Über dieses Buch

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Kurz nach Weihnachten wird eine Kickboxerin in ihrem Badezimmer tot aufgefunden, wenig später wird die Leiche einer älteren Frau entdeckt. Staatsanwältin Regina Flint und Kriminalpolizist Bruno Cavalli suchen zunächst vergeblich nach weiteren Gemeinsamkeiten zwischen den Mordfällen. Führt die Spur in den Osten?

Petra Ivanov

Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Petra Ivanov

Kalte Schüsse

Flint und Cavalli ermitteln gegen die russische Mafia

Kriminalroman

Ein Fall für Flint und Cavalli (3)

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Erstausgabe erschien 2007 im Appenzeller Verlag, Schwellbrunn.

© by Petra Ivanov 2007

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30636-3

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Version vom 02.08.2020, 05:47h

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Für Volodja

»Ein Butterbrot fällt fast immer auf die Butterseite.«

Russisches Sprichwort, Moskau 1992

1

Regina Flint umfasste den Griff der P228. Das Metall fühlte sich kalt an. Nebelfetzen krochen in die Ärmel ihrer Jacke. Sie fröstelte. Konzentriert baute sie ihr Gleichgewicht von unten auf. Erst dann nahm sie die linke Hand zu Hilfe, um die rechte zu stützen.

Ein eisiger Luftzug streifte ihr Haar und wehte ihr eine helle Strähne ins Gesicht. Sie blies sie weg und hob die Pistole. Während sie mit dem Finger den Abzug suchte, atmete sie langsam aus.

Es begann zu schneien. Feine Flocken, kaum von Regen zu unterscheiden, tauchten aus der Dunkelheit in den Kegel des Flutlichts ein. Dort führten sie einen hektischen Tanz auf und verschwanden anschließend wieder im Nichts.

Regina fixierte das Korn und fasste den Druckpunkt. Vorsichtig zog sie den Abzug. Als ein lauter Knall den Dezemberabend erfüllte, zuckte sie unweigerlich zusammen.

»Gut gemacht!«, sagte Tobias Fahrni. Mit seinen geröteten Wangen sah der Polizist aus wie ein Junge, der sich im Schnee vergnügte.

»Ich habe schon wieder abgerissen«, sagte Regina.

»Das kommt noch. Versuch den Druckpunkt ganz langsam zu fassen und dann schön durchzuziehen. Willst du es noch einmal mit Flobertpatronen probieren?« Das Schießen mit Kleinkalibermunition war sanfter, die Sportpistole leichter als die P228.

Regina nahm das leere Magazin heraus und reichte Fahrni seine SIG-Sauer. »Das reicht für heute, danke. Ich hole Cavalli vor der Feier am Bahnhof ab.« Bruno Cavalli war Fahrnis Vorgesetzter beim Kapitalverbrechen II, kurz KV.

»Er könnte dir das Schießen viel besser beibringen«, sagte Fahrni zum wiederholten Mal. »Ich bin wirklich nicht besonders gut.«

»Ich möchte nicht, dass er davon erfährt! Du hast es versprochen.«

»Ich verrate nichts! Ich verstehe einfach nicht, warum du es ausgerechnet von mir lernen willst.«

Regina wusste genau, warum. Cavalli war zu gut. Vermutlich würde er mit geschlossenen Augen ins Schwarze treffen und damit die Latte zu hoch legen. Zudem setzte er Regina seit Jahren unter Druck, sich endlich eine Waffe anzuschaffen. Er war der Meinung, als Bezirksanwältin sei sie besonderen Gefahren ausgesetzt. Regina hatte sich geweigert, teils aus Abneigung gegenüber Schusswaffen, teils aus Trotz gegenüber Cavalli. Schließlich hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, dass Schießkenntnisse ihr Sicherheit verliehen.

»Weil ich dich mag«, erklärte Regina.

Fahrni sah zweifelnd zu ihr hoch, während er Patronenhülsen einsammelte. »Was schenkst du Juri und Irina?«

Regina seufzte. »Wenn ich das wüsste. Ich werde mich am Hauptbahnhof umsehen. Auf dem Weihnachtsmarkt finde ich bestimmt etwas.« Der bevorstehende Hochzeitsapéro des Kriminalpolizisten Juri Pilecki schlug ihr aufs Gemüt. Vor zwei Jahren hatte sie im Zusammenhang mit einem Mordfall eine Razzia in einem Nachtlokal angeordnet. Gemeinsam mit anderen Frauen war Irina Kyrytschuk dem Migrationsamt vorgeführt worden, weil sie ohne Bewilligung als Tänzerin gearbeitet hatte. Regina hatte zwar von der Beziehung zwischen Pilecki und der Ukrainerin gewusst, sie war aber davon ausgegangen, dass sich Kyrytschuk legal in der Schweiz aufhielt. Während der Einvernahme hatte sich Kyrytschuk über die Schweizer Justiz geärgert, die zwar an ihrer Aussage im Zusammenhang mit einem Mordfall interessiert war, ihr im Gegenzug aber keine Arbeitsbewilligung ausstellte.

»Warum hat sie mich überhaupt eingeladen? Irina mag mich nicht.«

»Vermutlich, damit sie die erste Begegnung mit dir hinter sich bringen kann. Früher oder später werdet ihr euch über den Weg laufen. Besser früher, denke ich.« Fahrni war aufgestanden und warf die Hülsen in einen Eimer. Er löschte die Flutlichter und fügte hinzu: »Sie wird es nicht einfach haben.«

Regina folgte ihm zum Parkplatz. An der Windschutzscheibe seines Opels klebte Schnee. Fahrni ballte die Masse zu einem schweren Klumpen und zielte auf eine Straßenlaterne.

»Freust du dich auf deine neue Stelle?«, fragte er und sah dem Schneeball, der sein Ziel weit verfehlte, enttäuscht nach.

»Und wie. Ich war lange bei der Bezirksanwaltschaft. Es wird Zeit für etwas Neues. Allerdings nehme ich alle meine pendenten Fälle mit, so ganz neu wird es also nicht.«

»Aber du darfst dich Staatsanwältin nennen!« Aus Fahrnis Mund klang die Berufsbezeichnung wie ein Adelstitel.

Regina lachte. »Ja, aber das könnte ich auf der BAZ auch.« Die Reform der Zürcher Untersuchungsbehörden sah vor, die Bezeichnung Bezirksanwalt demnächst abzuschaffen. Regina wechselte zur Staatsanwaltschaft IV für Gewaltdelikte. Als sie sich beworben hatte, hatte sie sich keine großen Chancen ausgerechnet. Stellen bei der STA IV waren begehrt, da die Fälle interessant und komplex waren. Das Anforderungsprofil war hoch. Doch Regina gehörte bereits nach der ersten Vorstellungsrunde zu den Favoritinnen. Als sie schließlich die Zusage erhielt, konnte sie ihr Glück kaum fassen.

Vor ihnen tauchte der Bahnhof auf. Fahrni hielt an der Bushaltestelle und vergewisserte sich, dass Regina wirklich die S-Bahn nehmen wollte. Sie versicherte ihm, dass sie schneller am Hauptbahnhof wäre, und stapfte durch den Schneematsch.

Neben dem gigantischen Swarovski-Weihnachtsbaum sahen die Stände wie Zwerghütten aus. Regina reihte sich in den Strom der Besucher ein und wurde in den schmalen Durchgang geschwemmt. Eine halbe Stunde später tauchte sie ohne Geschenk am anderen Ende der Bahnhofshalle wieder auf. Sie sah auf die Uhr. Noch dreißig Minuten, bis Cavallis Zug ankam.

Ein Stand mit Matrioschkas zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Verkäuferin entging Reginas Blick nicht, und sie streckte ihr eine blaue Puppe entgegen.

»Eine Spezialanfertigung. Dieses tiefe Blau finden Sie sonst nirgendwo.«

Regina musterte das großzügige Lachen auf dem Holzgesicht.

Die Verkäuferin legte Regina die Matrioschka in die Hand. »Sie kostet nur vierzig Franken.«

Sie war schwer. Im Gegensatz zu ihren filigran verzierten Artgenossinnen war sie grob, wie Schweizer Holzspielzeug. Es wurde ihr bewusst, dass sie auch für Irinas Tochter Katja ein Geschenk brauchte. Kurz entschlossen kaufte sie die Matrioschka.

Die Verkäuferin lobte ihre Wahl und holte Seidenpapier hervor. »Im Rossija erhalten Sie übrigens das ganze Jahr hindurch Matrioschkas. Kennen Sie den Laden?« Als Regina verneinte, erklärte sie: »Er liegt im Seefeld, Tramhaltestelle Höschgasse. Wenn Sie sich auf dieser Liste mit Name und Adresse eintragen, halten wir Sie über unsere Produkte auf dem Laufenden.«

»Nein, danke.«

»Dann frohe Weihnachten.« Die Verkäuferin reichte Regina die Plastiktüte.

»Danke, das wünsche« Ein heftiger Stoß in die Rippen verschlug Regina die Sprache. Sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. Im selben Augenblick wurde ihr die Tüte entrissen.

»Was soll das!«

Ein Passant griff ihr unter die Arme. »Alles in Ordnung? Haben Sie sich wehgetan?«

Regina stand auf und sah, wie ein Polizist in Zivil dem Dieb hinterherspurtete.

»Es geht schon, danke.«

Der Passant deutete auf ihre Handtasche. »Wenigstens hat er die nicht erwischt.«

Die Verkäuferin baute sich hinter ihrer Ware auf, als könnte sie so weitere Diebe abschrecken.

Regina wandte sich genervt dem Stand zu. »Haben Sie noch eine ähnliche Matrioschka?«

Mitleidig schüttelte die Verkäuferin den Kopf. »Das war die letzte, aber ich …« Sie fixierte etwas hinter Regina, und ein Lachen hellte ihr breites Gesicht auf.

Regina drehte sich um. Der Polizist kam mit der Plastiktüte in der Hand zurück.

»Der Kerl ist über alle Berge, aber die Tüte habe ich erwischt.« Er streckte sie Regina hin.

»Vielen Dank!«, sagte sie. »Es ging so schnell.«

»Diese Diebe sind geübt. Sie tauchen aus dem Nichts auf und sind im Nu wieder weg. Da haben Sie gar keine Chance.«

»Und erwischt werden sie nie.« Regina reichte ihm die Hand. »Regina Flint. Ich bin – war – bei der BAZ

»Dann kennen Sie sich ja bestens aus. Marko Simonovic.« Er musterte sie mit ernsten, tief liegenden Augen. »Die Diebe werden immer dreister. Es ist ihnen egal, ob sie Spuren hinterlassen. Sie kommen in die Schweiz, gehen zwei, drei Wochen ihren Geschäften nach und verschwinden wieder nach Rumänien, Georgien, wo immer sie herkommen.«

Regina hatte den Eindruck, dass der Polizist sich persönlich für die Taten der Kriminaltouristen verantwortlich fühle. »Diesem Dieb haben Sie einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nochmals vielen Dank!«

»Passen Sie auf Ihre Handtasche auf!« Simonovic richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Menschenmenge in der Bahnhofshalle.

Regina sah auf die Uhr. Cavallis Zug würde bald eintreffen. Rasch kaufte sie im Shopville eine Flasche Champagner und eine Glückwunschkarte für das Hochzeitspaar und kritzelte »Gutschein« unter das Bild der zwei Champagnergläser. Wofür? Einen Opernbesuch? Ein romantisches Essen? Mit Karte und Kugelschreiber in der Hand bahnte sie sich einen Weg durch das Gedränge.

Sie sah Cavalli schon von Weitem. Er stand mit einer Sporttasche über der Schulter etwas abseits und wartete. Die Ruhe, die er ausstrahlte, hob ihn von der hektischen Umgebung ab. Winkend lief Regina auf ihn zu.

»Cava! Entschuldige, ich bin spät dran. Ich fand kein Geschenk, und dann wurde mir noch meine Tüte aus der Hand gerissen, und bis ich durch das Getümmel …« Sie verstummte, als sie Cavallis Lächeln sah.

»Darf ich auch etwas sagen?«, fragte er mit einem Augenzwinkern.

»Was?«

»Hallo.«

Regina lachte und drückte ihm den Kugelschreiber in die Hand. »Hallo! Schreib etwas!«

Während er überlegte, holte sie ihren Taschenspiegel hervor und überprüfte ihren Lippenstift. Cavalli beobachtete sie aus dem Augenwinkel.

»Bitte sehr«, sagte er und gab ihr den Kugelschreiber zurück.

»Das ging aber schnell. Gutschein für eine Nacht in St. Moritz«, las Regina laut. »St. Moritz? Was ist in St. Moritz?«

Cavalli zuckte mit den Schultern. »Es wird dort wohl ein Hotel geben. Osteuropäer mögen doch St. Moritz.«

»Pilecki? In St. Moritz?« Regina stellte sich den Polizisten in seiner verbeulten Lederjacke vor. »Hättest du nicht wenigstens ›Übernachtung‹ statt ›Nacht‹ schreiben können?«

»Sie sind frisch verheiratet! Gibt es für ein Hochzeitspaar etwas Wichtigeres als die Nacht?« Cavalli hob seine Tasche auf. »Gehen wir.«

»Wenn man daran denkt, was Irina beruflich in der Schweiz gemacht hat, finde ich die Wortwahl ziemlich ungünstig.«

»Vielleicht hätte sie ihre berufliche Laufbahn sorgfältiger planen müssen.«

Sie waren kaum fünf Minuten zusammen, und bereits bahnte sich ein Streit an. Dafür hatte Regina keine Nerven. »Was macht die Bundeskopieranstalt?«, fragte sie mit gespielter Leichtigkeit. Cavalli hatte die vergangenen drei Wochen beim Bundeskriminalamt BKA am Täterprofil eines Mörders mitgearbeitet.

»Sie generiert Papier. Ich muss kurz im Büro vorbeischauen. Kommst du mit oder treffen wir uns am Fest? Mein Wagen steht auf dem Kasernenareal.«

Regina ging mit. Alleine wollte sie auf keinen Fall am Hochzeitsapéro auftauchen. Sie folgten der Sihl zur Kaserne. Plötzlich drehte sie sich um.

»Was ist?«, fragte Cavalli.

»Ich hatte das Gefühl, Schritte zu hören, aber da ist niemand.« Sie erzählte ausführlich vom Dieb, der ihr die Plastiktüte entrissen hatte.

»Damit muss man auf dem Weihnachtsmarkt leider rechnen. Der Polizist muss schnell gewesen sein. Wer war es?«

»Marko Simonovic. Kennst du ihn?«

»Nicht persönlich. Aber als erster Jugo«, Cavalli zeichnete mit Zeige- und Mittelfinger Anführungs- und Schlusszeichen in die Luft, »bei der Kapo ist er den meisten ein Begriff.« Er zeigte dem neuen Portier am Eingang des Kripogebäudes seinen Polizeiausweis und steuerte auf die Treppe zu.

Regina protestierte und deutete auf den Lift. Das KV lag im fünften Stock.

Sie schritten den Flur entlang; das blaue Linoleum quietschte unter ihren feuchten Schuhsohlen. Vereinzelt brannte noch Licht in den Büros.

»Hast du deinen letzten Arbeitstag schon hinter dir?«, fragte Cavalli.

»Erst übermorgen. Dann habe ich zwischen Weihnachten und Neujahr eine Woche frei, bevor ich meine neue Stelle antrete. Da wir schon beim Thema sind: Hast du über die Feiertage etwas vor?«

Regina zog ihren Mantel aus und stellte sich ans Fenster. Cavalli sah die Notizen auf seinem Schreibtisch durch.

»Arbeiten«, murmelte er und deutete auf sein Postfach, das unter der eingegangenen Post nicht mehr zu sehen war. »Warum?«

»Nur so.«

»Was hast du vor?«

»Am liebsten würde ich wegfahren.«

Auf der Zeughausstraße zeichneten Scheinwerfer gelbe Streifen auf die nasse Straße.

Cavalli sah auf. »Warum? Bist du an Weihnachten bei deiner Familie eingeladen?«

Regina lachte. Er kannte sie einfach zu gut. Heiligabend bei Flints war ein Grund, ins nächste Flugzeug zu steigen. »Genau.«

Cavalli schüttelte amüsiert den Kopf. »Chris ist über die Feiertage zu Hause.«

Sein siebzehnjähriger Sohn wohnte seit vergangenem Sommer bei ihm.

»Ich dachte, er verbringt sie bei Constanze?«

»War so geplant.« Der amüsierte Gesichtsausdruck verschwand, als Cavalli an seine Exfrau dachte. »Aber sie hat einen neuen Freund, der sie seiner Familie vorstellen möchte. Und Chris ist dabei nicht erwünscht.«

Obwohl Regina die kühle Deutsche nicht mochte, hatte sie ein gewisses Verständnis dafür, dass sie ihren Sohn in dieser Situation nicht dabei haben wollte. Christopher war ein verschlossener, unzugänglicher Jugendlicher. Seit er seine Lehre abgebrochen hatte, war er orientierungslos. Im vergangenen Sommer hatte er zahlreiche Einbrüche begangen und war mit zwei Kilogramm Haschisch erwischt worden. Seither arbeitete er in einer Pizzeria, um der jugendstrafrechtlichen Maßnahme zu entgehen.

»Aber jetzt ist er noch bei ihr?«

»Ja. Bis morgen Abend.« Der Gedanke an Christophers Rückkehr in seine enge Wohnung bedrückte Cavalli. Er wechselte das Thema. »Bist du nervös?« Er brauchte nicht mehr hinzuzufügen, Regina konnte seinen Gedankensprüngen fast immer folgen.

»Ich habe mir fest vorgenommen, meine Unsicherheit auf der BAZ zurückzulassen«, sagte sie. »Ich werde am 3. Januar selbstsicher und locker ein neues Arbeitsleben beginnen!«

Cavalli stellte sich neben sie ans Fenster. »Solange du nicht wie Constanze wirst.« Das Selbstvertrauen seiner Exfrau grenzte an Überheblichkeit, und sie ließ keine Gelegenheit aus, Cavalli seine Unzulänglichkeiten unter die Nase zu reiben. Er betrachtete Reginas schmale Silhouette und ihre feingliedrigen Finger, die über die Hochzeitskarte strichen. Wie so oft verspürte er den Wunsch, sich hinter sie zu stellen und ihr Rückendeckung zu geben. Bloß der Preis war ihm zu hoch. Sie wollte mehr, als er geben konnte. Außerdem täuschte ihr Äußeres. Wenn es sein musste, konnte sie kompromisslos sein. Gedankenversunken spielte er mit ihrem Haar.

»Lass das!« Sie machte einen Schritt zur Seite.

Cavalli ließ seine Hand fallen. »Du wirst Landolt mögen.«

Max Landolt, Leitender Staatsanwalt der STA IV, hatte die polizeilichen Weiterbildungen im Rahmen der Justizreform durchgeführt, bei denen Cavalli ihn kennengelernt hatte. Ab Jahresbeginn würde die Staatsanwaltschaft mehr Kompetenzen an die Polizei delegieren. So durften Polizisten in zahlreichen Fällen sogenannte delegierte Einvernahmen durchführen. Sie mussten dabei aber sämtliche Verfahrensrechte der Beteiligten wahren. Cavalli fragte sich, ob die neuen Kompetenzen im Alltag tatsächlich zu einer besseren Aufgabenverteilung führen würden, denn erste Einvernahmen waren heikel. Fehler konnten dazu führen, dass Aussagen nicht verwertbar waren.

»Ist Landolt wirklich so freundlich, wie er aussieht?«, fragte Regina. Sie kannte ihn nur vom Vorstellungsgespräch.

»Ja. Und sehr geduldig. Ich bin so weit, gehen wir?«

Inzwischen war der Regen auch in Zürich in Schnee übergegangen. Doch die Spuren, die Cavalli und Regina in der nassen, weißen Schicht hinterließen, wurden sofort dunkel. Regina war froh, als sie die Bäckeranlage erreichten. Das Quartierzentrum war hell erleuchtet, aus dem oberen Stockwerk erklangen Gelächter und Musik.

Regina trug ihre Geschenke wie ein Schutzschild vor der Brust, als sie die Betontreppe hochstieg. Der Raum war zum Bersten voll, was sie nicht erstaunte. Pilecki war beliebt. Über die Hälfte der Anwesenden waren Polizisten, die andere Hälfte vermutlich Familienangehörige von Polizisten. Regina erkannte auch einige Fahnder der Stadtpolizei. Ihr Blick fiel auf Irina, die souverän zwischen den ihr unbekannten Gästen auf sie zukam. Unterwegs wechselte sie in fließendem Deutsch ein paar Worte mit einem Kriminaltechniker. Mehr als ein Augenpaar folgte ihr.

»Regina! Schön, dass du gekommen bist.« Irina streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich dich duze? Schließlich haben wir dieses Mal nicht beruflich miteinander zu tun.«

Regina spürte, wie ihr Gesicht glühte. Irina musterte sie scharf. Ihr dunkles Haar und ihre klare, weiße Haut verliehen ihr Ähnlichkeit mit einer Porzellanpuppe. Nur dass sie alles andere als zerbrechlich wirkte. Ungewollt schielte Regina zu Cavalli, doch Irinas Schönheit schien ihn nicht zu beeindrucken. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen, er sah steif und abweisend aus. Regina wusste, dass er sich in Gegenwart von Prostituierten unwohl fühlte, aber er hatte ihr nie erklärt warum.

»Natürlich.« Regina streckte Irina die Champagnerflasche entgegen. »Wir haben euch etwas mitgebracht.«

Irinas Blick verengte sich und wurde hart. Plötzlich stieg eine Erinnerung in Regina hoch. Als sie vor zwei Jahren im Laufe der Ermittlungen mit Cavalli das Nachtlokal aufgesucht hatte, in dem Irina tanzte, hatte Pilecki ihr ein Glas Champagner geholt und ans Podest gebracht. Reginas Kopfhaut begann zu kribbeln, als ihr klar wurde, dass diese bis jetzt vergessene Erinnerung vermutlich der Grund war, warum sie Irina Champagner gekauft hatte.

»Herzliche Gratulation«, hörte sie Cavalli neben sich sagen. Sie entnahm seinem Tonfall, dass ihm der Zusammenhang nicht entgangen war. Hatte er sie absichtlich nicht darauf hingewiesen?

»Regina?« Cavalli legte eine Hand auf ihren Rücken. »Die Karte.«

Automatisch zog Regina die Karte hervor und reichte sie Irina.

»Vielen Dank.« Irina öffnete den Umschlag nicht. »Ich warte damit auf Juri.«

Regina hätte Cavalli für seine sorglose Wortwahl beim Gutschein eine Ohrfeige versetzen können. Plötzlich fragte sie sich, ob er absichtlich eine zweideutige Botschaft platziert hatte.

»Häuptling!«, erklang eine glückliche Stimme. »Du hast den Weg zurück in die Provinz gefunden.« Regina drehte sich erleichtert zu Pilecki um, der Cavalli auf die Schulter klopfte. Der Polizist wirkte ungewöhnlich elegant. Regina konnte sich nicht erinnern, ihn jemals in etwas anderem als in alten Jeans gesehen zu haben.

»Sieh dich mal an! Du hast sogar deine Haare gewaschen!«, begrüßte ihn Cavalli.

»Und die Fingernägel geschnitten«, grinste Pilecki. »Frauen stehen auf so etwas.« Er strahlte Irina an.

Irinas Gesichtszüge wurden weich, und sie küsste ihn auf die Nase. Pilecki strich ihr sanft über die Wange, die Welt um ihn herum existierte nicht mehr.

Regina spürte Cavallis Hand, die noch immer auf ihrem Rücken lag. Sie dachte daran, wie oft diese Hand sie gestreichelt hatte. Drei Jahre lang hatte sie fast jede Nacht neben diesem Mann geschlafen, aber die Hingabe, die Pilecki mit einer kleinen Bewegung auszudrücken vermochte, hatte sie nie erlebt. Stets hatte Cavalli etwas zurückgehalten. Regina beneidete Irina; gleichzeitig schämte sie sich für diesen Neid.

»Gehst du immer noch ins Yoga?«, holte Pileckis Stimme sie wieder in die Gegenwart zurück.

»Ja, jeden Montagabend«, sagte Regina. »Warum?«

Irina versuchte wortlos, ihrem Mann etwas zu sagen. Er ignorierte sie, absichtlich, wie es Regina schien. »Nimmst du Irina nächstes Mal mit?«

»Klar«, sagte Regina ohne Begeisterung. Sie vermied es, Irina anzusehen. »Übrigens, wo ist Katja? Wir haben ihr auch etwas mitgebracht.« Sie suchte den Raum ab, doch das Mädchen war nirgends zu sehen.

Irinas Blick schweifte ebenfalls über die Anwesenden, und ein besorgter Ausdruck trübte das klare Grau der Iris. Sie löste sich von Pilecki.

»Fahrni passt schon auf, keine Sorge«, sagte Pilecki.

»Sie kennt ihn nicht. Fremde Menschen verunsichern sie.« Irina stand auf Zehenspitzen, um besser sehen zu können. »Vielleicht findet sie uns nicht mehr.«

Pilecki drückte ihren Arm. »Vor Fahrni hat kein Kind Angst. Aber wenn es dich beruhigt, gehe ich nachschauen. Sie sind bestimmt am Buffet.«

Irina nickte dankbar.

Die Lücke, die Pilecki hinterließ, wurde von einem kräftigen Mann mit Glatze gefüllt. Die Frau, die an seinem Arm hing, erinnerte Regina an die Models am Genfer Autosalon.

»Du musst Irina sein«, sagte er mit starkem Akzent. »Wadim Tatarenkow.« Er reichte ihr eine große Hand und stellte auf Russisch seine Partnerin vor. »Das ist Sweta.« Das Lächeln der Russin wirkte aufgesetzt. »Juri hat viel von dir erzählt«, fuhr Tatarenkow fort. »Aber du übertriffst die Schilderungen bei Weitem.«

Irina war nicht beeindruckt. »Aus Moskau?«, kommentierte sie seinen Dialekt.

»Ich kann nichts dafür!«, sagte Tatarenkow mit einem Lachen.

Als sich Irina und Sweta in ein Gespräch vertieften, gab Regina Cavalli, der immer noch schweigend neben ihr ausharrte, ein Zeichen. Zusammen bahnten sie sich einen Weg zum Buffet.

Katja war tatsächlich dort. Fahrni befand sich vor ihr in der Hocke und hielt ihren Teller, der mit einem Dutzend verschiedener Speisen beladen war. Das Mädchen musterte sie scheu und schob mit der Gabel eine Kugel Mozzarella hin und her. Sein dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, einzelne Strähnen hatten sich gelöst. Die Spitzen lagen in der Salatsauce. Pilecki stand neben den beiden und betrachtete die riesige Portion. Er zog die Haarsträhne aus dem Teller und klemmte sie mit einem humorvollen Kommentar hinter Katjas Ohr.

»Was sprecht ihr?«, fragte Regina. »Russisch, Tschechisch oder Ukrainisch?«

»Kommt drauf an«, sagte Pilecki. »Irina kann fließend Russisch und Deutsch, versteht natürlich etwas Tschechisch. Katja versteht zwar Russisch, doch sie spricht nur Ukrainisch. Und mein Russisch ist ziemlich rostig. Ich versuche, ganz auf Ukrainisch umzustellen. Vermutlich wird das irgendwann unsere Familiensprache, damit Katja es nicht verlernt.«

Er wandte sich an Katja, die Fahrni bestaunte, weil er gleichzeitig zwei Tomaten in den Mund geschoben hatte, und sagte ihr etwas. Das Mädchen hörte Pilecki zu und sah anschließend zögernd zu Regina.

»Ich habe ihr gesagt, dass du ein Geschenk für sie hast.«

Regina zog die Matrioschka, die in buntes Weihnachtspapier eingepackt war, aus der Tüte.

Katja löste das Papier sorgfältig, damit es nicht zerriss. Sie reichte es Pilecki und machte sich am Seidenpapier zu schaffen. Als die Holzpuppe zum Vorschein kam, zog sie eine enttäuschte Grimasse.

»Sie denkt, bei uns gibt es nur Barbiepuppen. Aber Irina wird es freuen. Sie kann Barbies nicht ausstehen.« Pilecki strich Katja über den Kopf, und sie murmelte etwas. »Danke«, übersetzte er.

»Irina findet Barbies wohl sexistisch«, sagte Cavalli ironisch.

Pileckis Lachen erlosch, und er wandte sich an Regina. »Schön, dass du an Katja gedacht hast.«

»Wenn du nicht aufpasst, wirst du deinen besten – oder einzigen? – Freund bei der Kapo verlieren«, warnte Regina. Sie sah dem Streifenwagen nach, der die Hohlstraße hinunterdonnerte. Pileckis Freunde beim Korps hatten ihm die Fahrt ins Berner Oberland organisiert, wo er mit Irina und Katja eine Woche Ferien verbringen wollte.

»Ich hoffe, er weiß, worauf er sich einlässt«, sagte Cavalli und drehte sich zu Regina um. »Fahren wir?«

Regina stieg in seinen Volvo ein. Sie war müde und hatte zu viel gegessen. »Auf die Liebe.«

»Was?« Cavalli drehte die Heizung auf.

»Er hat sich auf die Liebe eingelassen. Ist dir aufgefallen, dass er den ganzen Abend nicht geraucht hat?« Pilecki hatte bis vor Kurzem noch zwei Päckchen Zigaretten am Tag geraucht.

»Ich zweifle nicht daran, dass er verliebt ist. Aber sie? Was will sie von ihm?«

Regina hatte keine Lust, die Diskussion weiterzuführen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Scheibe. Draußen zog die Stadt an ihr vorbei.

Katja klemmte die Matrioschka unter ihren Arm und versuchte, den Oberkörper zu lösen. Sie drehte ihn hin und her, doch er klemmte. Drei Schichten hatte sie weggeschält, und sie war neugierig, wie viele noch zum Vorschein kämen.

Jasmin Meyer raste bei Rot über eine Kreuzung und lenkte den Wagen auf die Gegenfahrbahn. Geschickt wich sie einem Lieferwagen aus, der zu spät zur Seite gefahren war.

»Bambi! Wir wollen lebend ans Ziel kommen!«, sagte Pilecki.

Die Polizistin schaltete in einen niedrigeren Gang, drosselte das Tempo aber nicht. Selten hatte die gelernte Automechanikerin Gelegenheit, richtig Gas zu geben. Der Funk knisterte, und die Einsatzzentrale meldete einen Notruf. Meyer hörte zu. »Keine Sorge, ich habe noch nie einen Unfall gebaut.« Sie schaltete das Blaulicht ein.

»Das geht zu weit!« Pilecki lehnte sich nach vorne, um das Blaulicht wieder auszuschalten. »Du weißt genau, dass das keine Dienstfahrt ist. Ich will keinen Ärger!«

Bevor Meyer reagieren konnte, schoss ein Velofahrer aus einer Seitenstraße heraus. Er schien weder das Blaulicht noch die Polizeisirene bemerkt zu haben. Schwankend rollte er auf den Mittelstreifen zu.

Meyer trat heftig aufs Bremspedal und riss das Steuer nach rechts. Die Hinterräder des Streifenwagens gerieten auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern, und Katja schrie auf. Die Matrioschka flog ihr aus den Händen und prallte ans Armaturenbrett. Meyer löste die Bremse, wich aufs Trottoir aus und lenkte den Streifenwagen gekonnt an einem Abfallcontainer vorbei. Fünfzig Meter weiter vorne rollte sie wieder auf die Straße zurück.

»Tut mir leid, ich wollte Katja nicht erschrecken«, sagte sie und beschleunigte wieder.

Irina sammelte mit zusammengebissenen Zähnen Matrioschkateile ein, die im ganzen Auto verteilt lagen.