Über das Buch

Was ist der Herbst? Korbfülle, Traubenmost, Vogelzug, Rauschzeit, Blätterfall, Festtage, die das Brauchtum pflegen und Feiertage, die uns innehalten lassen. Keine Jahreszeit prägt den Wandel so sehr wie der Herbst, keine Jahreszeit ist zugleich Reifen, Abschied, Anfang, Werden und die Hoffnung auf Wiederkehr. Das Buch folgt dem Herbstkalendarium mit Gedichten, Geschichten, Gedanken, dem Brauchtum und den jahreszeitlichen Erscheinungen der Natur.

Über die Autorin

Vera Hewener, geboren 1955 in Saarwellingen, veröffentlicht Lyrik und Prosa u. a. in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Einzelübersetzungen ins Französische und Ungarische liegen vor. Für ihr literarisches Werk erhielt sie mehrere Preise und Auszeichnungen, u.a. den Superpremio „Cultura Lombarda“ vom Centro Europeo di Cultura Rom (I) 2001 und Superpremio „Mondo Culturale“ 2002, den „Grand Prix Européen de Poésie“ vom Centre Européen pour la Promotion des Arts et des Lettres Thionville (F) 2005, Goethepreis 2013, zuletzt Wilhelm Busch Preis 2017.

Pressesplitter

„.. Jedes Wort schillert und ruft ein Bild hervor. Vera Hewener baut aus dem, was sie sieht, kleine Wortkunstwerke, mit Rhythmik und viel Stabreim.. .“ Beatrix Hoffmann 07.11.11, Saarbrücker Zeitung

„Vera Hewener versteht es, mit kräftigen Farben Bilder in unserem Kopf zu erzeugen, die jede Jahreszeit lebendig werden lassen. Es sind kleine Wortkunstwerke, die da für den Leser das Naturerleben plastisch darstellen.“ 08.01.2014, Heusweiler Wochenpost

„Anmutige, unverbrauchte Bilder, wie hier in "Aufwärmflug" findet Vera Hewener für das unaufhaltsame Werden und Vergehen der Natur, für dieses Wunder der ständigen Erneuerung und ganz besonders für den Duft und Blütenglanz des Frühlings.... Wenn Hewener von "blau büschelnden Hornveilchen" erzählt oder warnt "lass den März dich nicht anwintern", dann bestaunt man ihre Wortschöpfungen, ihre geschmeidigen Verse.“ SZ 07.06.2017

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

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© Für die Texte: Alle Rechte beim Verfasser. Vera Hewener

Umschlagsbild: Ölgemälde von Vera Hewener

1. Ausgabe 2018.

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH

In de Tarpen 42

D- 22848 Norderstedt

ISBN 9783752890990

Beerengesang

„Wenn Dir ein Narr erzählt, dass die Seele mit dem Körper zusammen vergeht, und das, was einmal tot ist, niemals wiederkehrt, so sage ihm: Die Blume geht zugrunde, aber der Same bleibt zurück und liegt vor uns, geheimnisvoll wie die Ewigkeit des Lebens.“ Khalil Gibran

Vorherbst

Am Vortrag des Septembers weiß man nicht, ob es Spätsommer oder Frühherbst ist. Übergänge sind zuweilen verschwenderisch in der Vielfalt ihrer Farben und Empfindungen. In der Frühe schossen die Strahlen der Bewässerungsanlage wie Fontänen eines Springbrunnens in die Luft und nässten das Grün des Golfplatzes mit vortrefflichem Guss. Danach drang ein erdiger, modrig-feuchter Wiesengeruch vom Tal her in die umliegenden Gästehäuser ein, so dass es im Geiste schon wieder frühlingte.

Hier Frühling, dort Sommer und morgen Herbst. Was treibt einen mehr an als die Zwischenzeit, das scheinbar Stillstehende und doch unentwegt Ruhelose, denn es will werden, werden. Der Wandler Herbst schafft es so leicht wie die Blätter, uns in die veränderten Landschaften zu bugsieren. Ja, wir fragen nicht einmal danach, ob es vielleicht nicht immer so bleiben könnte, wie es gerade ist, das Wahre, Schöne, Gute. Wir gliedern uns wie selbstverständlich in den Kreislauf der Natur ein, schließen uns diesem an und dann auf für das Kommende.

Wie anders könnte es auch sein, wenn Gottes Schöpfung in unseren Köpfen Drachen steigen lässt, noch einmal in uns den Übermut der Kindheit wachruft, wo wir das Grenzenlose machbar dachten, das Formlose gestalten wollten nach unseren Vorstellungen? Wie überhaupt wir von der Vorstellung leben, dass jeder Herbst etwas zu Ende gehen lässt, bevor die Natur in den Winterschlaf fällt. Dabei ist gerade der Prozess dieser Wandlung ein Neuanfang, ein Nachdenken, Überdenken, Weiterdenken. Kann so am Ende das Ende einer Zeit stehen, die sich doch nie selbst beschließt, ein Kreislauf, der fortfährt, wieder und wieder?

So wie die Sonne am letzten Tag des Sommers – wenn man den Meteorologen folgen will, beginnt der Herbst bereits am ersten Septembertag - als zitronengelbe Glaskugel das Licht durch die Bäume wildert und wir dankbar die milde Wärme aufnehmen, die sie uns schmeichelnd schickt. Das Licht sendet uns viele Botschaften. In diesen Tagen legt es sich um uns wie ein zärtlicher Kokon, als wollte es sagen:

„Komm in meine Wärmestube,

ich will dich nähren

für die Reise

ins Reifende,

ins Wandelnde.

Ich bin das Licht,

die Wahrheit,

das Leben.“

Die biblische Kraft heischt uns an. Ich sage: „So lass es denn werden, Herbst und wenden.“ Dieweil mir der Wind vorausschauend um die Ohren streift.

Wendekreis des Herbstes

Noch strahlen farbenkräftig Asternsterne,

an Mauern rötet sich der wilde Wein,

wo Licht ist, fallen graue Schatten ein,

die Sonne wärmt das Land aus weiter Ferne.

Auf kalten Feldern harren manche gerne,

die Drachenleine zerrt am Hosenbein.

Den Höhenflug bewundern Groß und Klein,

wenn Herbstwind zu dir spricht: „Das Fliegen lerne!“

Ein Bergfried blickt ins Tal vom hohen Turm;

wer kann im Stillen frische Quellen finden,

wer spendet Nahrung unter kahlen Linden?

Was heilt und bleibt zurück vom großen Sturm,

kannst du dich selbst nicht mehr an Festes binden?

Ein Buntspecht hackt sein Nest in harte Rinden.

Herbst

Im Laubschatten rote Beeren

nicht zu löschen Vogelnamen

auf den Blättern der Eberesche

Wandelhalle der Reife

wenn des Vorherbstes Süßzeit vergärt

wer schläft wenn späte Wärme

zum Gipfel drängt

kommen wird der Talgang

tiefere Zeiten

Stürme werden strömen hageln

schwerer wiegen die Speicher

bis unters Gebälk gefüllt

Alljährlich

Am Weichholz

schabt sich Blättergold rot

in den Höhen der Wolken Gedräng

presst aus den Regenguss

mildert Späthitze

reinigt Nadelspitzen

des Spätsommers Tauschgeld

streicht der Herbst ein

wenn er mit straffen Segeln

antreibt das Windgeschäft

wenn er mit dir feilscht

um Korbfülle und Traubenmost

Ziegelsteine lassen sich nicht beirren

sie halten am Dach fest

sommers wie winters

Sonnenspeicher

Die Sonnenuhr gibt dir

noch einmal Zeit

Lichtglut befeuert die Seele

treibt an deinen Pulsschlag

bis das Herz aus dem Leib klopft

oh ja

merk dir den Ton

du kannst ihn hören

wenn Farblosigkeit

dir an die Kehle greift

speichere die Wärme

du kannst sie spüren

wenn der Sonne Glanz

nicht mehr zum Abendessen taugt

fühle die Nähe

du kannst dich erinnern

wenn das Lachen

aus den Tagen verschwindet

die Sonnenuhr gibt dir

noch einmal Zeit

Sonnenaufgang

Von Halmen tropft der Tau der Nacht,

die Nebel streifen Beet und Weide.

Wenn Morgenrot die graue Fracht

belichtet, aufhellt, und entfacht

das Sonnengold der Blättertracht,

wiegt schon der Herbst die Heide.

Farbwechsel

Auf den Hügeln überschlagen sich

letzte Feuerwellen des Sonnenrads

brennen die Gräser

Felder dunsten aus

Heuschrecken hüpfen auf Heinzen

verstecken sich vor der Sonnenwende

in den Horsten zittern Halme blütenfrei

Im Wanderschuh wechselt das Land

Farbe Form Licht und Schatten

ich binde mir die Schnürsenkel

um im Holprigen den Stand

nicht zu verlieren

In der Ferne Schwarzwild

rottet sich zusammen

suhlt sich vor dem Frost

verschlammt Humus und Stämme

Es verlor die Scheu vor dem Tag

vor dem Schlaf der die Dörfer befällt

nebeltrunken

feuchtbefallen

kaltgestellt

Beerengesang im Frühherbst

Die Fruchtdolden des Holunders färben sich schwarz, der Frühherbst beginnt. Die Phänologen sagen, die Reife der schwarzen Beeren ist die erste sogenannte Zeigerpflanze des Herbstanfangs. Über den Beeren flöten Vögel ihr Herbstlied. Für Amseln, Stare oder Mönchsgrasmücken sind Holunderbeeren ein herbstlicher Genuss. Beerengesang wurde übrigens nach alter Überlieferung der so häufige, nicht vollschmetternde, aber trotzdem noch ansprechende Herbstgesang mancher Vögel genannt. Den schwarzen Holunder mit dem Gattungsname Sambucus nigra nennt man im Südwesten Deutschlands und der Schweiz auch Holderbusch, im Bairisch-Österreichischen heißt er Holler und in Norddeutschland Flieder.

Einst galt der Hollerstrauch im Hausgarten als Lebensbaum. Er sollte vor schwarzer Magie, Hexen, Feuer und Blitzeinschlag schützen. Als Strauch kann er bis zu elf Meter hochwachsen, als Baum ist er kleiner und hat starke Verzweigungen. Häufig schleicht er sich ungebeten in den Garten ein. Ehe man sich versieht, hat er sich zwischen die Heckenbepflanzungen eingewildert und überwächst einfach alles.

Die Beeren sind eigentlich Steinfrüchte und enthalten reichlich Kalium und Vitamin C. Bei der Ernte sollte man darauf achten, dass der Saft nicht auf die Schürze spritzt. Der dunkelrote Saft lässt sich aus Textilien nur schwer herauswaschen. Wer gerne Holunderbeeren verarbeitet, sollte sie auf keinen Fall roh essen. Sie enthalten Sambunigrin, ein Pflanzengift aus der Gruppe der Glykoside, das bei der Spaltung des Moleküls Blausäure freisetzt. Erst nach dem Erhitzen ist Holunder für Menschen genießbar. Aus Holunder lassen sich kleine Köstlichkeiten herstellen wie zum Beispiel Holunderpfannkuchen, Fliederbeersuppe, Gelee, Mus, Holundersekt oder Obstbrand. Als Heilmittel wird er heute noch gegen Erkältung, Nieren- und Blasenleiden oder zur Stärkung von Herz und Kreislauf eingesetzt.

Im Frühherbst reifen auch Kornelkirschen, Weißdorn, Hundsrose und Brombeeren. Geerntet werden Zwiebeln, Gurken, Tomaten, Äpfel und Birnen. Die letzte Aussaat beginnt mit dem Winterraps. Nach der Birnenernte wird die Wintergerste bestellt. Auf den Äckern ragt der Mais in voller Höhe auf. In diesen Tagen verlässt die Rauchschwalbe unseren Kontinent.

Wer einen Nutzgarten hat, kann nun Fallobst auflesen, Wintergemüse wie Radieschen, Spinat oder Feldsalat aussäen und Rhabarber pflanzen. In den Wiesen sieht man den goldgelben Sonnenhut leuchten. Herbstanemonen blühen weiß, rosa oder weinrot. Farbenprächtig tritt die Königin des Herbstes, die Dahlie, auch Georgine genannt, im Gartenreich auf. Wer Astern liebt, kann sich an den rosa, roten, violetten, blauen oder weißen Strahlenblüten der Kissen-, Rauh- und Glattblattastern erfreuen.

Wenn die Zwetschgen geerntet werden, geht der Frühherbst zu Ende. Von 1981 bis 2010 dauerte er vom 28. August bis 29. September. Im Jahr 2017 begann er am 22. August (Fruchtreife schwarzer Holunder) und endete am 27. September (Apfel herbstlicher Blattfall).

Beerengesang

Die dornige Hecke streckt ihre Beeren

sterbenden Tagen zum Trotz

gereift in den Nacken der Füchse

schwärzliches Blut fließt aus den Häuten

entlässt des Aromas süßes Bitter

färbt sich durch Schürzen und Röcke

eben noch Rose kratzt die Hagebut

am Zaun feurigen Herbstes

inmitten herben Holunders

mir aber bleibt diese Stille

das mattere Schmettern der Vögel

aus den Nestern grauen Gewölks

Vogelbeeren

Wenn auch der Beeren Rot

Schnäbel zum Picken zwingt

die auf den Boden

gefallenen Kerne

gehen ein in die Keimzeit

lies in den gefallenen Blättern

Landungsbrücken schlagen sie

septemberwärts mild

im Blauton rosarot

noch unberührt

von Wetterzornen

bald schenkt dir ein Zweig

schwärzliche Ruhe

der Vögel Singzeit

kehrt wieder

Waldgeister

Sphärenklänge wirren über den Wiesentempel

vertanzen Yin und Yang im Windspiel

Hortensien stecken weiße Tellerchen ineinander

verschütten sich im auslaufenden Sommer

Fichten gähnen im Spalier Efeu umschützt

ein Tongefäß lagert altes Olivenöl ab

auf simuliertem Waldweg schleichen Lemuren

Nachtfiguren flüstern

Mundpropaganda

Brombeeren in vollem Fruchtfleisch

hängen saftgesättigt

im Dornenstrauch

Dort wo der Hauch des Regens

Sonnenhitze kühlt

klirrt süßes Tropfen ins Gras

Beeren singen das Mittagslied

Vögel hüpfen im Freudentanz

trällern die Nachricht

von Schnabel zu Schnabel

Fruchtfall

Sonnenblumen braungebrannt

Rabenvolkes Ernteplatz

die Stürze der Futterreste

voller Äpfel die Bäume

wer erntet

trifft die Auswahl der Früchte

Goldrot wurzelt dich an

du denkst Heimat

füll deine Speicher

es kommen dunklere Tage

Erster Abschied

Es ist wahr, der September nimmt Platz im Kalender. Gleich in der Früh schwebte über den Wiesen ein schmaler, dichter Nebelstreifen durch die Dämmerung, daraus aufsteigend nieselnder Dunst, weiß, bleich, zerfasert. Von den Dingen, die man nicht lernen muss, sondern einfach weiß, ist die Gewissheit, dass nun andere Tage folgen, eine Aussicht, die man mit Zuversicht und Genugtuung zur Kenntnis nimmt. Auf die Natur ist eben Verlass! Das Herz spürt sogleich, woran es ist. Welche Ader auch zuerst in einem anschlägt, der Nebel ist in diesen Tagen wie ein Seismograph der Veränderungen, ein Vorhersager des Kommenden. Indes ein Wetterprophet ist er nicht immer.