernt. Dafür hätte ich zwei Runden in der Qualifikation und eine im Hauptfeld gewinnen müssen.
Innerhalb von drei Wochen fanden in Phnom Penh drei Weltranglistenturniere der untersten Kategorie statt. Alternativ hätte ich auch in Ruanda, Chile oder Simbabwe antreten können, aber Kambodscha hatte mich seit Langem interessiert. Der Tennisverband wurde unter der Herrschaft der Roten Khmer ausgelöscht und baute sich nun wieder auf, ein spannendes Projekt. Die Turniere waren mit jeweils 10 000 Dollar dotiert und hießen »Future«-Turniere oder »Futures«, weil vor allem junge Spieler um Punkte kämpften, die es ihnen dann ermöglichten, bei größeren Turnieren mitzuspielen. Sie kamen aus vielen verschiedenen Ländern, von Usbekistan bis Indonesien, und hatten alle einen Traum: wie Roger Federer und Rafael Nadal um Ruhm und die großen Preisgelder zu spielen. Um gut zu verdienen, musste man ungefähr zu den 150 besten Spielern der Welt gehören. Ausgesorgt hatten die, die sich über Jahre unter den Top 50 etablierten. Der beste Spieler, der in Kambodscha antrat, stand auf Platz 204.
Mit der verwöhnten Tenniswelt der Stars hatten die Turniere der untersten Kategorie nichts gemein. Viele Spieler übernachteten in billigen Hotels, vor denen nach Einbruch der Dunkelheit die »Bardamen«, Prostituierte, standen. Die Spieler aßen schlechtes Essen wie kambodschanische Pappnudeln. Als Fahrservice standen keine Luxuswagen eines Sponsors bereit, sondern man musste sich Tuk-Tuks besorgen, Mopeds mit Anhängern, die einen durch den Smog kutschierten. Die Balljungen waren Straßenkinder, für ein Paar Schuhe und eine Mütze arbeiteten sie drei Wochen von morgens bis abends. Sie hatten keine Ahnung von den Regeln, manchmal rannten sie mitten in den Ballwechseln über das Feld. Einige Spieler, die sich schon für Stars hielten, konnten darüber nicht lachen. Ich durfte eines Abends nicht in mein Hotel, weil daraus ein drei Meter langer Python evakuiert werden musste. Er hatte einen Ausflug aus dem benachbarten Tümpel gemacht.
Ich war erst zwei Tage vor meinem Match gegen Csonka aus dem kalten deutschen Herbst nach Phnom Penh gereist, viel zu spät, um mich auf die extremen Bedingungen einzustellen. Im November, nach der Monsunzeit, sollte das Wetter hier so angenehm wie ein deutscher Sommer sein, hatte eine Freundin gesagt. Ein bisschen Hitze war gut für mein Spiel, sie machte den Ball schnell und die Ballwechsel kurz, aber die Freundin hatte Bullshit erzählt: Das Klima war die Hölle. Es war viel zu heiß und zu feucht, die Bälle saugten sich voll wie Schwämme, der Schläger rutschte aus der verschwitzten Hand, als wäre der Griff eingeölt. Und das Teilnehmerfeld, so meine falsche Einschätzung, würde schwach besetzt sein, weil, wer außer mir reiste schon nach Kambodscha, um Tennis zu spielen? Leider sehr viele gute Profis, die sich kurz vor Saisonende noch ein paar Punkte holen wollten. Wenn es so weiterlief wie beim ersten Match, dann reichte es für mich zum Eddie the Eagle der Veranstaltung. Der war der schlechteste Skispringer der Geschichte, wurde aber für seinen Mut verehrt, überhaupt zu springen. Dabeisein ist alles, olympisches Motto und so. Definitiv nicht mein Motto.
Die Mission hatte ein paar Wochen zuvor mit einer Untersuchung in der sportmedizinischen Abteilung der TU München begonnen. Ich wog 98,5 Kilo, hatte 22,1 Prozent Körperfett und einen Bauchumfang von 96 Zentimetern, meine Laktatwerte waren ebenfalls gehobener Kneipendurchschnitt. Als ich dem Arzt von meinem Vorhaben erzählte, lächelte er. Er empfahl Nordic Walking für den Anfang, um die Gelenke zu schonen, und verwies mich an die Ernährungsberaterin. Auf ihr Anraten strich ich Alkohol, Fett, Zucker und ungeeignete Kohlenhydrate. Mitten in meiner Vorbereitung, am 21. September 2012, starb mein Vater. Er war erst 59 Jahre alt, als sein Herz aufhörte zu schlagen, einfach so. Von da an war das Abnehmen kein Problem mehr. Nur hatte ich jetzt ein viel größeres: Die Freude an der Qual wurde zur Qual ohne Freude. Wie sollte ich mich noch motivieren zu gewinnen, wenn ich doch längst verloren hatte?
Unter der Klimaanlage in meinem Hotelzimmer in Phnom Penh musste ich an ihn denken. Er hätte mir nach meiner Niederlage vorhin geraten, erst mal ein Bierchen zu trinken, um runterzukommen. Für ihn war es nie primär um das Gewinnen gegangen, sondern darum, wie jemand spielte. Mein Vater mochte Profis, die etwas riskierten, die ihr Leben nicht vom Erfolg abhängig machten. Charismatiker wie den Russen Marat Safin oder den Franzosen Henri Leconte. Erst wenn mir dies auch gelänge, wenn ich dem Tennis seine Wichtigkeit nehmen könnte, hatte er mir früher oft gesagt, würde ich mein Potenzial zeigen können.
Ich beschloss in meinem Hotelzimmer, dass ich dies von nun an versuchen wollte. Spielen, um zu spielen. Ging hinunter an die Bar und bestellte ein eiskaltes Heineken. Mein erstes Bier seit Wochen. Tat verdammt gut. In sechs Tagen war das nächste Sign-in, bei dem ich mich für das zweite Turnier einschreiben konnte.
Bis dahin trainierte ich hart, um mich an die Bedingungen zu gewöhnen. Der Alltag eines Profis war monoton. Zwei österreichische Jungprofis, mit denen ich mich anfreundete, beschrieben ihn treffend: »Training. Essen. Zimmer. Internet.« Ich absolvierte zwei Einheiten täglich und kam mit den Bedingungen besser klar. Das Training war anstrengend, aber die Quälerei machte mir Spaß, weil ich mir den Druck nahm. Kleine Erfolge stellten sich ein, die mir ein wenig Selbstvertrauen gaben. Ich gewann einen Satz gegen Roy Hobbs, immerhin die Nummer eins von Singapur, und lief mit einem Chinesen Drills, der fit war wie Rocky.
Es gab nur einen Trainingsplatz, das bedeutete, man musste sich mit denen arrangieren, die Gegner sein konnten. Ich trainierte einmal mit einem Israeli, einem Amerikaner und einem Chinesen, friedlich, harmonisch – wenn das die Weltpolitik hätte sehen können. Nach Ende der Turniermatches durften kambodschanische Kinder auf die Plätze. Sie spielten barfuß und mit alten Schlägern. Ab und zu gab ihnen ein französischer Coach, der einen Profi betreute, Unterricht. Ich schaute zu und sah bei den Kindern, die nichts hatten, aber jedem Ball hinterherrannten, eine Leidenschaft, die mir längst verloren gegangen war.
An den Abenden fuhren die zwei Österreicher und ich mit dem Tuk-Tuk an den Mekong. Es ging durch Viertel, in denen die Menschen in Wellblechhütten wohnten. Ihre Füße waren dreckig vom Staub der Straße. Wir aßen Khmer-Nudeln, redeten über Fußball und Frauen. Wahrscheinlich nahm ich dieses Projekt Weltrangliste auch so ernst, dachte ich, weil es das Ende eines Lebensabschnitts, das Ende meiner Jugend bedeutete. Es war eigentlich an der Zeit, erwachsen zu werden. Aber mir gefiel dieses Tourleben.
Am Freitagnachmittag lag eine Liste bei der Turnierleitung aus, in die sich alle eintrugen, die an der Qualifikation für das zweite Turnier teilnehmen wollten. Nach Ende der Frist stand fest, dass sich mehr Spieler angemeldet hatten, als es Plätze gab. Als Ranglistenloser war ich raus, Vorrang hatten immer die Spieler der Weltrangliste. Eine Woche Training umsonst. Dann: ein Wunder. Braen, Kapitän des kambodschanischen Davis-Cup-Teams und Turnierdirektor, gab mir eine Wildcard. Über eine Wildcard, einen Platz im Feld, entschieden die lokalen Veranstalter. Es war ihre Entscheidung, welche Aussortierten sie antreten ließen. Einen Topprofi, der zu spät gemeldet hatte. Oder einen Tennistouristen wie mich. Die Einheimischen und die Turnierorganisatoren hatten mich ins Herz geschlossen, weil meine Erfolgsaussichten so gering waren wie ihre. Sie mochten, dass ich es trotzdem versuchte.
Der Freude über die Wildcard folgte die Ernüchterung, als die Auslosung ausgehängt wurde. Mein Gegner hieß Mico Santiago, ein 18-jähriger Amerikaner philippinischer Herkunft. Er hatte sich beim ersten Turnier aus der Qualifikation bis ins Halbfinale des Hauptfelds gespielt und erst gegen den späteren Sieger verloren. Santiago hatte mehr Selbstvertrauen als Phnom Penh Moskitos. Er war der stärkste Spieler, den ich in der Qualifikation erwischen konnte.
Unser Match war für den nächsten Tag um 14:30 Uhr auf dem Center Court angesetzt. Es würde heiß werden, aber im Gegensatz zu meinem ersten Match war ich vorbereitet und wusste, was mich erwartete. Da die Spiele vor uns länger dauerten, verschob sich der Beginn. Santiago tigerte mit Kopfhörern im Ohr am Platz entlang. Je länger wir warten mussten, desto kühler wurde es, ein Vorteil für mich.
Als wir endlich auf den Platz konnten, war die Sonne längst untergegangen und das Flutlicht an. Die Schiedsrichterin warf die Münze, ich gewann und entschied mich für Aufschlag. Ich trug meine besten Nike-Tennisklamotten, weil mir bewusst war, dass ich heute sehr wahrscheinlich mein letztes Match spielen würde. Ich begann stark, ging beim ersten und zweiten Aufschlag Risiko, weil Santiago sehr gute Returns spielte. Führte 1:0, ballte die Faust, um mir Mut zu machen, spürte die Bälle gut auf dem Schläger. Santiago hielt seinen Aufschlag, 1:1, ich servierte wieder exzellent zum 2:1. Er glich aus, ich erhöhte auf 3:2. Einige Profis hielten am Platz und schauten zu, sie hätten nicht damit gerechnet, dass dies ein offenes Match werden könnte. Ein paar Zuschauer applaudierten, als ich die Geschwindigkeit seiner schnellen Grundschläge mitnahm und immer wieder ans Netz rannte, um ihn unter Druck zu setzen, und meine Volleys unerreichbar in seinem Feld landeten.
Santiago fand kein Mittel gegen meinen Aufschlag und fluchte, während ich einfach nur genoss. Nach allem, was passiert war, war ich mir des Privilegs bewusst, hier zu sein. Ich wusste nicht, wie lange der erste Satz schon dauerte, aber in diesen Momenten lebte ich meinen Traum. Es war nicht Wimbledon, aber für mich fühlte sich diese kleine Bühne am Abend des 24. November 2012 im Cambodian Country Club genau so an. Ich spielte, um zu spielen. Hätte nur mein Vater unter den Zuschauern sitzen können.
Dann begann es zu regnen, das Match wurde unterbrochen und auf den nächsten Tag verlegt. Ich war voller Endorphine, die sich nicht beruhigen wollten, schlief die Nacht nicht. Als wir am nächsten Tag das Spiel fortsetzten, war der Traum vorbei. Unter der Sonne hetzte mich Santiago von einer Ecke in die andere, gegen seine flachen, schnellen Grundschläge war ich machtlos. Bald hatte ich im zweiten Satz zwei Matchbälle gegen mich und nahm mir vor, den nächsten Aufschlag so hart ich konnte durch die Mitte zu schlagen. Der Ball landete mit über 200 km/h im Feld Santiagos. Er ahnte die Ecke, passierte mich mit seiner Rückhand. Das war’s. Ein trauriges, aber würdevolles Ende.
Nach dem Match dachte ich kurz darüber nach, wie es wohl ausgegangen wäre, wenn wir gestern Abend unter Flutlicht hätten weiterspielen können. Vielleicht hätte ich ihn noch mehr gefordert, vielleicht hätten ihn meine Aufschläge entnervt, ja, vielleicht hätte ich sogar gewonnen.
Ich schrieb meine Reportage, die NEON-Redaktion war damit zufrieden. Danach wollte ich aufhören mit Tennis. Der Titel der Reportage lautete »Der letzte Satz«. Das Match gegen Santiago sollte mein letztes gewesen sein. Aber ich konnte meinen Job kündigen, meine Beziehung beenden und in eine andere Stadt ziehen. Nur mit Tennis Schluss machen, das ging nicht.