Der ganze Goethe

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Goethes Geschichte wäre nun einmal zu schreiben: wie jede Generation ihm von einer anderen Seite beikommt, sich von ihm nimmt, was sie für sich brauchen kann, und ihn sich immer von neuem wieder adaptiert; jede hat sich ihren eigenen Goethe gemacht und wenn man diese Goethes nebeneinander stellt, ist es kaum zu glauben, daß alle von einem und demselben Menschen ausgegangen sein sollen.

Den Mitlebenden hat er sich immer wieder entzogen. »Wenn die Leute glauben, ich wäre noch in Weimar, dann bin ich schon in Erfurt«, sagt er selbst einmal und nennt sich den »veränderten Freund«. Sie konnten ihm nicht nachkommen; kaum glaubten sie ihn zu fassen, war er ihnen schon wieder verloren, er ließ sich nicht festhalten. Die Freunde des »Götz« erkannten ihn im »Tasso« nicht wieder, die Treuesten schraken vor der Farbenlehre zurück, bald war er wirklich der einsame Merlin im leuchtenden Grabe. Er ist nicht mehr ernst zu nehmen, er treibt es zu arg, klagte schon Karoline Herder, einer nach dem anderen stimmte bald traurig bei. Er war ihnen soweit voraus, daß sie meinten, ihn überholt zu haben. Der Berliner Kreis geistreicher Jüdinnen allein hütete sein Andenken noch. Auch sie verstanden, erkannten ihn nicht, doch fühlten sie das ungeheure Geheimnis und hegten es in Ehrfurcht. Dann kam gar ein vorwitziges Geschlecht, ganz dem Tage zugetan, das sich vermaß, die Menschheit durch »Verfassungen« zu heilen; der Dichter galt nur noch als Lieferant von Zitaten für Festredner in Turnvereinen und politischen Liedertafeln, dazu fand sich in den »Wanderjahren« und im »Faust« wenig. Sie wußten mit dem »kalten« Goethe nichts anzufangen. Allmählich wurde der von dem »heiteren« Goethe abgelöst, dem Olympier, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Heyse, ja mit Paul Lindau bekam, ein freies Kind der Welt, hoch über dem Menschenleid beschaulich thronend; den marmornen Goethe nannte man ihn, er war aber doch mehr aus Gips. Das Beste taten für ihn noch in aller Stille die verkannten, unrecht geschmähten Goethephilologen: sie trugen mit deutschem Fleiße das Material zusammen, nun mochte sich ein neues Geschlecht seinen Goethe daraus auferbauen, und jedes folgende wieder, das Material ist da, Goethe kann uns jetzt doch nicht mehr ganz abhanden kommen; und er hat ja Zeit, er wartet. Oder soll Nietzsche recht behalten, daß Goethe niemals den Deutschen angehören wird?

In den neunziger Jahren ging dem Deutschen wieder auf, daß Goethe vorhanden ist. Man kann das etwa von der preisgekrönten Schrift Richard M. Meyers datieren (dessen kluges, auch wieder die Tatsachen unbefangen versammelndes Buch über Nietzsche jetzt vielleicht für diesen ebenso wirken wird, wenn es junge Leute bestimmt, ihn einmal ohne Vorurteil und unbetört zu lesen). In den neunziger Jahren kehrte sich das Geschlecht, das damals eben ins tätige Leben eintrat, Goethe zu und – sah nun auch wieder nur sich selber in ihm. Es entstand der monistische Goethe, dessen sich dann ein Jahrzehnt lang die Oberlehrer so sehr berühmten, bis ihm endlich Chamberlain den Garaus gemacht hat. Goethe, der die ganze Menschheit enthält, enthält auch einen Monisten, wie er die Griechen, das Rokoko und die Romantik, Voltaire, Kant und Herder, ja Schelling und Hegel, die Mystik, den Pietismus und den Katholizismus enthält, aber alle zusammen. Nimmt man aus dem Ganzen ein einziges Stück heraus, als ob es allein Goethe wäre, so fälscht man ihn, indem man ihm sein Leben nimmt, das eben in diesem Zusammenhang seiner sämtlichen Stücke, wie sie sich bedingen und einander auch wieder begrenzen und eins das andere so beleuchten als beschatten, immer erst entsteht.

Wenn sich der monistische Wanderlehrer auf Fausts Monolog in »Wald und Höhle« beruft (»Erhabener Geist, du gabst mir, gabst mir alles«), so vergißt er nur die Replik Mephistos, in der sich der Katzenjammer aller monistischen Verzückungen auftut:

»Und Erd' und Himmel wonniglich umfassen,
Zu einer Gottheit sich aufschwellen lassen,
In stolzer Kraft, ich weiß nicht was, genießen,
Bald liebewonniglich in alles überfließen,
Verschwunden ganz der Erdensohn,
Und dann die hohe Intuition –
Ich darf nicht sagen wie – zu schließen.«

Er vergißt, daß Goethe nicht Faust ist, sondern Faust und Mephisto zusammen, und er vergißt, daß der Monismus auch nur eine Phase Faustens ist, der steigt dann zu den Müttern hinab, dringt zur Tat auf freiem Grund mit freiem Volke durch und fährt, von Engeln getragen, zum Himmel auf. Für jeden Satz Goethes, der seinen Monismus beweisen soll, will ich mit fünf anderen seinen Dualismus erbringen: Niemand hat, als Kind, Mann und Greis, so stark Erdenreich und Geisterwelt einander suchen, verschränken, ja durchdringen, aber immer wieder einander verlieren, ja befeinden gefühlt wie Goethe.

Es gibt kaum eine Meinung, für die man sich nicht auf Goethe berufen kann, gleich aber auch gegen sie, und ohne daß man ihn je so mit sich selbst wiederlegen könnte, denn er hat nicht heute die eine, morgen die andere Meinung, und auch das trifft nicht zu, daß er beide Meinungen zusammen hätte, sondern immer deutet er damit nur auf ein Höheres hin, wovon die beiden, wovon alle Meinungen immer nur wieder ein Unzulängliches sind, das niemals Ereignis wird, wohin alle menschlichen Meinungen immer nur ein immer wieder versagendes Verlangen unserer immer von neuem ausgestreckten, immer von neuem abstürzenden Sehnsucht sind. Er ist darum geneigt, mit seiner Hersilie von allen Sentenzen, Maximen, in die der Mensch die Wahrheit einzufangen versucht, zu finden, »daß man sie alle umkehren kann und daß sie alsdann ebenso wahr sind, und vielleicht noch mehr«. (»Wanderjahre«, Tempel Seite 70.) Das heißt nicht, daß er an der Wahrheit zweifelt. Er verzweifelt nur daran, sie mitteilen zu können. »Buchstaben mögen eine schöne Sache sein, und doch sind sie unzulänglich, die Töne auszudrücken; Töne können wir nicht entbehren, und doch sind sie bei weitem nicht hinreichend, den eigentlichen Sinn verlauten zu lassen; am Ende kleben wir am Buchstaben und am Ton und sind nicht besser dran, als wenn wir sie ganz entbehrten; was wir mitteilen, was uns überliefert wird, ist immer nur das Gemeinste, der Mühe gar nicht wert.« (»Wanderjahre«, Tempel Seite 32.) Da wir nun aber doch einmal, wenn wir nicht, wie Montan, lieber ganz verstummen, auf »das schlechte Zeug von öden Worten« angewiesen sind, hilft er sich damit, daß er eben »das Gemeinste« immer wieder anders ausspricht, indem er so, immer wieder von einer anderen Seite her an die Wahrheit heranschleichend, doch wenigstens ein Gefühl der ewig verhüllten erahnen zu lassen hofft. In jenem berühmten Brief an Jacobi, vom 6. Januar 1813, hat er es selbst ausgesprochen: »Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andere. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.« Ebenso auf einem Zettel von seiner Hand (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band, Seite 374): »Wir sind naturforschend Phantheisten, dichtend Polytheisten, sittlich Monotheisten.« Und wieder, noch schärfer, einmal in den »Einzelnen Betrachtungen und Aphorismen über Naturwissenschaft im allgemeinen« (»Naturwissenschaftliche Schriften« 2. Band Seite 163): »Poesie deutet auf die Geheimnisse der Natur und sucht sie durchs Bild zu lösen. Philosophie deutet auf die Geheimnisse der Vernunft und sucht sie durchs Wort zu lösen. Mystik deutet auf die Geheimnisse der Natur und Vernunft und sucht sie durch Wort und Bild zu lösen.« Jedes deutet also in seiner eigenen Art, indem er sich dazu seiner besonderen Mittel bedient, jedes hat auf seine Weise recht, aber alle können doch immer nur »deuten«, es bleibt »Geheimnis«, das nur »die Organe aller Wesen zusammen erfassen mögen«, der lobpreisende Chor der sämtlichen Erschaffenen. Mehr als »deuten« können wir nicht. »Deuten« oder wie Goethe es auch gern nennt: bis an das Urphänomen kommen, »die Phänomene bis zu ihren Urquellen verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt.« (»Farbenlehre« I. Band Einleitung.) An diesen »Urverhältnissen« wird uns Halt geboten, sie mögen wir anschauen und allenfalls ahnen, daß, was sie in sich verbergen, auch in uns verborgen vorhanden ist. Wir können an ihnen, wie er in jungen Jahren einst dem Grafen Stolberg schrieb (»Der junge Goethe«, Inselverlag, 5. Band, Seite 309), Gott, »den unergreiflichen«, berühren, aber jedes Wort davon ist nur »Kindergelall und Gerassel«. Aussprechen können wir nichts davon, aber Zeugnis können wir ablegen dafür, durch unser Tun nämlich, indem nun jeder, der einmal des »Urlebendigen« irgendwie bei sich gewahr geworden, das selige Gefühl davon in sein Tagewerk mitnimmt, Erkennen werden wir die Wahrheit nie noch aussprechen können, aber wir können uns zur Wahrheit bekennen: wir können das Geheimnis fühlen und es bezeugen, indem wir es ausüben, jeder auf seine Art, der eine durch sein Tun, der andere in seinem Wandel, aber alle doch immer nur hindeutend, mag man das nun mit einem Wort, das leicht mißbraucht werden kann, symbolisch oder, wie Goethe noch lieber sagt, analogisch nennen. Sobald man sich aber dann verleiten läßt und das Symbolische, das Analogische beim Worte nimmt, als wäre damit ausgesprochen, was doch ewig unaussprechlich bleibt, ist man, kaum geborgen, schon wieder verloren. Heraklit hat vom delphischen Gott gesagt, daß er nichts ausspreche, nichts verberge, sondern es anzeige. (ουτε λεγει ουτε χρυπτει αλλα σθμαινει.) So will Goethe, wenn er spricht, nichts aussprechen, sondern er zeigt das Geheimnis an. Und darum muß er sich immer wieder widersprechen. Denn auch indem er wiederspricht, zeigt er das Geheimnis wieder an. Sein ganzes Leben ist solch ein ununterbrochenes Zeigen auf das Geheimnis. »An Gott glauben,« hat er einmal gesagt, »dies ist ein schönes löbliches Wort, aber Gott anerkennen, wo und wie er sich offenbart, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden.« Sein ganzes Leben war ein ununterbrochenes Anerkennen, ja man möchte sagen: Ausüben Gottes.

»Abglanz« nur erreichen wir, niemals das, was glänzt, selbst. Wir erreichen immer nur Modifikationen eines Unbekannten. Wie wir uns vermessen, an ihnen dieses selbst ergreifen zu wollen, müssen wir schon in uns selber greifen, wir dichten schon. Wenn ich an die Linde im Garten denke, muß ich sie mir schon erdenken. Sie ist das ja nie, sie wird es erst durch mich. Damit ich sie nur überhaupt gewahren kann, muß durch mich an ihr etwas geschehen. Was ich jedesmal von ihr erblicke, sind jedesmal wieder andere Modifikationen, und daß ich alle diese Modifikationen auf einen und denselben unbekannten Grund, immer auf ein und dasselbe Unbekannte beziehe, das ist schon meine Tat. Dies meint Goethe, wenn er unablässig immer wieder auf das Tun dringt. Durch Tun erst wird Wissen ganz. »Das Halbgewußte hindert das Wissen. Weil alles unser Wissen nur halb ist, so hindert unser Wissen immer das Wissen« (»Naturw. Schriften« 10. Band, Seite 76). Alles Wissen ist ohnmächtig, solange nicht aus unserem Innern noch eine Kraft dazu kommt, die, was wir wissen wollen, erst vollbringt. Diese Kraft in uns, die wir den Modifikationen antun, bleibt uns ebenso unbekannt als die hinter den Modifikationen wirkende, sie bewirkende Kraft; wir glauben nur gewiß zu sein, daß diese beiden Unbekannten einander durch uns hindurch die Hände reichen. So kommt Goethe zu seinem besonderen Begriff einer Wissenschaft, für die das Wissen nicht hinreicht, die mehr sein muß, nämlich Kunst.1