Abkürzungsverzeichnis
a. A. | anderer Auffassung |
Abs. | Absatz |
AdVermiG | Adoptionsvermittlungsgesetz |
AG | Ausführungsgesetz |
AGJ | Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe |
ASD | Allgemeiner Sozialer Dienst |
BAföG | Bundesausbildungsförderungsgesetz |
BGB | Bürgerliches Gesetzbuch |
BGBl | Bundesgesetzblatt |
BGH | Bundesgerichtshof |
BKiSchG | Bundeskinderschutzgesetz |
BVerfG | Bundesverfassungsgericht |
BVerfGE | Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts |
BVerwG | Bundesverwaltungsgericht |
BVerwGE | Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts |
FamFG | Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit |
FamRZ | Zeitschrift für das gesamte Familienrecht |
FEVS | Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und der Sozialgerichte |
FGG | Gesetz über die Angelegenheiten der Freiwilligen Gerichtsbarkeit |
FK-SGB VIII | Frankfurter Kommentar zum SGB VIII (Münder et al.) |
g. A. | Gewöhnlicher Aufenthalt |
GG | Grundgesetz |
GK-SGB VIII | Gemeinschaftskommentar zum SGB VIII (Wabnitz et al.) |
GVBl | Gesetz- und Verordnungsblatt |
GVG | Gerichtsverfassungsgesetz |
Haager MSA | Haager Minderjährigenschutzabkommen |
HKJGB | Hessisches Kinder- und Jugendhilfegesetzbuch |
Hrsg. | Herausgeber |
i. V. m. | in Verbindung mit |
JA/JÄer | Jugendamt/Jugendämter |
JAmt | Zeitschrift: Das Jugendamt |
JGG | Jugendgerichtsgesetz |
JHA | Jugendhilfeausschuss |
jurisPK-SGB VIII | juris Praxiskommentar SGB VIII (Luthe/Nellissen) |
JuSchG | Jugendschutzgesetz |
JWG | Gesetz für Jugendwohlfahrt |
KICK | Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz |
KJHG | Kinder- und Jugendhilfegesetz |
KJVVG | Kinder- und Jugendhilfeverwaltungsvereinfachungsgesetz |
KKG | Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz |
KomDat | Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe |
LJA/LJÄer | Landesjugendamt/Landesjugendämter |
LJHA | Landesjugendhilfeausschuss |
LPK-SGB VIII | Lehr- und Praxiskommentar SGB VIII (Kunkel) |
NDV | Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge |
NVwZ-RR | Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungsübersicht |
OVG | Oberverwaltungsgericht |
Psb. | Personensorgeberechtige(r) |
Rdnr./Rn. | Randnummer |
RdJB | Zeitschrift: Recht der Jugend und des Bildungswesens |
RJWG | Reichsjugendwohlfahrtsgesetz |
Rz. | Randziffer |
SGB | Sozialgesetzbuch |
SGB I | Erstes Buch Sozialgesetzbuch (Allg. Teil) |
SGB VIII | Achtes Buch SGB (Kinder- und Jugendhilfe) |
SGB X | Zehntes Buch SGB (Verwaltungsverfahren) |
SGG | Sozialgerichtsgesetz |
SPFH | Sozialpädagogische Familienhilfe |
StGB | Strafgesetzbuch |
StPO | Strafprozessordnung |
Str. | strittig |
TAG | Tagesbetreuungsausbaugesetz |
UhVorschG | Unterhaltsvorschussgesetz |
UJ | Zeitschrift: Unsere Jugend |
UN-KRK | UN-Kinderrechtskonventi |
VA | Verwaltungsakt |
VG | Verwaltungsgericht |
VGH | Verwaltungsgerichtshof |
VwGO | Verwaltungsgerichtsordnung |
ZfJ | Zentralblatt für Jugendrecht (bis 2005) |
ZFSH/SGB | Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch |
ZKJ | Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe (ab 2006) |
ZPO | Zivilprozessordnung |
Anhang
Musterlösungen
Lösung Fall 1: Prüfschema und Arbeitsanleitung zur Lösung kinder- und jugendhilferechtlicher Fälle
Der Sachverhalt ist bewusst sehr allgemein gehalten. Wichtig ist zunächst, dass sich Leistungsverpflichtungen nach dem SGB VIII gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 nur an die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und nicht an die der freien Jugendhilfe richten, auch wenn diese faktisch überwiegend die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen (vgl. § 4 Abs. 2).
Fälle aus dem Kinder- und Jugendhilferecht beinhalten deshalb zumeist die Fragestellung, ob und ggf. in welchem Umfang (objektiv-rechtliche) Verpflichtungen eines Trägers der öffentlichen Jugendhilfe bestehen bzw. ob diese ggf. Rechtsansprüche von Personensorgeberechtigten, von jungen Menschen oder von Trägern der freien Jugendhilfe erfüllen müssen.
Es empfiehlt sich, bei kinder- und jugendhilferechtlichen Fällen nach dem folgenden Prüfschema vorzugehen, insbesondere bei Fällen aus dem Bereich der Hilfe zur Erziehung (siehe Fälle 7 bis 10).
Prüfschema und Arbeitsanleitung für kinder- und jugendhilferechtliche Fälle
(Hinweis: nicht in jedem Fall sind alle folgenden Prüfschritte notwendig!)
I Zuständigkeit
1. Sachliche Zuständigkeit = Prüfung, welche Behörde die von der Sache her „richtige“ ist; dies ist zumeist
■ das JA gemäß §85 Abs.1 i.V.m. § 69 Abs.1, 3 oder
■ das LJA gemäß § 85 Abs.2 Nr.1 bis 10 i.V.m. §69 Abs.1, 3
2. Örtliche Zuständigkeit = Prüfung, welche Behörde die „geografisch“ richtige ist (vgl. § 86 ff.)
3. Funktionelle Zuständigkeit = Prüfung, welche Stelle innerhalb einer Behörde zuständig ist (vgl. z. B. § 70 Abs. 1 und 2 betreffend JHA bzw. Verwaltung des JA); selten relevant.
II Materiell-rechtliche Fragen
Hier ist im Einzelnen zu prüfen, ob alle (!) Tatbestandsvoraussetzungen der jeweils relevanten Paragrafen erfüllt sind. Diese sind sehr unterschiedlich ausgestaltet; vgl. z. B.
■ §§ 11, 12, 13, 14 (Kapitel 5)
■ §§ 16, 17, 18, 19, 20, 21 (Kapitel 4)
■ §§ 23, 24, 25 (Kapitel 6)
■ §§ 27 bis 41 (Kapitel 7 bis 9)
■ §§ 42 bis 60 (Kapitel 10, 11).
Empfehlenswert ist, dabei gedanklich die folgenden fünf Schritte zu durchlaufen:
1. Zunächst die jeweils einschlägige Norm suchen.
2. Sodann die jeweils relevanten Tatbestandsmerkmale der Norm genau benennen und ggf. auslegen.
3. Sodann die für die konkrete Falllösung relevanten Teile des Sachverhaltes präzise „in den Blick nehmen“.
4. Sodann erfolgt die eigentliche „juristische Arbeit“, die „Subsumtion“ des Sachverhalts unter die jeweils relevanten Tatbestandsmerkmale der Norm.
5. Sodann: Erfüllt der Sachverhalt den Tatbestand in allen seinen Merkmalen, tritt die Rechtsfolge ein. Ist auch nur ein einziges Tatbestandsmerkmal der Norm nicht erfüllt, tritt die Rechtsfolge nicht ein. Das Ergebnis sollte noch einmal als Schlusssatz formuliert werden.
III Antragstellung und Verfahren
1. Das SGB VIII enthält keine explizite Verpflichtung zur Antragstellung. Bei Hilfe zur Erziehung trägt der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gemäß § 36a Abs. 1 die Kosten grundsätzlich jedoch nur bei vorheriger positiver Entscheidung darüber durch ihn (Ausnahmen: § 36a Abs. 2, 3). Dies setzt in der Regel eine Antragstellung voraus, zumindest im Bereich der Hilfe zur Erziehung. Antragsberechtigt sind bei Hilfe zur Erziehung der/die Personensorgeberechtigte(n), also in der Regel Mutter und/oder Vater, evtl. ein Vormund oder Pfleger. Ist Adressat der Norm das Kind oder der Jugendliche oder der junge Volljährige selbst, stellen diese den Antrag, ggf. vertreten durch die/den Personensorgeberechtigten.
2. Ggf. ist zu prüfen (insbesondere bei Hilfe zur Erziehung), ob einschlägige Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, z. B. nach § 8 und insbesondere nach §§ 36 und 37.
IV Anrufung des Familiengerichts bei Hilfe zur Erziehung
Gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 hat das JA das Familiengericht anzurufen, wenn nach seiner Überzeugung folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
■ Gefährdung des Kindeswohls oder fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Personensorgeberechtigten;
■ deshalb hält das JA ein Tätigwerden des Gerichts für erforderlich. (Hinweis: Das Familiengericht hat sodann die nach §§ 1666 ff. BGB notwendigen Maßnahmen zu treffen.)
V Vorläufige Maßnahmen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
Gegebenenfalls ist bereits vor einer Anrufung des Familiengerichts bei einer dringenden Gefahr gemäß § 8a Abs. 2 Satz 2 eine Inobhutnahme durch das JA geboten (Einzelheiten siehe bei § 42).
VI Widerspruchsverfahren (§§ 68 bis 73 VwGO)
Gegen per Bescheid (Verwaltungsakt) getroffene Entscheidungen des JA ist in der Regel das Widerspruchsverfahren möglich. Wegen der Einzelheiten wird auf Fall 5 verwiesen.
VII Verwaltungsgerichtliche Klage
Im Anschluss daran kann in der Regel, zumeist ebenfalls binnen Monatsfrist, Klage vor dem Verwaltungsgericht nach den Bestimmungen der VwGO erhoben werden.
Lösung Fall 2: Wunsch- und Wahlrechte
1. Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 hat „ein Kind“ vom vollendeten dritten Lebensjahr bis zum Schuleintritt Anspruch auf den Besuch einer Tageseinrichtung. Leistungsberechtigter und damit Inhaber des Wunsch- und Wahlrechts nach § 5 Abs. 1 Satz 1 ist hier also der vierjährige Sohn St, vertreten durch seine Mutter.
Das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 besteht allerdings nicht schrankenlos (vgl. § 5 Abs. 2). Um die öffentliche Hand nicht zu überfordern und Unwirtschaftlichkeit zu vermeiden, ist darüber hinaus das Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 nach allgemeiner Auffassung auf den Bestand der (bereits) vorhandenen Einrichtungen und Dienste beschränkt. Da in erreichbarer Nähe kein katholischer Kindergarten vorhanden ist, kann nicht verlangt werden, dass St einen Platz in einem neu zu schaffenden Kindergarten erhält.
2. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 gehen Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem SGB IX und dem SGB XII vor. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 2 gehen allerdings Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bzw. ab dem Jahr 2020 nach dem SGB IX für körperlich oder geistig behinderte junge Menschen den Leistungen nach dem SGB VIII vor. Damit ist mit Blick auf körperlich und geistig behinderte junge Menschen die Zuständigkeit der Sozialhilfe gegeben ist, also auch mit Blick auf T. Diese gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen sind für die Leistungsberechtigten nicht disponibel. Sie werden vom Wunsch- und Wahlrecht nach § 5 nicht erfasst.
3. Gemäß § 13 Abs. 3 Satz 1 „kann“ jungen Menschen während der Teilnahme an schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahmen etc. Unterkunft in sozialpädagogisch betreuten Wohnformen angeboten werden. Leistungsberechtigter im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 13 Abs. 3 Satz 1 („junger Mensch“) ist hier S selbst, der als Minderjähriger von M gesetzlich vertreten werden muss. Gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 soll jedoch der Wahl und den Wünschen (nur) entsprochen werden, sofern dies nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden ist. Nach der Rechtsprechung sind Mehrkosten in Höhe von bis zu etwa 25 % in der Regel als unproblematisch, in Höhe von mehr als 75 % als unvertretbar anzusehen. Die Mehrkosten im Heim des privaten Trägers in Höhe von 50 % liegen zwischen diesen Parametern, so dass entscheidend darauf abzustellen sein wird, ob Mehrkosten in solcher Höhe mit Blick auf den Gesetzeszweck gerechtfertigt erscheinen. Allein „Komfortgesichtspunkte“ dürften insoweit als nicht ausreichend anzusehen sein, so dass S eine Unterbringung in einer um 50 % teureren Einrichtung nicht wird verlangen können.
Lösung Fall 3: Das untätige Jugendamt
1. Das JA ist (für die Jugendarbeit nach § 11) sachlich zuständig gemäß §85 Abs.1 i.V.m. § 69 Abs.1, 3.
2. A und B haben allerdings bisher nichts Konkretes unternommen, und gegenüber A und B ist keinerlei positive oder negative Entscheidung von Seiten des JA getroffen worden. Damit liegt weder ein Verwaltungsakt vor noch ist ein solcher begehrt worden, so dass A und B nicht Widerspruch erheben können (siehe dazu Fall 5).
3. Fraglich ist, ob sich A, B oder deren Eltern an die Kommunalaufsichtsbehörde wenden könnten. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe und die Tätigkeit der Jugendämter unterliegen zwar keiner Fachaufsicht (siehe Kap. 3.3), wohl aber einer Rechtsaufsicht. Diese wird von den nach Landesrecht zuständigen Kommunalaufsichtsbehörden wahrgenommen, zumeist den Regierungspräsidien. Im vorliegenden Fall ist es so, dass das JA in X überhaupt keine Jugendarbeit durchführt bzw. keine entsprechenden Aktivitäten von Trägern der freien Jugendhilfe fördert. Dies ist ein eklatanter Verstoß gegen § 11 Abs. 1, denn danach sind jungen Menschen Angebote der Jugendarbeit zur Förderung von deren Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Auch wenn § 11 Abs. 1 hinsichtlich der „Angebote der Jugendarbeit“ denkbar unpräzise formuliert ist, ist dennoch eines klar: Überhaupt keine Jugendarbeit anzubieten, verstößt gegen § 11 Abs. 1.
Des Weiteren haben die Träger der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe gemäß § 79 Abs. 2 Satz 2 von den für die Jugendhilfe (insgesamt) bereitgestellten Mitteln einen angemessenen Anteil für die Jugendarbeit zu verwenden. Da hier überhaupt keine Mittel für die Jugendarbeit bereitgestellt werden, liegt auch darin ein klarer Rechtsverstoß.
Die Kommunalaufsichtsbehörde kann deshalb das „Nichtstun“ der Stadt X beanstanden und sie ggf. sogar zwingen, im Bereich der Jugendarbeit Aktivitäten zu entfalten. A und B können deshalb ein entsprechendes Tätigwerden der Kommunalaufsichtsbehörde anregen, haben allerdings keinen Rechtsanspruch auf ein Tätigwerden derselben.
4. Außerrechtlicher Hinweis: Darüber hinaus können sie sich z. B. an den Oberbürgermeister und/oder an die Fraktionen im Stadtrat/in der Stadtverordnetenversammlung wenden oder – was oft am wirkungsvollsten ist – an die örtliche Presse, damit „politischer Druck“ ausgeübt werden kann. Auch insoweit können A, B und deren Eltern aber nichts „erzwingen“.
Lösung Fall 4: Alleinerziehende junge Mutter
1. Das JA ist sachlich zuständig gemäß § 85 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1, 3.
2. In Betracht kommt Beratung und Hilfe während der Schwangerschaft und nach der Geburt des Kindes zwecks Aufbau elterlicher Erziehungs- und Beziehungskompetenzen gemäß § 16 Abs. 3. Da ein expliziter „Anspruch“ nach § 16 Abs. 3 nicht besteht, ist zu prüfen, ob sich ein solcher aufgrund einer Interpretation der genannten Norm ergibt (vgl. dazu Kap. 3.2):
■ § 16 Abs. 3 beinhaltet zwar eine objektive Rechtsverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe („sollen“),
■ und die genannte Vorschrift dient auch dem Interesse der genannten Personen.
■ Jedoch ist der Tatbestand der Norm denkbar ungenau formuliert,
■ und die Adressaten der Vorschrift sind nicht individualisierbar.
Von daher hat K keinen Rechtsanspruch auf eine Leistung nach § 16 Abs. 3.
3. Allerdings hat K gemäß § 18 Abs. 1 je einen expliziten „Anspruch“ auf Beratung und Unterstützung bei der Ausübung der Personensorge einschließlich der Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen ihres Kindes (Nr. 1) sowie eigener Unterhaltsansprüche nach § 1615 l BGB (Nr. 2) und auf Beratung über die Abgabe von (eventuellen) Sorgeerklärungen gemäß § 18 Abs. 2.
4. Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 3 „kann“ K als Schwangere bereits vor (!) der Geburt des Kindes in einer gemeinsamen Wohnform für Mütter/Väter und Kinder betreut werden. Insoweit handelt es sich jedoch um eine Ermessensleistung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, mit der kein Rechtsanspruch korrespondiert, zumal nach dem Sachverhalt unklar ist, ob K bereits vor der Geburt eine solche Hilfe überhaupt benötigt.
5. Zu prüfen ist sodann, ob K nach (!) der Geburt ihres Kindes in einer geeigneten Wohnform gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 betreut werden „soll“. K ist vom Adressatenkreis dieser Norm erfasst, wenn sie ab der Geburt tatsächlich für ihr Kind sorgt. Nach dem Sachverhalt kommt eine Rückkehr zu ihren Eltern nicht in Betracht, ist sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung noch nicht gefestigt und hat sie große Schwierigkeiten, den Alltag zu bewältigen. Erst recht wird dies nach der Geburt des Kindes so sein. Deshalb bedarf sie einer Unterstützung gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1.
Die weitere Frage ist – mangels eines expliziten „Anspruchs“ im Normtext, ob mit § 19 Abs. 1 Satz 1 ein subjektiver (Regel-)Rechtsanspruch aufgrund einer Interpretation dieser Rechtsnorm korrespondiert (vgl. dazu Kap. 3.2):
■ § 19 Abs. 1 Satz 1 enthält eine klare objektiv-rechtliche Verpflichtung.
■ Ob allerdings § 19 Abs. 1 Satz 1 tatbestandlich hinreichend präzise formuliert ist, ist strittig. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass dies nicht der Fall sei. Die bejahende Auffassung geht dahin, dass der Tatbestand von § 19 Abs. 1 Satz 1 zwar (wie auch andere Regelungen im SGB VIII) unbestimmte Rechtsbegriffe enthält („wenn und solange sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.“). Diese unbestimmten Rechtsbegriffe sind jedoch im konkreten Anwendungsfall durchaus hinreichend konkretisierbar – wie auch hier. Folgt man – m. E. richtigerweise – dieser Auffassung, dann ist die genannte Norm als tatbestandlich hinreichend präzise formuliert anzusehen.
■ § 19 Abs. 1 Satz 1 dient nicht nur öffentlichen Interessen, sondern erkennbar gerade denen von Alleinerziehenden mit entsprechender Persönlichkeitsentwicklung und ihren Kindern.
■ Und die Adressaten der genannten Norm sind auch unproblematisch individualisierbar (hier: K mit ihrem Kind nach der Geburt).
K hat deshalb einen (Regel-)Rechtsanspruch auf eine Leistung nach § 19 Abs. 1 Satz 1.
6. (Ergänzend wird auf die – hier nicht zu prüfenden – §§ 52a und 55 SGB VIII sowie §§ 1712 ff. BGB hingewiesen!)
Lösung Fall 5: Ablehnung der Teilnahme an einer Maßnahme der Jugendarbeit
Um sein Begehren (Teilnahme an der Freizeitmaßnahme) durchzusetzen, müsste J, vertreten durch die/den Personensorgeberechtigten, förmlich Widerspruch (nach den §§ 68 ff. VwGO) einlegen. Der Widerspruch müsste zulässig, also von der Verfahrensart her statthaft (siehe 1.), und zudem (materiell-rechtlich) begründet sein (siehe 2.)
1. Zulässigkeit des Widerspruchs
1.1 Zunächst müsste es sich bei dem ablehnenden Bescheid des JA um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X handeln. Dies ist hier der Fall, weil alle dort bezeichneten fünf Merkmale eines Verwaltungsaktes vorliegen. Es handelt sich nämlich um
■ eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde (des JA),
■ auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts (nämlich des SGB VIII),
■ zur Regelung (also: zur verbindlichen Entscheidung),
■ eines Einzelfalles,
■ mit unmittelbarer Rechtswirkung nach außen (hier: gegenüber J; und nicht nur nach „innen“, z. B. gegenüber einer Mitarbeiterin des JA).
1.2 J müsste darüber hinaus „beschwert“, also (selbst!) möglicherweise in eigenen Rechten betroffen sein. Dies ist der Fall, da er möglicherweise einen Rechtsanspruch auf Teilnahme an der Ferienmaßnahme haben könnte.
1.3 Schließlich müsste J den Widerspruch formgerecht (schriftlich oder zur Niederschrift beim JA) und
1.4 fristgerecht (innerhalb eines Monats nach Zugang) sowie
1.5 bei der zuständigen Behörde (hier: beim JA) einlegen.
Da alle diese Voraussetzungen erfüllt sind bzw. unschwer erfüllt werden können, ist der Widerspruch zulässig.
2. Begründetheit des Widerspruchs
Entscheidend ist für J jedoch, dass der Widerspruch auch materiell-rechtlich (in der Sache) begründet wäre. Dies wäre der Fall, wenn der Ablehnungsbescheid rechtswidrig oder unzweckmäßig wäre.
2.1 Zunächst einmal war das JA unproblematisch sachlich zuständig nach § 85 Abs.1 i.V.m. §69 Abs.1 und 3.
2.2 In § 11 Abs. 1 Satz 1: „Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen“ ist von einem expliziten „Anspruch“ nicht die Rede. Die Annahme eines Rechtsanspruchs aufgrund einer Interpretation von § 11 Abs. 1 Satz 1 (siehe Kap. 3.2) setzt sodann Folgendes voraus:
■ Die Norm müsste eine objektive Rechtsverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe enthalten. Dies ist der Fall.
■ Auch dient die Norm den Interessen junger Menschen.
■ Der Tatbestand dieser Norm müsste jedoch auch hinreichend präzise formuliert sein. Dies ist nicht der Fall, denn die Norm ist denkbar ungenau formuliert („Angebote der Jugendarbeit“).
■ Des Weiteren müssten die Normadressaten individualisierbar sein. Auch dies ist nicht der Fall, denn § 11 Abs. 1 Satz 1 richtet sich an einen großen, nicht abgegrenzten Adressatenkreis („junge Menschen“).
J hat deshalb keinen Rechtsanspruch auf Teilnahme an einer bestimmten, nämlich der hier in Rede stehenden Maßnahme, so dass der Ablehnungsbescheid insoweit nicht rechtswidrig war.
2.3 Die objektive Rechtsverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe nach § 11 Abs. 1 Satz 1 eröffnet erhebliche Entscheidungsspielräume, nach welchen Kriterien über die Teilnahme an einer Maßnahme der Jugendarbeit zu entscheiden ist. Im vorliegenden Fall war das einzige Entscheidungskriterium die zeitliche Reihenfolge der Antragseingänge beim JA. Dies ist weder willkürlich noch unzweckmäßig, sondern „formal gerecht“ und einfach zu handhaben. Jedenfalls ist das gewählte Auswahlverfahren nicht willkürlich und nicht zweckwidrig.
Im Ergebnis war die Entscheidung des JA mithin rechtmäßig und auch nicht zweckwidrig, so dass J`s Widerspruch unbegründet wäre. Auch ein eventuelles verwaltungsgerichtliches Verfahren wäre aus denselben Gründen aussichtslos.
Lösung Fall 6: Kinderhorte
1.1 Nein. § 24 Abs. 4 Satz 1 enthält lediglich eine objektiv-rechtliche Mussverpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe, in bedarfsgerechtem Umfang für Kinder im schulpflichtigen Alter Plätze in Tageseinrichtungen vorzuhalten. Die Annahme eines Rechtsanspruchs durch Interpretation (vgl. Kap. 3.2) scheidet bei den klaren Regelungen in § 24 aus. Unbeschadet dessen sind Adressaten von Leistungen nach § 24 Abs. 4 Satz 1 Kinder und nicht die Eltern.
1.2 Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres sowie Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt haben gemäß § 24 Abs. 2 sowie Abs. 3 Satz 1 insoweit einen expliziten Anspruch. Mit Blick auf Kinder, die das erste Lebensjahr noch nicht vollendet haben, besteht gemäß § 24 Abs. 1 wiederum nur eine objektive Rechtsverpflichtung ohne Anspruch.
1.3 Die genannten Rechtsbeziehungen werden durch zivilrechtliche Verträge geregelt (siehe Kap. 3.4).
1.4 Gemäß § 3 Abs. 1 ist die Jugendhilfe gekennzeichnet durch die Vielfalt von Trägern mit unterschiedlichen Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen. Außerdem hat die öffentliche Jugendhilfe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 die Selbstständigkeit der freien Jugendhilfe in Zielsetzung und Durchführung ihrer Aufgaben sowie in der Gestaltung ihrer Organisationsstruktur zu achten. Daraus folgt, dass die Träger der freien Jugendhilfe auch im Hortbereich frei über die Aufnahme von Kindern entscheiden können.
2.1 Aus denselben Gründen entscheidet auch allein der jeweilige Träger der freien Jugendhilfe über die pädagogische Konzeption. Der Träger der freien Jugendhilfe entscheidet auch über die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht, die er durch den Aufnahmevertrag gemäß § 832 Abs. 2 BGB von den Eltern übernommen hat.
2.2 Die „Aufsichtspflicht“ ist nicht Regelungsgegenstand des SGB VIII und wird auch in den relevanten Paragrafen des Zivilrechts, insbesondere in § 832 BGB, nicht näher definiert, sondern nur benannt („Führung der Aufsicht“), also gleichsam vorausgesetzt. Von daher hat sich hierzu eine detaillierte Rechtsprechung entwickelt. Grob gesagt sind die Anforderungen an die Aufsichtspflicht umso höher, je jünger und unerfahrener die Kinder sind, je gefährlicher die jeweilige Tätigkeit und je größer deshalb das Risiko ist, zu Schaden zu kommen. Hier kommt es deshalb darauf an, wie vertraut den Kindern die jeweilige Umgebung und wie gefährlich die konkrete Situation im Einzelfall ist. Das unbeaufsichtigte Basteln von Schulkindern mit ungefährlichem Werkzeug ist tendenziell unproblematisch, das alleinige Spielen älterer Kinder auf einem bekannten Spielplatz grundsätzlich auch, der Aufenthalt von Kindern in der Stadt ohne Begleitung nicht.
3. Gemäß § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 i. V. m. Satz 2 kann Landesrecht eine Staffelung der Teilnahmebeiträge und Kostenbeiträge für die Inanspruchnahme von Tageseinrichtungen nach Einkommensgruppen, Kinderzahl oder der Zahl der Familienangehörigen vorsehen. Und gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 können ggf. Teilnahmebeiträge oder Kostenbeiträge auf Antrag ganz oder teilweise erlassen oder vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe übernommen werden.
4. Fragen der pädagogischen Konzeption des Hortes sind fachlicher, nicht rechtlicher Natur. Da die Träger der öffentlichen Jugendhilfe mit ihren Einrichtungen die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe als Selbstverwaltungsangelegenheit wahrnehmen, unterliegen sie dabei allein einer Rechts- und nicht einer Fachaufsicht (siehe Kap. 3.3). Deshalb ist eine (fachliche) Mängelrüge durch die Kommunalaufsichtsbehörde als Rechtsaufsichtsbehörde unzulässig. Erst recht gilt dies mit Blick auf Träger der freien Jugendhilfe, die weder einer (staatlichen) Fach- noch Rechtsaufsicht unterliegen, sondern die im Rahmen von § 4 Abs. 1 Satz 2 die hier in Rede stehenden Aufgaben selbstständig und unabhängig wahrnehmen.
Lösung Fall 7: Hilfe für Franz
(vgl. Prüfschema Fall 1!)
I Sachliche Zuständigkeit
Gemäß § 85 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1 und 3 ist das JA sachlich zuständig. Das von V angeschriebene Sozialamt hat deshalb die Angelegenheit (gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I) an das JA weiterzuleiten.
II Materiell-rechtliche Fragen
Gewährung von Hilfe zur Erziehung setzt voraus, dass die beiden Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 erfüllt sind:
1. Erziehungsdefizit: Ein Erziehungsdefizit muss entweder bereits bestehen oder zumindest konkret drohen. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn im Sinne von § 1 Abs. 1 die Entwicklung und Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zumindest gefährdet ist. Zu berücksichtigen sind dabei im konkreten Einzelfall u. a. Alter und Persönlichkeitsstruktur, bestehende Probleme, Einflüsse von Umwelt und Sozialisation. Nach dem Sachverhalt ist F häufig geistesabwesend, er kann sich nur schwer konzentrieren, isst schlecht und sieht krank aus. Damit droht zumindest eine Gefährdung einer seinem Wohl entsprechende Erziehung und Entwicklung.
2. Geeignete und notwendige Hilfe: Nunmehr ist die für F geeignete und notwendige Hilfe auszuwählen. Gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 wird Hilfe zur Erziehung „insbesondere“ nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Die konkret auszuwählende Hilfe richtet sich nach dem erzieherischen Bedarf von F sowie den Ressourcen der Personensorgeberechtigten und des sozialen Umfeldes. Die auszuwählende Hilfe muss als solche zur Beseitigung der Gefahr bzw. des Defizits geeignet und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch notwendig sein. Es wäre unzulässig, über das Erforderliche hinaus in Rechte der Personensorgeberechtigten einzugreifen.
Zunächst bietet es sich an zu prüfen, ob ein „Milieuwechsel“ erforderlich ist oder nicht. Eine solche Situation ist hier offensichtlich nicht gegeben, so dass sich die weitere Prüfung auf die ambulanten Hilfen „insbesondere“ nach den §§ 28 bis 30 beschränken kann.
3. Erziehungsberatung (§ 28): Diese Hilfeart erscheint hier als nicht geeignet, weil es nicht darum geht, erzieherisches Fehlverhalten aufzudecken und ggf. therapeutisch zu bearbeiten.
4. Soziale Gruppenarbeit (§ 29): Da hier nicht soziales Lernen im Vordergrund steht, kommt auch eine Hilfe nach § 29 nicht in Betracht.
5. Erziehungsbeistandschaft (§ 30): Da es sich hier bei F auch um Entwicklungsprobleme unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes handelt, erscheint eine Erziehungsbeistandschaft auf den ersten Blick als geeignet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es hier nicht zugleich um die Förderung der Verselbstständigung von F im Sinne von § 30, zweiter Halbsatz, geht. Denn davon kann bei F keine Rede sein.
6. Ambulante erzieherische Betreuung: Nach alledem kommen mithin weder Hilfen nach §§ 33 bis 35 (mangels der Notwendigkeit eines Milieuwechsels) noch solche nach §§ 28 bis 30 in Betracht. Sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 ist ohnehin nicht angezeigt. Für solche Fälle, wo keine der in den §§ 28 bis 35 beschriebenen Hilfearten „exakt passen“, ist in der Praxis u. a. die so genannte ambulante erzieherische Betreuung entwickelt worden. Rechtsgrundlage dafür ist die Formulierung in § 27 Abs. 2 Satz 1: „insbesondere“ nach Maßgabe der §§ 28 bis 35. Denn der Katalog der Hilfearten nach §§ 28 bis 35 ist gerade nicht abschließend. Eine Fachkraft des JA oder eines Trägers der freien Jugendhilfe könnte F in abzusprechenden Zeitabständen besuchen, mit ihm reden und ihn bei seiner Trauerarbeit und seinen Bewältigungsproblemen unterstützen. Eine ambulante erzieherische Betreuung (als sog. „unbenannte“, weil nicht im SGB VIII explizit erwähnte Hilfeart) wäre hier deshalb die geeignete und notwendige Hilfe im Sinne von § 27 Abs. 1.
III Antragstellung und Verfahren
1. Eine solche ambulante erzieherische Betreuung müsste von den Personensorgeberechtigten beantragt werden. Antragsberechtigt sind nach dem Sachverhalt beide (!) Eltern (gemäß § 1629 Abs. 1 Satz 1 BGB). Nach dem Sachverhalt bestehen auch keine Zweifel, dass die Eltern einen solchen Antrag stellen werden.
2. Außerdem sind die Verfahrensvorschriften von § 36 Abs. 1 und 2 zu beachten
Lösung Fall 8: Vollzeitpflege für Maria
1. Das JA ist sachlich zuständig gemäß § 85 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1 und 3. Das LJA wird deshalb A über die Zuständigkeit des JA unterrichten und den Antrag dorthin (gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I) unverzüglich weiterleiten.
2. A könnte als Personensorgeberechtigte von M einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege nach § 27 Abs. 1 i. V. m. § 33 haben. Dies setzt zunächst gem. § 27 Abs. 1 voraus, dass eine dem Wohl von M entsprechende Erziehung nicht gewährleistet wäre. Ein solches „Erziehungsdefizit“ muss zumindest in der Weise konkret drohen, dass Ms Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 1 gefährdet wäre. Ein einjähriges Kind benötigt in besonderer Weise Liebe, Zuwendung, permanente Betreuung und Versorgung. Daran mangelt es bereits im vorliegenden Fall – erst recht dann, wenn A arbeiten und die Wochenenden mit Freunden verbringen würde. Ein Erziehungsdefizit droht zumindest konkret.
Vollzeitpflege müsste des Weiteren gemäß § 27 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 33 die geeignete und notwendige Hilfe zur Erziehung darstellen. Die Frage ist, ob die zweifelsfrei geeignete Vollzeitpflege „notwendig“ ist.
Dies wäre nicht der Fall, wenn Kindertagespflege nach § 23 oder Förderung in einer Tageseinrichtung für Kinder unter drei Jahren nach § 24 Abs. 2 ausreichend wären. Nach dem Sachverhalt ist dies nicht der Fall, weil A ihre Tochter M auch außerhalb der üblichen Betreuungszeiten nicht versorgen möchte, da sie die Tochter ablehnt und als lästig empfindet. Leistungen nach §§ 23, 24 reichen mithin nicht aus.
Deshalb hat A einen Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege nach § 27 Abs. 1 i. V. m. § 33.
3. A hat bereits den erforderlichen Antrag auf Hilfe zur Erziehung gestellt. Außerdem sind die Verfahrensvorschriften von § 36 Abs. 1 und 2 zu beachten.
4. Die Großeltern von M würden diese gerne bei sich aufnehmen und pflegen. In § 27 Abs. 2a ist eindeutig klargestellt, dass der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht allein dadurch entfällt, dass andere unterhaltspflichtige Personen (hier: die Großeltern) bereit sind, diese Aufgabe zu übernehmen. Danach ist Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege für M auch bei den Großeltern möglich.
5. Grundsätzlich bedarf eine Pflegeperson bei Vollzeitpflege einer Pflegeerlaubnis nach § 44 Abs. 1 Satz 1. In diesem Fall jedoch nach § 44 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 nicht, da M mit ihren Großeltern bis zum dritten Grade (hier: im zweiten Grade) verwandt ist.
6. Ein Besuchsrecht (Umgangsrecht) steht A als der Personensorgeberechtigten grundsätzlich uneingeschränkt weiterhin zu (vgl. § 1684 Abs. 1 BGB).
7. Die Großeltern sind gem. § 1688 Abs. 1 Satz 1 BGB berechtigt, in Angelegenheiten des täglichen Lebens zu entscheiden.
Lösung Fall 9: Harald auf der Straße
1. Das JA ist sachlich zuständig gemäß § 85 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1 und 3.
2. Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Diese Voraussetzungen sind nach dem Sachverhalt gegeben. Die Hilfe nach § 41 „soll“ auch jungen Menschen gewährt werden, die bereits volljährig sind. Weil hier keine atypische Ausnahmesituation erkennbar ist, beinhaltet diese klare objektivrechtliche Sollbestimmung eine entsprechende Verpflichtung des JA zur Hilfegewährung nach § 41 Abs. 1 Satz 1. Da zudem § 41 einen präzise formulierten Tatbestand enthält und erkennbar den Interessen von H zu dienen bestimmt ist, korrespondiert damit auch ein subjektiver (Regel-) Rechtsanspruch (von H). Außerdem sind die Verfahrensvorschriften von § 36 Abs. 1 und 2 zu beachten.
3. Ein solcher Rechtsanspruch ist auch verwaltungsgerichtlich einklagbar. Zunächst muss H jedoch ein Widerspruchsverfahren nach §§ 68 ff. VwGO anstrengen (vgl. Fall 5). Der Widerspruch wäre hier zulässig und begründet (vgl. ebenfalls Fall 5).
4. Ein von S eingelegter Widerspruch wäre unzulässig, weil S nicht selbst „beschwert“ wäre (vgl. auch dazu Fall 5).
5. Frage 5 kann alternativ wie folgt beantwortet werden:
■ Man kann Frage 5 positiv beantworten, weil § 36a – anders als die zahlreichen anderen dort aufgeführten Vorschriften zur Hilfe zur Erziehung – in der Verweisungsnorm des § 41 Abs. 2 (genau lesen!) gerade nicht mit aufgeführt wird!
■ Oder man wendet hier § 36a Abs. 3 an („Systemversagen“).
■ Man kann die Frage auch verneinen. Denn es ist sachlich nicht nachvollziehbar, warum § 36a nicht auch im Bereich von Hilfen für junge Volljährige Anwendung finden sollte, auch wenn er in (dem vor Inkrafttreten von § 36a formulierten!) § 41 Abs. 2 nicht explizit genannt wird. Es handelt sich insoweit offenkundig um ein „Redaktionsversehen“ des Gesetzgebers.
Lösung Fall 10: Jürgen muss ins Heim
1. Das JA ist sachlich zuständig gemäß § 85 Abs. 1 i. V. m. § 69 Abs. 1, 3.
2. In Betracht kommt Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. Nach dem Sachverhalt ist ein Erziehungsdefizit bereits eingetreten (Verhaltensauffälligkeiten). Und ein Milieuwechsel erscheint mit Blick auf die häusliche Situation und das Verhalten von A (Vernachlässigung von J) unumgänglich, so dass Maßnahmen nach §§ 28 bis 32 nicht ausreichend und damit nicht geeignet wären, das Erziehungsdefizit zu beseitigen. Notwendig ist vielmehr aufgrund eines Milieuwechsels eine Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie, und zwar in Form der Vollzeitpflege nach § 33 oder der Heimerziehung nach § 34. Hilfe zur Erziehung nach § 35 („Jugendliche“) kommt bei dem 12-jährigen J nicht in Betracht.
3. A müsste als Personensorgeberechtigte Antrag auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. stellen. Außerdem sind die Verfahrensbestimmungen nach § 36 Abs. 1 und 2 zu beachten.
4. In diesem Fall müsste das JA gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 das Familiengericht anrufen mit dem Ziel, die elterlichen Sorgerechte ganz oder teilweise zu entziehen und auf einen Vormund oder Pfleger zu übertragen. Das Familiengericht muss hier nach §§ 1666 ff. BGB tätig werden.
5. In diesem Fall besteht eine dringende Gefahr für das Wohl von J, so dass eine Entscheidung des Familiengerichts nach §§ 1666 ff. BGB nicht abgewartet werden kann. Das JA ist deshalb gemäß § 8a Abs. 2 Satz 2 verpflichtet, J (vorläufig) in Obhut zu nehmen. Einzelheiten der Inobhutnahme sind in § 42 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 bis 5 geregelt.
Lösung Fall 11: Vormundschaft für Klara
1. Im vorliegenden Fall wird das JA kraft Gesetzes gemäß § 1791c Abs. 1 Satz 1 BGB gesetzlicher Amtsvormund für K.
Das JA hat im Bereich des Vormundschaftwesens umfangreiche Aufgaben. Insbesondere hat es gemäß § 55 Abs. 1 die Amtsvormundschaft für K nach den Regelungen des BGB zu führen und dabei an Stelle der Eltern die Aufgaben der Personen- und Vermögenssorge für K, einschließlich der gesetzlichen Vertretung, wahrzunehmen.
2. In diesem Fall bedarf K wiederum eines Vormundes (gemäß § 1773 Abs. 1 BGB). Für die notwendige Bestellung des Vormunds durch das Vormundschaftsgericht gilt die grundsätzliche Reihenfolge: Einzelvormund, Vereinsvormund, Amtsvormundschaft des JA.
3. Siehe 1., 2. Abs.
4.