Inhaltsverzeichnis

Prolog

Marga Breuer leidet an Demenz. Und mit ihr leidet ihre Familie. Längst kann keiner die irren Einfälle der alten Frau mehr ertragen. Früher war sie eine tolle Mutter und Großmutter. Doch das ist lange her. Mittlerweile macht sie die ganze Familie kaputt. Am schlimmsten leidet ihre einzige Tochter darunter, denn die muss Marga privat pflegen… 7 Tage die Woche … zusätzlich zu ihrem Fulltime-Job und dem Sohn, den sie als alleinerziehende Mutter aufziehen muss. Eines Tages lernt die 75-jährige Marga einen jungen Obdachlosen kennen. Der Alkoholkranke hat fantastische Visionen und jede Menge Zeit, um auf Kosten anderer zu leben…

Kapitel 1

Schnee liegt auf den Dächern. Die Sonne scheint. Der Himmel ist blau. Nur ein paar Schäfchenwolken durchkreuzen das herrliche Blau. In wenigen Tagen ist schon Weihnachten. Das Thermometer zeigt Minustemperaturen. Völlig weltentrückt sitzt die alte Dame in ihrem lachsfarbenen Chanel-Kostüm auf einer Bank und beobachtet völlig weltentrückt das muntere Tun und Treiben um sich herum. Heute ist Markt in dem kleinen Städtchen an der deutsch-niederländischen Grenze. Ein echtes Ereignis für die Senioren der Region. Auf diesen Tag der Woche freuen sie sich ganz besonders.

Auch die alte Dame in ihrem lachsfarbenen Chanel-Kostüm freut sich und hofft, dass endlich jemand vorbeikommt, den sie wiedererkennt. Nur fremde Gesichter. Niemand, der ihr auch nur ansatzweise bekannt vorkommt. Liegt es daran, dass die alte Frau keine Freunde hat, weil die meisten davon schon gestorben sind? Oder liegt es eher daran, dass sie alles vergisst? Es wird wohl eine Mischung aus beidem sein. Und so hat sie sich in den letzten Jahren mehr und mehr zurückgezogen, seit sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes merkte, dass mit ihrem Kopf etwas nicht stimmt. Schlimmer. Sie forderte von ihrer ursprünglich großen Familie, dass sie ihr in die Isolation folgt. Alle Familienmitglieder lehnten ab. Also fordert die alte Dame, dass ihre einzige Tochter sie pflegen soll.

»Entschuldigung«, wird die alte Frau plötzlich aus ihren Gedanken gerissen. »Ist Ihnen nicht zu kalt in ihrem Sommerkostüm? Wir haben Minustemperaturen. Der Sommer ist schon lange vorbei«, sagt eine angenehm rauchig klingende junge Männerstimme. Wie selbstverständlich legt ihr der junge Mann seinen Wintermantel um die Schultern und bietet ihr eine Zigarette an. Gerne nimmt sie diese. Endlich jemand, der genau wie sie süchtig nach Nikotin und Zigarettenqualm ist. Bei ihrer Tochter soll sie nicht rauchen. Deshalb macht sie es heimlich auf der Toilette, im Bett oder im Garten.

Der junge Mann stellt sich ihr als “Frank Schlüter“ vor. Seine Mutter sei eine Adelige und hätte im letzten Krieg ihren gesamten Besitz verloren. Wenn das nicht passiert wäre, würde er heute leben wie ein Prinz oder ein König. So aber kam es anders: Er lebt als Obdachloser auf der Straße und verdient sich sein tägliches warmes Essen als freischaffender Künstler. Und das ist ganz schön hart im Winter. Nachts schläft er meist in einem Heim für obdachlose Männer, wenn ihn nicht irgendeine nette Frau mit nachhause nimmt. »Verzeihung, wie heißen Sie eigentlich?«.

»Ich bin Marga Breuer und freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«. Tief inhaliert sie den Rauch der Zigarette. Freundlich sieht sie den jungen Mann an. Raucher sind bessere Menschen, findet sie. Mit Nichtrauchern wie ihrer Tochter kann man nichts anfangen.

Sie philosophieren eine Weile über die Vor- und Nachteile des Rauchens, bis der junge Mann dann sein wahres Anliegen offenbart. Er hat sich nicht nur zu der Alten gesetzt, weil sie offenbar Probleme hat. Er hält sie für vermögend und braucht dringend Geld. Das will er von ihr haben. Wie selbstverständlich greift Marga in ihre Tasche, zieht ihre Geldbörse heraus und schenkt ihm hundert Euro. Sicher. Fünf Euro hätten ihm auch gereicht, aber soll er etwa ablehnen, wenn er ohne große Mühe an so viel Geld kommt? Auf keinen Fall. Da wäre er ja schön blöd.

Schnell kauft Frank Schlüter sich auf dem Wochenmarkt erst einmal eine Portion Backfisch. Als er mit seinem Essen zurückkommt sitzt die Alte immer noch auf der Bank. Sie scheint sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Er bedankt sich bei ihr. Es ist sein erstes richtiges warmes Essen seit Tagen. Mit Genuss reißt er mit den Fingern Stücke von dem fettigen Backfisch ab und schiebt sie sich in den Mund. Er isst gierig, fast wie ein Tier, kaut mit offenem Mund. Mit seiner aristokratischen Abstammung kann es also in Wirklichkeit nicht sehr weit her sein…

Nun will er mehr über das Umfeld der spendablen alten Dame wissen. Er fragt sie fast eine halbe Stunde lang aus … bis er weiß, dass sie in einem männerfreien Haus lebt, wo ihm kein anderer Mann in die Quere kommen kann. »Darf ich mit zu dir kommen?«.

Marga Breuer überlegt. »Nein, das geht nicht. Meine Tochter will nicht, dass ich wildfremde Menschen mit nachhause bringe. Sie wird böse mit mir, wenn ich mich nicht daran halte.«.

»Aber es ist doch bald Weihnachten und draußen ist es so verdammt kalt. Ich brauche doch nur ein Bett, eine heiße Dusche, etwas Sauberes zum Anziehen und etwas Leckeres zum Essen. Gib deinem Herzen einen Ruck und nimm mich mit. Deine Tochter wird das schon verstehen, wenn wir ihr eine tolle Geschichte erzählen…«.

Gesagt. Getan. Die demenzkranke Alte nimmt den circa 40-jährigen Obdachlosen mit nachhause. Allerdings muss sie sich dazu erst ein Taxi rufen, weil sie nicht gut zu Fuß ist und den Rückweg vergessen hat. Ohne fremde Hilfe findet sie ihr Zuhause nicht mehr. Das kann schon mal passieren. Doch hier auf dem Land ist das nicht so schlimm wie in der Stadt. Jeder kennt hier jeden. Verloren geht hier niemand. Und falls doch, bekommt man seine betagten Familienangehörigen einfach frei Haus geliefert. Wozu hat man denn nette hilfsbereite Nachbarn?

Die Tochter ist noch nicht von der Arbeit zurück als Marga mit ihrem neuen Freund zuhause eintrifft. Der Enkel ist noch in der Hausaufgabenbetreuung. Außer dem Hund und den beiden Katzen sieht also niemand, was sich innerhalb der nächsten Stunden im Haus abspielt. Marga vertraut dem jungen Mann blind.

Er duscht nicht lange. Kaum aus dem Badezimmer raus, durchsucht er erst einmal die Wohnung der Tochter nach Geld, Schmuck und anderen Wertgegenständen. Erleichtert grunzt er wie ein Schwein als er endlich eine Flasche Whisky findet. Nach einem großen Schluck aus der Flasche fühlt er sich sofort besser. Den hat er jetzt gebraucht.

Endlich hat er im Arbeitszimmer gefunden, was er sucht: 1500 Euro in bar, etwas alten Erbschmuck, ein paar Aktien und ein Sparbuch. Schnell lässt er alles in seinem Rucksack verschwinden. Befriedigt über das erfolgreiche Resultat seiner Suche in fremden Schränken nimmt er noch einen Schluck aus der Whiskyflasche. So könnte das jetzt weiter gehen. Dieses Haus gefällt ihm. Wenn er jetzt noch eine leckere Mahlzeit und ein weiches Bett mit Fernseher kriegen würde, könnte er es hier eine Weile aushalten.

»Schau mal, was ich für dich gefunden habe«, hört er plötzlich hinter sich die Stimme der alten Frau. »Das sind die Sachen von meinem verstorbenen Mann Heinz. Ich habe sie aufgehoben, weil sie ganz neu sind. Du hast seine Größe. Das müsste dir alles passen. Probiere die Sachen doch gleich mal an. Ich mache mich inzwischen ein wenig frisch.«. Sie legte ihm eine braune Cordhose, ein kariertes Hemd, Schiesser-Feinripp-Unterwäsche und eine selbstgestrickte gelbe Weste über einen Stuhl, lächelte ihm zu und verläßt den Raum.

Soll er das Zeug wirklich anziehen? Die Klamotten eines verstorbenen alten Mannes? Er überlegt eine Weile. Schließlich zieht er sich das Badetuch von den Hüften und steigt in die Kleidung des Verstorbenen. Er fühlt sich nicht wohl darin. Einerseits ist er für solche Alt-Herren-Klamotten noch viel zu jung. Andererseits ist es ohnehin ein seltsames Gefühl, die Kleider deines Toten zu tragen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch geht er nach unten in die Wohnung der alten Frau.

Dort wartet schon die nächste unangenehme Überraschung auf ihn: Marga Breuer hat sich für ihn schön gemacht. Sie trägt jetzt einen Minirock, ein knappes glitzerndes Sommertop und High Heels. Auf den Lippen trägt sie knallroten Lippenstift, ihre Augen sind mit violettem Lidschatten und schwarzer Wimperntusche betont. Ihre grauen Haare hat sie toupiert und mit Haarspray fixiert. Sie sieht jetzt aus wie eine abgetakelte Puffmutter im Kölner Karneval. Eiskalte Schauer laufen Frank bei diesem Anblick über den Rücken. Was will die Alte von ihm?

»Ach, Heinz, du siehst schick aus in den neuen Sachen. So gefällst du mir. Komm, setz dich zu mir und lass uns Kaffee trinken und Kuchen essen. Ich habe für uns schon den Kaffeetisch gedeckt. Das wird bestimmt romantisch. Wir sollten das ab jetzt öfter machen, um unsere Liebe jung und frisch zu halten. Einverstanden?«.

»Ich heiße Frank.«.

Fast ängstlich setzt sich der frisch geduschte Obdachlose neben die alte Marga Breuer auf die Couch. Zärtlich und zugleich fordernd legt sie ihm ihre rechte Hand aufs Knie, während sie ihm mit zitternden Händen Kaffee eingießt. Dabei verschüttet sie die Hälfte. Der Kaffee landet auf dem Laminat. Doch das scheint die alte Frau nicht zu stören. Sie serviert ihm nun Marmorkuchen mit Sahne, nimmt sich auch ein Stück davon. Während sie versucht, ihn zu essen, fällt ihr das abgebissene Stück aus dem Mund. Auch dieses landet auf dem Laminat. Sie lächelt ihn an und berührt wieder sein Knie.

»Heinz, ich hätte nie gedacht, dass du für mich immer so jung und schön bleibst. Du bist und bleibst die große Liebe meines Lebens. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen. Liebst du mich denn auch noch so wie am ersten Tag unserer Ehe? Bitte küss mich!«. Es sieht richtig eklig aus wie die Alte ihm ihre verschmierten Lippen hinhält und versucht, damit einen Kussmund zu formen. Allein der Gedanke, sie küssen zu sollen, bringt ihn schon zum Würgen.

»Ich bin nicht Heinz – ich heiße Frank«.

Sie hört ihm nicht einmal zu, streckt ihre faltigen Arme nach ihm aus, will unbedingt von ihm geküsst werden. Offenbar hält sie ihn für ihren verstorbenen Mann und sich selbst für knackige 25 Jahre. Im Kopf dieser alten Dame scheint sich einiges verschoben zu haben.

Wie soll er nur aus dieser Nummer wieder herauskommen? Schnell holt er seinen Rucksack, eilt zum Kühlschrank und stopft alles hinein, was er mag: Schinken, Wurst und Käse. In diesem Moment hört er, wie jemand die Wohnungstür aufschließt. Zu spät zum Weglaufen. Jetzt muss er sich eine gute Geschichte einfallen lassen, wenn das für ihn gut ausgehen soll.

»Hallo, ich bin der Frank, dein Cousin aus den Niederlanden«, stellt er sich der attraktiven Blondine vor, die erst einmal ihren circa 12-jährigen Sohn zur Seite schiebt und dann nach ihrer Mutter sucht. Im Wohnzimmer findet sie die alte Frau, welche sich derweil entkleidet und in aufreizender Pose – wie sie meint – für ihren “Heinz“ auf der Couch präsentiert. Der Tochter bleibt bei diesem furchtbaren Anblick erst einmal die Luft weg. So etwas erwartet wohl niemand, wenn er nichtsahnend von einem anstrengenden Arbeitstag nachhause kommt…

»Ich bin Miriam Breuer, die Hauseigentümerin«, antwortet die scharfe Mitdreißigerin. Sie scheint ziemlich aggressiv zu sein und schaut ihn böse an. Ihre blauen Augen funkeln dabei wie Edelsteine. »Was ist hier los? Und was haben Sie mit meiner Mutter gemacht? Ich falle ja fast vom Glauben ab, wenn ich das hier sehe. Außerdem habe ich garantiert keinen Cousin aus den Niederlanden. Also, wer sind Sie und was wollen sie hier?«.

»Ich heiße Frank Schlüter und habe ihre Mutter auf dem Wochenmarkt kennengelernt. Sie saß dort frierend in einem Sommerkostüm auf einer Bank mitten im Winter. Ich habe sie nachhause gebracht, geduscht und sie gab mir die Kleider ihres verstorbenen Mannes. Wir haben uns unterhalten. Das ist alles.«.

Die aggressive Stimmung der scharfen Blondine scheint sich etwas zu bessern. Mit einer Wolldecke versucht sie nun, die Blöße ihrer Mutter zu bedecken. Doch leider klappt das nicht. Die Alte will sich ihrem jungen Geliebten unbedingt nackt zeigen. Immer wieder reißt sie die Wolldecke herunter. Währenddessen sucht Frank nach seinen eigenen Klamotten, die er schließlich in der Küche findet. Schnell zieht er sich um, schnappt sich seinen Rucksack und will gerade das Haus verlassen als der Junge sich einmischt: »Hey, Mama. Schau mal, was der Mann alles in seinem Rucksack hat! Das gehört bestimmt uns. Du solltest die Polizei rufen.«.

Miriam Breuer ruft die Polizei. Als die Polizeibeamten den obdachlosen Alkoholkranken abführen, spuckt er ihr ins Gesicht und verspricht ihr: »Man sieht sich in diesem Leben immer zweimal. Dich mache ich fertig!«.

2

Bitte Einsteigen! Wenn sie auf den Bahnhöfen beim Umsteigen warten muss, verbringt sie die Zeit mit Leute gucken. Andere Menschen sind nervös, ungeduldig, schlecht gelaunt, aggressiv, wenn sie lange warten müssen. Nicht so die alte Dame mit den stark gepuderten rosaroten Wangen in ihrem lachsfarbenen Chanel-Kostüm. Kess wirft sie ihren Kopf nach hinten. Sie freut sich immer, wenn es möglichst lange dauert. Es gibt dann soviel zu hören und zu sehen. Das ist viel besser als Fernsehen.

Wo will der Mann wohl mit dem riesigen dunkelblauen Koffer hin? Und die schöne Frau mit den hohen Absätzen – warum rennt sie wie um ihr Leben? Wartet jemand auf sie? Der alte Mann ganz hinten wirkt ein wenig weltentrückt. Ob er vielleicht ihre Hilfe braucht? »Bitte Einsteigen! Bitte Einsteigen und Türen schließen!?«, dröhnt es aus den Lautsprechern. Täglich beginnt für viele Menschen an jedem Bahnhof eine Reise. Wohin geht ihre Reise? Für die alte Dame im lachsfarbenen Chanel-Kostüm ist es nie langweilig, sie zu beobachten. Das ist eben Leute gucken.

Man könnte denken, dass das Sitzen auf Bahnhöfen für die 89-Jährige eine Art Folter sein müsste. Seltsamerweise fühlt sie sich auf ihren Reisen mit der Bahn aber wohler als in dem Altersheim, in dem längst ein Zimmer für sie reserviert ist.

Ihre Familie kann es nicht mehr mit ihr und ihren Demenzsymptomen aushalten. Hauptsache, sie muss nicht in dieses schreckliche Heim! Nein. Sie will nicht zu diesen schrecklichen demenzkranken Alten, von denen sie bald selbst eine sein soll, wenn der Arzt Recht hat. Marga Breuer braucht pulsierendes Leben um sich herum, um sich wohl und lebendig zu fühlen. All das fehlt ihr in dem Heim. Ihre Familie scheint sie nach dem niederschmetternden ärztlichen Gutachten vergessen zu haben. Marga hat jedoch schnell gemerkt, dass Kleider tatsächlich Leute machen. Besser angezogen wird sie ernst genommen. Sie ist wieder jemand, wird respektiert und nicht als irre Alte beschimpft. Das tut ihr gut.

Marga überlegt. Es stimmt schon, dass das Zusammenleben der Witwe mit ihrer einzigen Tochter Miriam in den letzten Jahren nicht leicht war. Sie hat es schwer in ihrem Beruf als Betriebsassistentin und leidet sehr unter den verrückten Sachen, die ihre Mutter von Zeit zu Zeit anstellt. Immer häufiger hat sie die Nacht zum Tage gemacht und dann laut nach ihr gerufen. Kein Mann an Miriams Seite war bereit, das zu ertragen. Keiner hielt es aus. Es kam auch vor, dass Marga ihre Schuhe in den Geschirrspüler steckte und ihre Brieftasche in die Mülltonne. Nichts wollte mehr so recht klappen. Die ganze Welt dreht sich um Marga und Marga dreht sich um die ganze Welt. Mit dem Denken will es auch nicht mehr so recht funktionieren.

Immer öfter hat sie ihrer Tochter Miriam vorgeworfen, sie habe sie bestohlen, wenn sie ihre verlegten Sachen nicht wieder fand. Schließlich zeigte sie ihre Tochter sogar bei der Polizei an. Das war der dann doch zu viel. Der gute Ruf und die berufliche Karriere der Tochter standen auf dem Spiel.

Eine solche Mutter kann die Tochter, die außerdem noch einen Sohn alleine groß ziehen muss, sich nicht leisten. Als bei der ärztlichen Untersuchung heraus kommt, dass eine Demenz im fortgeschrittenen Stadium bei Marga vorliegt, fackelt Miriam nicht lange. Sie kann ihre problematische Mutter nicht mehr ertragen. Zu viele schlaflose Nächte und zu viele falsche Anzeigen zu ihren Lasten haben sie in ihrer zusätzlichen Rolle als private Pflegekraft mürbe und kraftlos gemacht. »Du treibst mich in den Ruin!«, waren ihre letzten Worte beim Abschied. Marga soll nun testweise in einem Seniorenheim leben, wovon sie allerdings gar nichts hält.

Ein Zimmer, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Ohrensessel und ein Fernseher sind ihr nun geblieben von all dem, was sie vorher hatte. Erst jetzt wird ihr bewusst, wie sehr sie ihre einzige Tochter jahrelang ausgebeutet hat. Sicher. Von ihr wurde sie viel besser versorgt als im Seniorenheim. Hier gibt es viel zu wenige Pflegekräfte. Niemand nimmt sich Zeit für ein nettes Wort. Nie hat sie sich bei ihrer Tochter für all die Mühe und Arbeit bedankt.

Seitdem sitzt Marga Breuer so oft sie kann gut frisiert und geschminkt in ihrem lachsfarbenen Chanel-Kostüm auf einem Bahnhof. Sie hält ihre Handtasche immer gut fest, damit sie nicht gestohlen wird. Manchmal leistet sie sich auch ein Ticket und fährt ein paar Stationen mit der Bahn. Wohin ist egal.

Hauptsache, sie spürt, dass sie noch lebt. Zu Tochter Miriam und dem Enkel traut sie sich nicht. Vielleicht braucht ihre Tochter einfach nur Zeit, um sich wieder auf sie zu besinnen? Sechs Monate hat sie nun gewartet, dass Miriam sie besuchen kommt. Aber Miriam kommt nicht. Marga fühlt sich ausgesetzt wie ein kleiner Straßenhund, der kein Zuhause mehr hat.

»Entschuldigung. Ich habe mein Ticket verloren. Können Sie mir etwas Geld leihen? Ich habe schrecklichen Hunger!?«, wird sie in ihren Gedanken unterbrochen. Vor ihr steht ein netter junger Mann, der sicher ein echter Hingucker wäre, wenn man ihn gewaschen, rasiert und frisiert hätte, und dann in andere Kleidung gesteckt hätte. Seine langen Haare sind so dreckig und verfilzt, dass man nur erraten kann, wie denn wohl seine Haarfarbe aussehen mag.

»Armer Junge. Sie sehen ja schrecklich aus. Was ist Ihnen denn passiert?«. Sogar Marga merkt an dem schrecklichen Geruch seiner Kleidung, dass dieser junge bemitleidenswerte Mann schon etwas länger als nur einen Tag auf der Straße lebt und hungert.

Und das bedeutet bei der 89-Jährigen, die sonst meist in ihren Traumwelten verhaftet ist, schon einiges. Sie hat wie durch ein Wunder ein kleines Stück Realität aufgenommen und nimmt plötzlich wieder am Leben eines anderen Menschen teil.

»Wie viel Geld brauchen Sie denn?«, will Marga wissen.

»Nicht viel. Ich würde gerne etwas essen, duschen, meine Sachen waschen und in einem richtigen Bett schlafen.«.

Die alte Dame lässt sich nicht lange bitten.

Es ist so schön, endlich mal wieder einen Ansprechpartner zu haben, der ihr nicht mit Spritzen und Tabletten vor der Nase herum fuchtelt. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Ratlos schlendern die beiden so unterschiedlichen Menschen durch die alte Kaiserstadt Aachen bei Nacht. »Ich finde, dass Aachen trotz allem eine der schönsten Städte Deutschlands ist.«, sagt Frank Schlüter. Die alte Dame nickt zustimmend. In Gedanken ist sie schon längst ganz woanders. Sie überlegt, wie sie dem jungen Mann zu einem Dach über dem Kopf verhelfen kann. Es sieht nach Regen aus.

»Wie alt bist du eigentlich?«, will Marga wissen.

»Ich bin 40, bin Künstler und mache Expertisen.«.

»Und wie bist du auf der Straße gelandet?«.

»Mein Vater ist früh gestorben. Meine Mutter hat eine Kneipe geführt, um mich und meine Schwester alleine groß ziehen zu können. Ich komme mit den beiden Frauen nicht gut zurecht, bin ihnen zu faul. Es gibt immer wieder Streit zwischen uns. Deshalb haben sie mich rausgeworfen…«.

»Mich hat meine Tochter aus dem Haus geworfen. Ich ruiniere ihr Leben, weil ich immer so dumme Sachen mache, meint sie«.

»Da haben wir wohl beide Pech gehabt«.

Als sie an einer Telefonzelle vorbeikommen entschuldigt sich Marga kurz und geht alleine hinein. Sie steckt ihre Telefonkarte hinein und wählt die Nummer ihrer früheren Nachbarin. »Ja. Hallo Herta, ich bin es, die Marga von nebenan. Weißt du, ob meine Tochter Miriam gerade zu Hause ist?«.

Sie wartet eine Weile und lauscht bevor sie wieder etwas sagt, »Wie bitte? Die Miriam ist in Urlaub und einige Wochen gar nicht da? Seit wann macht die denn Urlaub? Ich habe ihr das doch immer verboten. Sie soll für mich arbeiten. Sonst nichts… Nein danke. Mach dir keine Sorgen. Ich habe meinen Hausschlüssel nicht verloren …«.

Margas Augen strahlen wie Sterne als sie wieder aus der Telefonzelle herauskommt. »Ich habe eine Lösung gefunden, mit der ich dir helfen kann. Und jetzt leisten wir uns erst einmal ein Taxi.«. Sie hakt sich bei Frank ein und zieht ihn zum nächsten Taxistand, wo um diese Uhrzeit nur noch ein einziges Taxi steht und hier völlig einsam auf Fahrgäste wartet, die befördert werden wollen.

»Zum Adalbertsteinweg bitte!«, weist sie den Taxifahrer an, welcher dem jungen Mann bei der Hausanschrift sofort einen verächtlichen Blick zuwirft und die Nase rümpft. »Stimmt etwas nicht?«, will Marga von ihm wissen. Der Taxifahrer verneint und fährt schweigend los. Die alte Dame ist stolz auf sich. Sie hat ihre alte Courage von früher zurück gefunden. So stark und wichtig hat sie sich lange nicht mehr gefühlt. Vor einem gut erhaltenen roten Reihenhaus mit Stuckfassade lässt sie das Taxi anhalten. Marga lässt sich nicht lumpen. Mit einem Lächeln auf den faltigen Lippen reicht sie dem Taxifahrer zusätzlich einen Fünf-Euro-Schein und bedankt sich bei ihm für die schöne Fahrt nachhause.

Der Schlüssel passt tatsächlich noch. Tochter Miriam hat die Schlösser noch nicht auswechseln lassen. Vielleicht weiß sie gar nicht, dass Magda ihren Hausschlüssel noch hat. Bei all dem Ärger mit ihrer Mutter hat die Tochter das wohl ganz vergessen. So als ob sie wie früher jeden Tag hier ein- und ausgehen würde, wirbelt Marga sofort durch die ihr vertrauten Räume. Ach, wie schön das doch ist, wieder zuhause zu sein. Sie lässt für den obdachlosen Frank ein Bad mit Moschusduft ein und sucht in der Gefriertruhe in der Küche nach etwas Essbarem, das schnell fertig ist. »Magst du Pizza?«.

»Ich mag alles, was satt macht«.

Frank Schlüter geht ins Badezimmer.

Während Magda Breuer die Pizza in den Backofen schiebt und dabei ein fröhliches Liedchen flötet, lässt Frank sich entspannt in das warme Badewasser gleiten. Ach, wie gut das tut. Endlich wieder sauber werden und sich die Haare waschen können. Davon hatte er nächtelang geträumt, während er zitternd zwischen anderen Obdachlosen um sein letztes Hab und Gut bangen musste. Für ihn war das Leben auf der Straße nichts...

»Soll ich dir helfen?«.

»Ja.«.

Marga hat mitbekommen, dass Frank Schwierigkeiten hat, die verfilzten Stellen aus seinen langen lockigen Haaren wieder heraus zu bekommen. Mit Shampoo, Kamm und Bürste macht sie sich sofort an die Arbeit. Nach dreißig Minuten steigt ein Adonis aus dem Wasser, wie er schöner nicht hätte sein können. Nach weiteren fünf Minuten hat er in der Küche die ganze Pizza weggeputzt. Die alte Dame lässt es sich nicht nehmen, ihn in das Zimmer von Tochter Miriam zu geleiten und ihn zuzudecken. Es ist so schön, wieder eine Aufgabe zu haben, die Sinn macht. »Gute Nacht. Träume etwas Schönes!«. Liebevoll haucht sie ihrem schönen männlichen Findelkind einen Kuss auf die Wange, welcher erwidert wird.

In ihrem früheren Zimmer wundert sich Marga sehr. Es ist alles noch so wie sie es verlassen hat. Ihre Tochter hat nichts weggeworfen.

Schnell macht sie sich frisch und schlüpft in ihren Lieblings-Satin-Schlafanzug. Eine dicke Träne kullert ihr über die rechte Wange als sie die Augen schließt. Vor Glück. Sie liegt in ihrem eigenen weichen Bett und im Zimmer nebenan liegt jemand, den sie mag. »Du bist wieder im Spiel, altes Mädchen.«, flüstert sie sich selbst leise zu. Dann schläft sie ein.

Am nächsten Morgen ist Marga als Erste wach. Neugierig schaut sie leise in das Zimmer von Miriam, wo Frank noch tief in seinen Träumen liegt. Warum hat ihre Tochter nie einen solchen Schwiegersohn mit nach Hause gebracht? Sie schleppte immer Männer an, die keine alten Leute mochten, geschweige denn sie versorgen wollen. Frank hingegen ist anders. Zumindest glaubt Marga das in dieser Phase ihres Lebens. Er hat die Schattenseite des Lebens kennengelernt. Das hinterlässt Spuren.

Wie selbstverständlich geht Marga ins Arbeitszimmer, öffnet den Tresor und nimmt sich Haushaltsgeld der Tochter heraus. Schließlich muss sie ja zum Bäcker und frische Brötchen für ihr neues Kind “Frank“ besorgen - so wie früher für ihren verstorbenen Mann. Ihr Langzeitgedächtnis arbeitet auf Hochtouren. Die uralte Geheimnummer für den Tresor weiß sie noch. Den Namen des jungen Mannes von gestern hat sie schon wieder vergessen.

»Guten Morgen.«

Kapitel 2

»Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Haus?«. Nun lernt Frank Schlüter die andere Seite seiner betagten Gastgeberin kennen. Es ist die Seite an ihr, die Tochter und Enkel nicht mehr ertragen können: Das nicht mehr richtig funktionierende Kurzzeitgedächtnis der alten Dame. Frank atmet tief durch. Er setzt sich an den Frühstückstisch und beginnt mit einer Engelsgeduld zu erzählen, was sie gestern alles zusammen erlebt haben. Die Lage entspannt sich. Marga freut sich über die tolle Geschichte. Leider hat sie sie etwas später schon wieder vergessen. Frank muss sie ihr nochmals erzählen. . .

»Wer wohnt eigentlich sonst in dem Zimmer, in dem ich heute Nacht geschlafen habe?», will Frank wissen.

»Die Miriam, meine Tochter.«.

»Und wann kommt sie zurück?«.

»Das weiß ich nicht.«.

»Kann ich so lange hier bleiben?«.

»Ja.«.

Im Altersheim hat man mittlerweile bemerkt, dass Marga Breuer nicht von ihrem Ausflug zurückgekehrt ist. Man hat versucht, ihre Tochter via Handy zu erreichen, doch deren Handy ist ausgeschaltet. Zwangsläufig haben die Mitarbeiter des Seniorenheims dann die Polizei verständigt und eine Vermisstenanzeige aufgegeben.

Ganz Aachen sucht jetzt nach Magda Breuer, die man hilflos verunglückt in einem Straßengraben vermutet - hingegen nicht als Einbrecherin im Haus ihrer einzigen Tochter.

Währenddessen machen es sich Magda und der Obdachlose im Haus der Tochter gemütlich. Sie bestellen sich Essen und genießen die Vorzüge, sich heutzutage alles per Lieferservice ins Haus liefern zu lassen. Das Leben kann so schön sein. Die beiden beschließen, morgen erst einmal zu zweit einen Einkaufsbummel durch Aachen zu machen. Schließlich muss Frank komplett neu eingekleidet werden. Seine verdreckten Sachen vom Leben auf der Straße sind absolut unbrauchbar, findet Marga. Was würde wohl ihre Tochter dazu sagen, wenn sie für den jungen Mann so viel Geld ausgibt? Schnell wischt Marga den lästigen Gedanken aus ihrem Kopf. Schließlich macht es viel zu viel Spaß, etwas mit Frank zu unternehmen.

Fast sechs Stunden streifen sie auf ihrem Beutezug durch die Aachener Innenstadt. Es geht von einem Kaufhaus ins nächste, von einem Laden direkt in den der Konkurrenz. Eigentlich steht dem schönen Frank, der seine Haare jetzt zum Pferdeschwanz gebunden trägt, alles. Zumindest sieht die alte Marga das so mit ihrem verklärten Blick. Man hätte diesen Mann auch in einen Kartoffelsack stecken können. Selbst der hätte an ihm so toll ausgesehen, dass jeder dieses Modell hätte haben wollen.

Sie vergessen völlig die Zeit bei ihrem Kaufrausch der Sinne zwischen schicken Hosen, Hemden, Jacken, Schuhen, Stiefeln, Accessoires und all den tollen Dingen, die Männer eben brauchen. So lässt es sich Marga auch nicht nehmen, ihm eine Herrenarmbanduhr für über 6000 Euro zu kaufen. Bepackt mit Tüten lassen sie sich in einem kleinen Straßencafé nieder und gönnten sich erst einmal ein kühles Wasser und einen heißen Kaffee.

»Ich bin das gar nicht mehr gewöhnt«, seufzt Marga.

»Das merke ich«, erwidert Frank.

»Wir sollten öfter zusammen einkaufen gehen«.

»Ja. Aber wir sollten es dabei nicht übertreiben. Du bist nicht mehr 28.«.

»Das weiß ich«.

»Na, dann lass uns zu dir nach Hause fahren.«.

Wie im Flug vergehen die Minuten, die Stunden, die Tage. Marga und Frank halten sich nunmehr schon ganze vierzehn Tage in dem Haus der Tochter im Aachener Adalbertsteinweg auf. «Ich fühle mich heute nicht gut. Ich gehe früher ins Bett, wenn du nichts dagegen hast?«, erklärt Frank. Er schiebt die Wolldecke zur Seite, unter der er es sich schon seit Stunden mit Zigaretten und ein paar Bierchen auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht hat. Langsam geht er die Treppe nach oben hinauf.

»Das liegt bestimmt an diesem scheußlichen Regenwetter. Erhole dich gut!«, ruft ihm Marga noch nach. Frank schlüpft in seinen neuen Schlafanzug und legt sich ins Bett. Es braucht keine zehn Minuten und er schläft tief und fest. Und er träumt einen wunderschönen Traum wie er schon lange keinen mehr geträumt hat:

Langsam und unendlich zärtlich streicheln seine Hände über einen weichen Frauenbauch, die Innenseiten ihrer Schenkel, um sich dann bis zu ihren Lippen hoch zu tasten. Seine Schlafanzughose hat er schon längst nicht mehr an. Das Oberteil folgt gerade. Splitternackt liegt auch sie da. Es ist dunkel. Er weiß nicht, ob die Frau wach ist oder schläft. Er spürt ihren heißen Atem auf seiner Haut und kann gar nicht mehr zählen, mit wie vielen leidenschaftlichen Küssen er jede Stelle ihres Körpers liebkost. Die Frau riecht so gut. Davon will er mehr, viel mehr. »Soll ich weiter machen oder aufhören?«, haucht er ihr ins Ohr. »Lass das und fass mich nicht an!«. Schlagartig ist Frank hellwach. Hier stimmt etwas nicht. Das ist kein Traum.

»Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Bett?«.

»Ich bin Miriam und es ist mein Bett. Was machen Sie darin?«.

»Sind Sie die Tochter von Marga?«.

»Ja.«.

»Dann gefälligst raus aus dem Bett! Und Finger weg von meinem Körper. Ich habe Sie nicht gebeten, mich anzufassen.«.

»Das Wort „Nein“ kenne ich in solchen Fällen nicht. Ich denke eher an Weitermachen. Das Kuscheln und Schmusen scheint ihnen doch sehr gefallen zu haben. Zumindest sagt ihr Körper das. Es ist doch sehr aufregend. Ich weiß nur wie Sie sich anfühlen und wie Sie riechen. Ich kenne nicht einmal Ihr Gesicht. Soll ich mal das Licht anmachen?«.

»Bitte nicht!«, seufzt sie.

»Okay. Dann also weitermachen, rate ich mal?«.

»Nein.«.

Bis in die frühen Morgenstunden hinein lieben Sie sich. Leidenschaftlich, sehnsuchtsvoll, animalisch. Erst als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durchs Fenster dringen findet Frank eine Gelegenheit, sich die fremde Frau in seinem Bett genauer anzusehen. »Nicht schlecht«, flüstert er kaum hörbar. »So etwas Schönes hatte ich noch nie in meinem Bett. Wie lange habe ich danach gesucht? Vergeblich. Und jetzt das.«. Er wirft sich seinen Bademantel über und geht nach unten. Er staunt nicht schlecht. Aus dem Radio in der Küche dringt leise Musik an sein Ohr. Es ist ein alter Schlager:

»Ich weiß es wird einmal ein Wunder geschehen ...«.

Dann traut er seinen Augen nicht. In einer weißen Kittelschürze wirbelt Marga durch die Küche. Sie backt im Backofen einen Kuchen, bereitet auf dem Herd das Mittagessen vor und schnippelte gerade das Obst für einen Obstsalat. Als sich ihre Blicke kreuzen, zuckt sie.

»Wieso bist du schon hier?«.

»Deine Tochter ist früher aus dem Urlaub zurück gekommen.«.

»Ach so.«.

»Gefällt sie dir etwa nicht, mein Junge?«.

»Doch. Sie ist wunderschön.«.

»Na, dann ist doch alles in Ordnung.«.

»Nichts ist hier wirklich in Ordnung. Warum bist du aus dem Altersheim abgehauen?«.

»Die sind da nicht nett zu mir und ich langweile mich.«.

»Du langweilst dich?«.

»Ja.«.

»Deshalb legst du mich zu deiner Tochter ins Bett?«.

»Ich weiß nicht …«.

Hinter ihm ist ein leises Knacken zu hören. Die Bodendielen verraten, dass sie hinter ihm steht. »Guten Morgen, Herr Schlüter. So sieht man sich wieder«. Herausfordernd streckt sie ihm ihre rechte Hand entgegen. Sie trägt jetzt ebenfalls einen Bademantel. »Ich mische mich mal in dieses Gespräch ein.«, beginnt sie. »Ich habe meine problematische Mutter im Altersheim abgegeben. Leider läuft sie dort immer weg. Sie will sich nicht anpassen, hält sich für jung. Und sie macht die verrücktesten Sachen. Sie leidet an Demenz.«.

Marga hat inzwischen den Frühstückstisch gedeckt und winkt beide zu Tisch. Schweigend setzen sich alle.

»Ich finde, da wir letzte Nacht miteinander geschlafen haben, sollten wir uns jetzt duzen«, schlägt Frank vor. Miriam nickt zustimmend, würdigt ihn aber keines Blickes.

»Wie sollen wir das Problem mit Frank denn nun lösen?«.

»Na, ganz einfach.«, meint Miriam. »Frank geht dahin zurück, wo er her kommt: Auf die Straße zu seinen Obdachlosen und den Alkoholikern. Ich bin schließlich kein Wohltätigkeitsinstitut, auch wenn dein obdachloser Bekannter das möglicherweise anders sieht. Und die Uhr, die du ihm von meinem Geld geschenkt hast, gibt er dir gefälligst ganz schnell zurück. Sonst rufe ich die Polizei. Immerhin gibt es mir schon zu denken, dass du schon wieder die Nähe meiner Mutter suchst, die sich nicht an dich erinnern kann wie du weißt … und natürlich meine Nähe.«.

Frank lacht gequält. »Du bist schnell und schön«.

Marga meldet sich nun auch zu Wort. Sie hat zwar nicht alles verstanden, was die beiden jungen Leute da reden. »Kann ich hier bleiben?», fragt sie nun ihre Tochter. »Ich werde dich nie wieder stören oder ärgern. Ich verspreche es.«.