Ronald Malfi
SNOW
DIE KÄLTE
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Ronald Malfi
SNOW
DIE KÄLTE
Roman
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der amerikanischen Originalausgabe
Snow
Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Deutsche Erstausgabe 07/2010
Redaktion: Marcel Häußler
Copyright © 2010 by Ronald Malfi
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-06076-3
V003
www.heyne-magische-bestseller.de
Für Deb, meinen Fels in der Brandung
PROLOG
»Mister Farmer? Sind Sie es?«
Natürlich wusste sie, dass es nicht George Farmer war. Er sah so aus, aber er war es nicht.
Shawna Dupree wischte sich die schweißnassen Strähnen aus dem Gesicht und hockte sich hinter die Theke des verlassenen Pack-N-Go. Sie hatte viel zu große Angst, um aufzustehen und über die Theke zu spähen. Wenigstens konnte sie den Laden im gewölbten Überwachungsspiegel an der Decke beobachten. Ihre blutigen Hände klebten am kalten Stahl des Gewehrs.
Das Licht brannte nicht, und das Geschäft war ein einziges Chaos. In den Gängen lag heruntergefallene, verdorbene Ware, Limonadeflaschen waren geplatzt und hatten klebrige Lachen auf dem Linoleum hinterlassen. Irgendjemand – einer der anderen? – hatte ein Metallregal umgeworfen und damit die Glastür eines Kühlregals zerstört. Trotz der Kälte draußen war das Eis im Innern geschmolzen. Noch schlimmer, irgendwo zwischen den Fertiggerichten und den Mädchenzeitschriften lag Jared. Ihr war nichts anderes übriggeblieben.
»George Farmer«, rief sie noch einmal. Ihre Stimme quietschte wie ein Wetterhahn im Wind. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, hielt den Atem an und zählte stumm bis zehn. Dann sagte sie so ruhig wie möglich, als hätte sie alles unter Kontrolle: »Wenn Sie es sind, sollten Sie antworten. Verdammt nochmal, ich habe eine Waffe!«
Eine Schaufensterscheibe war mit dem Spinnennetz eines Einschusses verziert. Das fahle, gespenstische Tageslicht, das von dort hereinfiel, erhellte nur einen kleinen Teil des sonst dunklen Geschäfts. Draußen vor dem Fenster erstreckte sich der schneebedeckte Marktplatz der Stadt. Unter dem Gewicht der Schneemassen gaben bereits die Dächer der benachbarten Geschäfte nach. Im Überwachungsspiegel über der Kasse konnte Shawna das Stadtzentrum als verzerrte Miniatur erkennen. Der Turm von St. John’s erhob sich als einsame Erinnerung an das, was der Ort vor kurzer Zeit noch gewesen war. Am Horizont hatte der Himmel die Farbe von stumpfem Aluminium.
Hinten im Laden regte sich etwas.
Shawna zog die Knie enger an die Brust. Ihr Herz hämmerte wie wild. Aus dem linken Hosenbein ihrer Jeans tropfte das Blut, dunkel wie Schokoladensirup, und breitete sich auf dem Boden aus. Eine Fußmatte aus Gummi hielt das Rinnsal vorübergehend auf. Es kroch an der Kante entlang und dann um die Ecke der Matte. Der Anblick der Blutflecken auf dem Boden und ihrer Hose verstärkte die Schmerzen, und die gezackte Schnittwunde im linken Oberschenkel brannte, als wäre sie ganz frisch.
Shawna lauschte atemlos, doch es blieb still im Laden. Vorher hatte sie ein leises Kratzen und Rascheln gehört, als rieben die Beine einer Strumpfhose aneinander. So hatte es geklungen, wenn ihre alte Mathelehrerin Miss Brennan, es war eine Ewigkeit her, durchs Klassenzimmer gelaufen war.
Sie wissen, dass ich hier bin. Irgendwie haben sie mich bemerkt.
Oder war das alles nur ein Traum? Ein entsetzlicher, höllischer Traum?
Sie kniff die Augen zu und sah sofort wieder Jared vor sich, das Gesicht vor Angst erstarrt, die Haut krank und bleich, die Augen von einem schleimigen Film bedeckt. Auf der rechten Wange hatte er einige Blutflecken gehabt, und draußen in einer Schneewehe war noch mehr – erheblich mehr – Blut gewesen. Dort hatten ihn ihre ersten beiden Schüsse getroffen. Dennoch hatten er, George Farmer und einige andere Shawna über den ganzen Platz verfolgt. Zwischen den Verkaufsregalen des Pack-N-Go hatte sie abermals auf ihn geschossen. Dort war er endlich zu Boden gegangen. Bevor er gestorben war, hatte er noch einmal den Kopf gehoben und mit gebrochener Stimme ihren Namen gekrächzt: »Shaw…naah … «
Auf der anderen Seite des Ladens polterte etwas. Shawna nahm sich zusammen und packte das Gewehr fester. Komm nur, du Mistkerl. Noch ein Knall, lauter als der erste. Dann rauschten Geisterfüße, Fledermausflügel oder Miss Brennans Strumpfhosen durch die Gänge auf sie zu. Chipstüten und Plastikkanister mit Motoröl flogen durch die Luft, als pflügte die Rückenflosse eines Hais durch das Wasser.
Es war hinter ihr her.
Shawna warf einen raschen Blick auf den fleckigen Spiegel über der Kasse und glaubte, eine flackernde Erscheinung auszumachen: groß, schmal und durchsichtig, so dass sie hinter dem schimmernden Körper noch die Umbratöne der untergehenden Sonne erkennen konnte.
Direkt hinter ihr platzten die Sprudelflaschen im Regal, loses Kleingeld prasselte auf den Boden.
Shawna sprang kreischend auf, schwenkte das Gewehr herum und drückte ab.
ERSTER TEIL
DER STURM
1
Der Nachrichtensprecher mit dem Plastikgesicht und dem knallgelben Schlips nannte es einen Weltuntergang. Todd Curry blickte zum Bildschirm hinauf, als eine detailgetreue Karte des Mittleren Westens eingeblendet wurde. Eine animierte weiße Masse ruckelte über den Staat hinweg, bis Chicago und die umliegenden Vororte völlig verdeckt waren. Am Gate 16 des Flughafens O’Hare stöhnten die wartenden Passagiere auf. Zuerst dachte Todd, dies sei eine Reaktion auf den digitalen Schneesturm auf dem Flachbildschirm, dann blickte er zum Abfertigungsschalter und sah, dass sich der Flug 218 nach Des Moines, den auch er nehmen wollte, um eine weitere Stunde verspäten würde.
»So ein Mist«, flüsterte er.
»Der Schneesturm wird uns noch den ganzen Abend bis morgen Nachmittag zu schaffen machen, und das sind schlechte Nachrichten für viele Pendler, die den Weihnachtsabend zu Hause verbringen möchten.« Der Nachrichtensprecher grinste trotzdem wie eine Bauchrednerpuppe. »In der Innenstadt von Chicago sind bereits zwanzig Zentimeter Schnee gefallen, im Umland könnten es bis zu fünfzig Zentimeter werden, ehe der Sturm nachlässt. Allen Reisenden, die über die Feiertage unterwegs sind, stehen also ungemütliche Zeiten bevor. Zurück zu Ihnen, Donna.«
»Das ist Schwachsinn«, knurrte ein massiger Kerl, der ein Sweatshirt von den Chicago Bulls und Cargohosen trug, die aussahen, als wären sie aus einem Zirkuszelt herausgeschnitten worden. Der stark schwitzende Mann balancierte eine dreieckige Pizzaschachtel von Sbarro’s auf dem linken Knie. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er kurz zu Todd hinüber, der zwei Plätze entfernt saß. »Glauben Sie das etwa? Passen Sie auf, Kumpel, der Flug wird komplett gestrichen.«
»Wäre nicht das erste Mal, dass ich so ein Glück habe.« Über dem Notebook, das zwischen seinen Beinen stand, rang Todd die Hände. Wie bei einem Mann, der einen schlimmen Anruf erwartet, wanderte sein Blick immer wieder zum Flachbildschirm, der an den Deckenträgern befestigt war. Eine einigermaßen attraktive Frau in einem burgunderroten Hosenanzug schüttelte gerade angesichts des furchtbaren Wetters den Kopf.
»So machen die das immer«, fuhr der Mann mit dem Sweatshirt fort und zeigte mit einem Zeigefinger im Format einer Bockwurst auf den Bildschirm über dem Abfertigungsschalter. »Die wissen längst, dass der Flug gestrichen ist. Sehen Sie doch nur mal nach draußen! Man muss kein verdammter Meteorologe sein, um zu erkennen, dass wir vorläufig nicht starten werden.«
Der Mann hatte Recht. Seit einer Stunde ergossen sich hinter den großen Scheiben Katarakte aus wirbelndem, wallendem Schnee. Draußen war so gut wie nichts zu sehen, Todd konnte gerade noch die riesigen Umrisse einiger Flugzeuge auf den Parkpositionen erkennen. Graue und verschwommene Ungetüme, deren Konturen sich mit jedem Augenblick weiter auflösten.
»Die behaupten bloß, es gäbe eine Verspätung, um die Ungeduldigen auszusieben«, erklärte der Mann. Er hatte die Pizzaschachtel geöffnet und pulte das klebrige Stück mit den Wurstfingern heraus. »Daraufhin stellen sich ein paar Armleuchter am Schalter an, buchen um und stellen dumme Fragen, ehe sie sich davonschleichen wie geprügelte Hunde.«
Tatsächlich stand inzwischen vor dem Abfertigungsschalter eine kleine Schlange, die sich allerdings kaum bewegte.
»Warten Sie’s ab«, prophezeite der Mann mit dem Sweatshirt. »Sobald die Schlange weg ist, geben sie bekannt, dass der Flug gestrichen ist. Todsicher.«
»Vielleicht haben wir doch noch Glück.«
»Wollen wir wetten?«
Ha, dachte Todd griesgrämig. Du hast ja keine Ahnung.
»Die wollen nur den Ansturm eindämmen, verstehen Sie?«, erklärte der Mann. »Damit sie nicht von hundert Leuten auf einmal überrannt werden.«
Todd fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Sind Sie viel unterwegs?« Bei seiner Pechsträhne musste er damit rechnen, dass der fette Sack auf dem Flug neben ihm sitzen würde. Falls es überhaupt noch einen Flug gab.
»Ich bin im Vertrieb. Pharmaindustrie, Medikamente.« Der Kerl bekam endlich den Keil Pizza aus der Schachtel, dabei landete ein Stück Paprika auf seinem Schoß. »Verdammt.« Mit kleinen Schweineaugen blickte er zu Todd. »Und Sie?«
»Ob ich viel reise? Nein, eigentlich nicht.«
»Ich meine, was arbeiten Sie?«
»Ich bin Anwalt.«
»Echt? Haben Sie eine eigene Kanzlei?«
»Schadensersatz, Alkohol am Steuer, solche Sachen.«
»Verstehe. Immer hinter den Krankenwagen her, was?« Er schob sich die Spitze des Pizzastücks in den Mund und biss einen Happen ab, bei dem der weiße Hai vor Neid geplatzt wäre. »Schon klar. Kann man damit gut verdienen?«
»Ich komme klar.« Todd blickte auf die Uhr: 17.45. Der verdammte Flug hätte schon vor zwei Stunden abgehen sollen. Er stellte sich vor, wie Justin im Wohnzimmer des kleinen Hauses in der Calabasas Street in Des Moines vor dem Fernseher hing. Wahrscheinlich hatte er einen frischen Bürstenschnitt und trug bereits seinen Turbo-Dogs-Schlafanzug. Brianna, Todds Exfrau, hetzte unterdessen durchs Haus und räumte auf. Sie hatte es ihm leichtgemacht, und Todd war ihr insgeheim dankbar dafür. Schließlich war es auch das Beste für Justin gewesen.
Fast ein Jahr war verstrichen, seit er Justin das letzte Mal gesehen hatte. Himmel, wann war das gewesen, im März? Beim siebten Geburtstag des Jungen? War es wirklich schon so lange her? Eigentlich hätte er Justin im Sommer drei Wochen nehmen sollen, aber das Leben warf manchmal ohne Vorwarnung alles über den Haufen. Der letzte Sommer war ein einziges Chaos gewesen – ein riesengroßer Misthaufen, um es genau zu sagen. Seit März hatte er sich auf Telefongespräche mit Justin beschränken und dessen handgeschriebene Briefe lesen müssen. Justins Lehrerin hatte den Kindern beigebracht, wie man Briefe schrieb und Umschläge beschriftete, und seitdem war der Junge ganz begeistert davon. Es hatte nicht lange gedauert, bis in Todd Currys Briefkasten dicke weiße Umschläge aufgetaucht waren, in kindlichen Großbuchstaben mit Filzstift beschriftet und die Briefmarke wie ein schief aufgehängtes Gemälde in der Ecke darüber. Die Briefe hatten Todd sehr berührt, viel stärker sogar, als er selbst es für möglich gehalten hätte. Eines Morgens Ende Juli, als er von einem elenden, demütigenden Wochenende in Atlantic City zurückgekehrt war, hatte Todd tatsächlich geweint, als er Justins unbeholfene Buntstiftzeichnung einer Katze mit einem Zylinder betrachtet hatte, deren Schnurrbart aus Pfeilen bestand. Mit einem Magneten von Domino’s Pizza hatte er das Blatt am Kühlschrank seines winzigen Apartments in New York befestigt. Der Anblick hatte jedoch solche Schuldgefühle in ihm geweckt, dass er es nach zwei Tagen wieder heruntergenommen hatte. Beim nächsten Telefonat mit seinem Sohn wäre er beinahe zusammengebrochen. Irgendetwas hatte sich in ihm verändert. Direkt nach dem Anruf hatte er im Mülleimer nach der dummen Zeichnung mit der Zylinder tragenden Katze gesucht, doch es war zu spät gewesen. Der Müll war schon Anfang der Woche abgeholt worden. Fort.
Fort, dachte er jetzt. Das Wort hallte hohl durch seinen Kopf.
»Normalerweise bin ich ja am Heiligabend gar nicht unterwegs«, erklärte der Mann mit dem Vereinssweatshirt. Er hatte den Mund voller Pizza. »Das war allerdings ein wichtiger Kunde, den ich nicht warten lassen wollte. Das Verkaufsgespräch ist fantastisch verlaufen, die habe ich wirklich beeindruckt. Ich bin da in voller Montur in Schlips und Kragen aufgelaufen. Das hat echt was rausgerissen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Klar«, stimmte Todd zu. Er schnappte sich seinen Laptop und stand auf. Den dicken Pharmavertreter konnte er keine Sekunde länger ertragen. »Ich hol mir mal einen Kaffee.«
Der Dicke schien enttäuscht. »Wollen Sie denn nicht abwarten, was aus dem Flug wird? Wir haben gewettet.«
»Nein, haben wir nicht. Außerdem haben Sie doch sowieso schon gesagt, der Flug würde todsicher gestrichen.«
Der Mann zuckte mit den Achseln. In einer fettigen Hand hatte er noch ein wenig Kruste von der Pizza. »Genau das habe ich gesagt. Passen Sie nur auf.«
Todd ging an einigen Schnellimbissen vorbei. Dort hätte er überall Kaffee bekommen, doch er hatte am Ende des Terminals ein kleines Bistro namens »Hemmingson’s« bemerkt. Dank der Flugverspätung war die Happy Hour längst vorbei. Zum Teufel mit dem Kaffee, er brauchte einen steifen Drink.
Das Lokal war völlig überfüllt mit wartenden Fluggästen, es gelang Todd jedoch, sich bis in eine Ecke durchzuquetschen und einen Dewar’s on the rocks zu bestellen, ohne einen Ellenbogen in die Rippen zu bekommen. An den Wänden hing ein Sammelsurium von Weihnachtsschmuck und Sportutensilien, und trotz des Rauchverbots qualmte jemand eine Zigarette. Der Fernseher hinter der Theke war auf den Wetterkanal eingestellt. In einer Endlosschleife zeigten mehrere kurze Einspielungen, wie sich die Bewohner des mittleren Westens in Parkas mit pelzbesetzten Kapuzen einen Weg durch den Schneesturm bahnten. Zwischendurch waren die Aufnahmen der Verkehrsüberwachung auf dem Interstate Highway zu sehen: massenhaft Blechschäden und Blaulicht. Todd hatte das Gefühl, in seinem Magen drehte sich etwas Nasses und Kaltes um. Er kippte einen großen Schluck und hoffte, der Scotch würde die Angst in seinem Bauch betäuben.
»Entschuldigung, entschuldigen Sie«, rief eine Frau jenseits der dicht gedrängten Gäste. Todd drehte sich um. Sie trug eine beigefarbene Strickmütze und rannte vergeblich gegen die Wand aus breiten Männerschultern an. »Entschuldigen Sie … verdammt !« Endlich stieß sie hindurch. Sie hatte reichlich Gepäck dabei und trug einen knielangen Jacquardmantel, der vermutlich zwei Nummern zu klein war. Es sah beinahe aus, als würde sie von der lackierten Theke zurückprallen. Todd hielt sie am Unterarm fest, ehe sie endgültig das Gleichgewicht verlor.
»Langsam«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
»Meine Güte.« Schnaufend ließ sie direkt vor ihm die beiden Reisetaschen auf den Boden fallen. »Das ist hier ja wie bei General Custers letztem Gefecht. Was muss ein Mädchen tun, um einen Drink zu bekommen?«
Todd grinste. »Sie haben sich doch ganz gut geschlagen. Wenigstens haben Sie keine Pfeile im Rücken.«
»Allerdings hat ein tapferer Indianer da hinten meinen Arsch begrabscht.« Sie nahm die Strickmütze ab und gab ein Gestrüpp feuerroter Haare frei. Sie hatte ein hübsches, schmales Gesicht mit großen und tiefen grünen Augen. Der Nasenrücken war mit hellen Sommersprossen besprenkelt. Auf einmal wurde Todd sein unvorteilhaftes Äußeres bewusst: ein Dreitagebart, dunkle Ringe unter den Augen. »Ich hätte meinen Elektroschocker mitbringen sollen«, sagte sie, »dann wäre ich wie ein Viehtreiber durchs Getümmel marschiert.«
»Das wäre vielleicht doch etwas übertrieben«, meinte er. »Was möchten Sie?«
»Trinken?« Sie wirkte einen Moment verwirrt. »Oh, ja – äh, haben die hier Midori?«
Er blinzelte. »Keine Ahnung.«
»Einen sauren Midori, wenn es den gibt. Aber lassen Sie sich bloß keinen Melon Ball andrehen«, fügte sie rasch hinzu. »Die taugen alle nichts, dabei kommt’s mir immer hoch.« Sie kratzte sich mit den kurzgeschnittenen Fingernägeln am Hals, als würde ihr schon beim Gedanken daran übel.
»Alles klar«, sagte Todd. Wie sich herausstellte, war der Midori vorrätig. Der Barkeeper mischte den Drink sofort und stellte ihn auf den Bierdeckel. »Frohe Weihnachten«, sagte Todd, als sie anstießen.
»Dann sind Sie also ein ›Frohe Weihnachten‹- und kein ›Schöne Feiertage‹-Typ, was?«
»Entschuldigung, habe ich Sie irgendwie beleidigt?«
»Nein, es ist erfrischend. Ich habe diese Political Correctness satt. Wir treiben es damit so weit, dass wir jede Individualität verlieren, bis wir keine Menschen mehr sind. Finden Sie nicht auch?«
»Aus dem Blickwinkel habe ich das noch nie betrachtet.«
Mit einem einzigen Zug trank sie ihr Glas halb leer, stellte es ab und zog die Lederhandschuhe aus. Am Ringfinger trug sie einen Klunker vom Format einer Diskokugel. Der Stein funkelte wie das Lächeln eines Filmstars.
»Oh Mann«, stöhnte sie. »Dieses Wetter ist unglaublich.«
Er nickte und trank einen Schluck Scotch. »Ist Ihr Flug gestrichen oder nur verspätet?«
»Letzte Nacht habe ich geträumt, ich säße in einem U-Boot fest, aus dem lauter Leute in Anzügen über die Leiter aussteigen wollten.« Auf seine Frage ging sie mit keinem Wort ein. »Sie haben sich gegenseitig heruntergerissen, sich geprügelt und gerangelt wie die wilden Tiere. Es waren auch Frauen dabei, die allerdings Ballkleider trugen. Jedenfalls haben sich alle gekratzt und gehauen. Ich habe nur dabeigestanden und zugesehen. Dann ging irgendwo tief im U-Boot ein Alarm los.« Als sie das Geräusch aus ihrem Traum nachahmte – »Weee-ooh, weee-ooh, weee-ooh« –, drehten sich einige Leute zu ihr um. Sie schien es nicht zu bemerken. »Oh verdammt, jetzt sinken wir, was? Und diese Ärsche verhauen sich wie kleine Kinder auf dem Spielplatz, zerren einander an den Haaren und rollen auf dem Boden herum.« Sie seufzte und machte eine bedrückte Miene. »Das war vermutlich ein prophetischer Traum.«
»Prophetisch? Waren Sie denn heute Nachmittag auf einem U-Boot? Ist das tatsächlich passiert?«
»Himmel«, stöhnte sie und verdrehte die Augen. Dann lächelte sie verschmitzt, und das unangenehme Gefühl in seinem Bauch verschwand. Sie deutete mit einer Hand – es war die mit dem riesigen Verlobungsring – auf das Gedränge. »Können Sie das denn nicht übertragen? Ich meine die Situation hier, diesen Flughafen.« Sie runzelte die Stirn, war aber nicht ernstlich erzürnt. »Wo ist Ihr Gefühl für Symbolik?«
»Wahrscheinlich bin ich nicht sehr symbolisch.«
»Tja, wenn das so ist … «, setzte sie an. Dann hielt sie inne und nahm ihn genauer in Augenschein. Sie hatte strahlende türkisfarbene Augen, die schimmerten wie das Wasser in der Karibik. »Hallo«, sagte sie etwas leiser. »Tut mir leid. Manchmal gehe ich hoch wie eine Rakete. Kate Jansen.«
»Hallo, Kate.« Sie schüttelten sich die Hände. »Todd Curry.«
»Danke für den Drink, Todd.«
»Kein Problem.«
»Ich nehme an, Sie sind auch ein Zurückgebliebener?«
»Ein Zurückgebliebener?«
»Ein Opfer der Stornierungen.«
»Ach so.« Er lächelte. »Zurückgeblieben. Ja, das ist witzig.«
»Wohin wollen Sie denn?«
»Also … «, er blickte noch einmal auf die Uhr. »Eigentlich hätte ich um halb fünf nach Des Moines starten sollen. Jetzt ist es halb sieben … «
»Dann leiden wir an dem gleichen Gebrechen.« Sie stieß noch einmal mit ihm an und nahm einen kräftigen Schluck.
»Haben Sie auch diesen Flug gebucht?«
»Schuldig im Sinne der Anklage. Ich sollte Weihnachten mit meinem Verlobten und seiner Familie verbringen, aber das liegt jetzt wohl in Gottes Hand.«
»Sie sollten? Das klingt, als wäre es eine Tortur.«
»Und ob.« Sie nickte energisch. »Das ist es auch. Seine Eltern sind grauenhaft. Ungefähr wie die Schurken in den Romanen von Charles Dickens, buckelig und finster, immer mit tristen, einfarbigen Sachen bekleidet und jederzeit bereit, die Bauernkinder anzubrüllen.«
»Das klingt ja wundervoll.«
Sie schnaufte vernehmlich, dabei roch er ihr Parfüm – etwas Süßes wie Zuckerguss – und das Aroma des Midori in ihrem Atem. »Aber ich liebe den Hundesohn, also ertrage ich sie.« Sie bemerkte seinen Blick zum Diamantring, sagte aber nichts dazu. Todd wandte sich rasch ab und tat, als interessierte er sich für den Wetterbericht. Schnee, Schnee und noch mehr Schnee. Verdammt auch, dachte er, als er wieder an Justin in seinem Turbo-Dogs-Schlafanzug denken musste. Ich hab’s versucht, Kumpel. Ich hab’s wirklich versucht.
»Und Sie?«, fragte Kate Jansen. »Bleiben Sie in Des Moines, oder reisen Sie weiter?«
»Ich bleibe dort.«
»Fliegen Sie nach Hause?«
»Ich besuche meinen Sohn.«
»Geschieden?«
»Ja. Er lebt bei seiner Mutter.«
»Wie kommen Sie miteinander aus? Sie und die Mutter, meine ich, nicht den Jungen.«
»Nicht so gut.«
»Wer ist schuld?«
»Dass wir uns nicht verstehen?«
»Die Scheidung«, erklärte sie. »War sie es, oder waren Sie es?«
»Ich … es beruhte wohl auf Gegenseitigkeit.«
»Gegenseitigkeit?«, fragte sie skeptisch.
»Es hat nicht gehalten.«
Sie stieß ein kurzes Lachen aus. Wieder drehten sich einige Gäste zu ihr um. »Sie sagen das wie ein Chirurg, der gerade eine Operation versaut hat: Das Transplantat hat leider nicht gehalten.«
»Ich wollte sagen, wir waren uns eben darin einig, dass es das Beste war.«
»Und Sie waren sich auch einig, dass sie das Kind nimmt?«
»Sie kommen aber wirklich direkt zur Sache, was?«
»Oh?« Die Frau schien ehrlich überrascht. »Tut mir leid, war das aufdringlich? Mir wird immer ganz komisch, wenn jemand über seine Scheidung spricht. Bei meinen Eltern ist das ziemlich schmutzig abgelaufen, als ich elf war. Danach habe ich für die beiden abwechselnd die Geisel gespielt. Seitdem bin ich sicher in mehr als nur einer Hinsicht verkorkst. Mann, Sie hätten mich mal auf dem College erleben sollen.« Sie senkte die Stimme. »Ich wollte damit nichts andeuten.«
»Schon gut. Wahrscheinlich gibt es gar keine Scheidungen, die reibungslos verlaufen.«
Wieder setzte Kate Jansen das verschlagene kleine Grinsen auf. »Eine leichte Kindheit gibt es wohl auch nicht.«
Das erinnerte ihn an Justin. Was, zum Teufel, tat er nur? Er saß am Heiligabend in einer Flughafenbar, trank Scotch und schwatzte mit einer Fremden. Er stellte das Glas auf die Theke und nahm seinen Laptop. »War nett, Sie kennenzulernen, Kate. Ich sehe jetzt lieber mal nach meinem Flug.«
»Nach unserem Flug«, korrigierte sie ihn.
»Ja, richtig. Kommen Sie mit?«
»Ich glaube, ich bleibe noch hier und trinke in Ruhe aus. Ich sag’s Ihnen nicht gern, mein Lieber, aber ich fürchte, heute Abend werden wir nirgendwohin fliegen.«
»Hoffentlich irren Sie sich, Schätzchen.« Er legte genügend Geld für beide Drinks auf die Theke. »Bis später.«
»Heben Sie mir eine Tüte Erdnüsse auf.«
Er drängte sich durch die anderen Gäste. Die Tasche mit dem Laptop prallte ihm immer wieder in die Kniekehle, er schwitzte im Wintermantel und hoffte wider alle Vernunft, der verdammte Flug würde nicht storniert. Nein, er durfte nicht gestrichen werden. Auf gar keinen Fall.
2
Der Flug war gestrichen.
»Verdammte Scheiße«, fluchte er halblaut. Die Anzeigetafel über dem Abfertigungsschalter zeigte es blinkend an – ANNULLIERT. Vor dem Schalter hatte sich eine Menschenmenge versammelt, die meisten waren sichtlich gereizt. Irgendwo kreischte ein Kind.
»Na?« Der Dicke mit dem Sweatshirt der Chicago Bulls schlurfte, einen Bordkoffer mit quietschenden Rädern im Schlepp, neben ihn. Es war beängstigend, wie stark der Mann schwitzte. Der unübersehbare Fettfleck auf seiner Hose war wie der Bundesstaat Texas geformt. »Na, was hab ich Ihnen gesagt?«
»Sie sind Hellseher.«
»Die geben noch nicht mal Hotelgutscheine aus. Das machen sie nur, wenn die Fluglinie an der Stornierung schuld ist. Schlechtes Wetter gehört nicht dazu.« Der Mann ließ eine schwere Hand auf Todds Schulter fallen. »Ich glaube, ich setze mich irgendwo hin und mach ein Auge zu. Schöne Feiertage, Kumpel.«
Der Dicke zog den Rollkoffer auf quietschenden Rädern durch die Menge.
Es dauerte gut zehn Minuten, bis sich das Gedränge vor dem Schalter auflöste. Die meisten Fluggäste stürmten mit wutentbrannter Miene davon, andere verharrten offenbar in einer seltsamen Mischung aus Schock und Langeweile. Inzwischen blinkte an allen Gates auf den Anzeigen über den Schaltern das Wort ANNULlIERT, und auf einmal drang Weihnachtsmusik aus den Deckenlautsprechern. Ein verzweifelter Versuch, die aufgebrachten Massen zu besänftigen.
»Hallo«, sagte er, als er an der Reihe war. Die Frau hinter dem Schalter war völlig erschöpft, und Todd empfand sogar ein wenig Mitgefühl für sie. »Keine Sorge, ich brülle Sie nicht an.«
»Gott sei Dank.«
»Wahrscheinlich sind Sie kein Medium, aber haben Sie eine Ahnung, ob die Maschinen vielleicht morgen früh wieder starten können?«
»Sir, der Schneesturm soll noch bis morgen Nachmittag anhalten. Wir rechnen mit einem knappen halben Meter Neuschnee. Solange es schneit und die Temperatur unter dem Gefrierpunkt bleibt, können wir nicht einmal Leute rausschicken, um die Maschinen zu enteisen.« Sie drehte sich zu einem Computerterminal um und setzte die Finger mit den hellrot lackierten Nägeln in Bewegung. Es klang, als pickten winzige Vögel auf einer Frisbeescheibe herum. »Sie können entweder abwarten, bis das Unwetter vorbei ist, oder ich storniere Ihre Buchung. Allerdings ist es leider unmöglich, Ihr eingechecktes Gepäck aus der Maschine zu holen, solange wir die Leute nicht nach draußen schicken können.«
»Na, toll.«
»Was soll ich tun, Sir?«
Er gab ihr seine Bordkarte. »Dann nehmen Sie mich bitte raus.«
Die Frau blickte auf das Dokument und tippte wieder mit den rosa Krallen drauflos. »Sie wollten hier nur umsteigen, wie ich sehe.«
»Ja, ich bin heute Morgen aus New York gekommen.«
»Es ist wirklich unangenehm, in einer fremden Stadt zu stranden. Einige andere Fluggäste können wenigstens nach Hause fahren. Haben Sie hier in der Gegend Freunde oder Verwandte?«
»Nein.« Er blickte wieder auf die Uhr. »Wie weit ist es eigentlich bis Des Moines? Auf dem Highway, meine ich.«
»Wollen Sie mit dem Auto fahren? Das sind fast fünfhundert Kilometer.«
»Also etwa fünf Stunden?«
»Mindestens«, entgegnete sie. »Aber nur bei gutem Wetter. Sie wollen doch nicht ernsthaft bei diesem Chaos mit dem Auto fahren?«
»Sie verstehen das nicht«, erwiderte er. »Ich muss dringend nach Des Moines.«
Die Frau nickte in die Richtung der beiden Sitzreihen, wo die verhinderten Reisenden hockten, die Gepäckstücke zu kleinen Burgen aufgetürmt und die Mäntel in der drückenden Hitze des Flughafengebäudes geöffnet. Sie machten einen niedergeschlagenen Eindruck. »Die müssen auch alle dringend nach Des Moines. Auf diesem Flughafen geht im Moment gar nichts mehr.«
Der Drucker neben dem Terminal surrte und spuckte die Quittung für seine Stornierung aus. Die Frau riss den Zettel heraus, faltete ihn in der Mitte und schob ihn über die Theke. Er griff danach, doch sie ließ nicht sofort los, sondern zog ihn sogar ein Stückchen zurück.
»Ihre Familie würde Sie Weihnachten bestimmt gern zu Hause haben«, meinte sie beinahe verschwörerisch, »aber Ihre Lieben wollen sicher nicht, dass Sie dafür Ihr Leben riskieren.«
Sie ließ los, und er stopfte sich die Quittung in die Manteltasche. »Danke«, sagte er. »Das meine ich ernst.«
»Ich auch. Denken Sie drüber nach.«
»Das mache ich.« Dabei wusste er längst, dass er ihre Warnung in den Wind schlagen würde. Die Entscheidung war bereits gefallen, bevor er sich dem Schalter überhaupt genähert hatte, und er hatte nicht die Absicht, seine Pläne zu ändern. An die Schuldgefühle, als die Zeichnung mit der Katze am Kühlschrank gehangen hatte, konnte er sich nur zu gut erinnern – ganz zu schweigen von all dem Mist, der einzig und allein wegen seiner Gedankenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit im Sommer passiert war und der ihn daran gehindert hatte, seinen Sohn zu besuchen. Die Tatsache, dass Brianna eingewilligt hatte, ihn über Weihnachten für zwei Tage bei sich aufzunehmen, zeigte schon, wie wichtig der Besuch für ihren Sohn war.
Wahrscheinlich würde er sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können, wenn er es nicht schaffte, Justin über Weihnachten zu besuchen.
Überraschenderweise war die Schlange vor dem Autoverleih nicht sehr lang. Das liegt nur daran, dass niemand so verrückt ist, bei diesem Wetter mit dem Auto zu fahren, informierte ihn eine leise Stimme im Hinterkopf, die ihn stark an Brianna erinnerte.
»Zwei Dumme, ein Gedanke.« Kate Jansen stellte sich mit dem zu kleinen Jacquard-Mantel und der Wollmütze hinter ihm an.
»Vielleicht haben wir auch bloß eine masochistische Ader«, antwortete er.
»Ach«, gab sie zurück, »das hatte ich schon immer.«
Er winkte in die Richtung der Theke des Autoverleihs. »Nach Ihnen.«
»Danke.«
Kate trat an die Theke, und Todd wartete hinter ihr. Als wollten sie betonen, wie dumm es sei, bei so einem Wetter zu fahren, stornierten die wenigen anderen Kunden an der Theke ihre Reservierungen, statt die Autos abzuholen. Als der Angestellte sich endlich Kate widmete, war es bereits achtzehn Uhr dreißig. Todd zückte sein Handy und wählte Briannas Nummer. Es klingelte einige Male, ehe sie sich meldete. Sie klang außer Atem und unkonzentriert. Wieder malte er sich aus, wie sie im kleinen Haus umhereilte, Justins Spielsachen aufräumte und die Schmutzwäsche unter dem Bett verstaute. Diese Vorstellung wich einem echten Bild, einer Erinnerung, wie er neben Brianna im Bett lag. Das Mondlicht, das durchs Schlafzimmerfenster hereinfiel, schimmerte perlmuttfarben auf ihrer nackten Haut. Es war ihre alte Wohnung in Greenwich Village und eine Weile vor Justins Geburt. Damals waren sie beide viel jünger und sehr verliebt gewesen. Er dachte daran, wie die Bettlaken nach ihr gerochen hatten, wie ihr Haar aufgefächert auf den dicken Kissen gelegen hatte. Er dachte …
»Hallo?«
»Hallo, Bree.« Auf einmal schnürte sich ihm die Kehle zu. »Ich bin’s. Hast du die Nachrichten gesehen?«
»Meinst du das Wetter? Hier kommt auch ganz schön was runter. Haben die Flüge Verspätung?«
»Sie sind annulliert.«
»Alle?«
»Ja.«
»Tja.« Mehr sagte sie nicht. Er wusste, dass sie wegen ihres Kindes enttäuscht war, aber sie hatte nicht die schauspielerischen Fähigkeiten, den kleinen Anflug von Erleichterung zu unterdrücken – oder es war ihr einfach egal. Ihnen beiden war klar gewesen, dass es ein schwieriges Wochenende werden würde.
»Hör mal.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Der alte Ärger kam wieder hoch, ihm wurde beinahe übel. »Ich nehme einen Leihwagen und fahre rüber. Wahrscheinlich bin ich die ganze Nacht unterwegs, aber wenigstens bin ich dann am Morgen da.«
»Bist du sicher? Bei diesem schrecklichen Wetter, Todd?«
Das ist dir doch sowieso egal, hätte er beinahe gesagt. Er konnte sich gerade noch beherrschen.
»Wenn ich Weihnachten nicht auf dem O’Hare verbringen will, ist das die einzige Möglichkeit. Außerdem will ich Justin sehen.«
»Tja«, sagte sie. »Er will dich auch sehen.«
»Ist er da? Kann ich mit ihm sprechen?«
»Er sieht gerade eine Weihnachtssendung im Fernsehen.«
»Kannst du ihn mir nicht geben, Bree?«
Sie atmete gereizt aus. »Warte«, sagte sie und legte den Hörer weg. Undeutlich konnte er hören, wie sie Justin rief, während im Hintergrund der Fernseher dröhnte. Brianna meldete sich wieder. »Er kommt.«
»Danke, Bree.«
»Versprich ihm nur nichts, was du nicht halten kannst, Todd.«
Da haben wir’s, dachte Todd. Die alte Bree wirft mir den Weltuntergang vor. Als ob der Schneesturm meine Schuld wäre. Leck mich doch, Brianna.
Aber das war nicht ganz fair. Er hatte in ihrer Ehe genügend Mist gebaut und sich diese Behandlung redlich verdient.
»Daddy!«, ertönte Justins Kinderstimme im Handy. Die Fröhlichkeit des kleinen Jungen fuhr ihm wie ein Pfeil mitten ins Herz. Die Knie wurden ihm weich.
»Hallo, mein Freund.«
»Es schneit!«
»Hier auch. Hübsch, was?«
»Können wir einen Schneemann bauen, wenn du kommst?«
»Wir können eine ganze Armee bauen.« Seine Stimme bebte.
»Sitzt du schon im Flugzeug?«
»Noch nicht, Kumpel.«
»Ich war mit Mami im Einkaufszentrum, und da haben wir dir ein Weihnachtsgeschenk gekauft.«
»Ehrlich?«
»Aber ich darf dir nicht verraten, was es ist. Mami sagt, dann wäre es keine Überraschung mehr.«
»Tja«, stimmte er zu, »damit hat sie wohl Recht.«
»Wann kommst du denn, Daddy?«
Er schloss die Augen und strich sich mit zwei Fingern über die Lider. »Morgen früh bin ich da, mein Junge. Wenn du aufwachst, bin ich da.«
»Gut«, sagte sein Sohn. »Ich vermisse dich.«
»Ich vermisse dich auch Justin. Und ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch, Dad!«
»Gib mir noch einmal deine Mom.«
»Tschüss!«
Brianna meldete sich wieder. »Er redet seit Wochen über nichts anderes. Wir hätten es ihm nicht vorher sagen sollen. Du hättest einfach kommen und ihn überraschen sollen. Dadurch … «
Er fiel ihr ins Wort, weil er genau wusste, worauf sie hinauswollte. »Ich werde ihn nicht enttäuschen, Brianna. Ich werde da sein, das verspreche ich dir.«
Wieder das genervte Seufzen. »Ich hab’s dir schon hundertmal gesagt, Todd, versprich nichts, was du nicht halten kannst.« Und bevor er etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: »Fahr vorsichtig. Mach’s gut.« Sie legte auf.
Er starrte das blinkende Handy an: GESPRÄCH BEENDET. Die Hand, mit der er es hielt, zitterte.
»Der Nächste«, sagte der Angestellte hinter der Theke des Autoverleihs. Kate hatte ihre Papiere und ihre kleine Bordtasche mitgenommen und war an der Theke ein Stück weiter gerutscht.
»Hallo«, sagte er. »Ich brauche ein Auto, mit dem ich nach Des Moines komme.«
Der Angestellte – ein dunkelhäutiger junger Mann mit zahllosen Pickeln im Gesicht – nagte an der Unterlippe. »Tut mir leid, Sir, wir haben nur noch Kleinwagen, und die sind alle nicht … «
»Haben Sie keinen Wagen mit Vierradantrieb? Einen Jeep oder etwas in der Art?«
»Es tut mir wirklich leid, Sir, wir haben gerade unser letztes Fahrzeug mit Vierradantrieb vermietet. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die Fahrt nach Iowa bei diesem Wetter … «
»Was ist mit Schneeketten? Sie können doch Schneeketten aufziehen.«
»Wir haben leider keine Schneeketten, Sir. Das Wetter ist wirklich sehr schlecht, und wir … «
Er hatte immer noch die Stimme seines Sohnes in den Ohren. »Ich brauche keinen Vortrag über das Wetter, sondern ein Auto.«
»Wie ich schon sagte, Sir … «
»Todd.« Kate Jansen hielt ihren Mietvertrag hoch. »Mit einem normalen Auto kommen Sie sowieso nicht an. Fahren Sie mit mir.«
Die Augen des Angestellten waren so groß wie Fußbälle. Er hat Angst, dass ich ihn schlage, dachte Todd. Irgendwie verschaffte ihm dieser Gedanke sogar eine gewisse Genugtuung.
»Trotzdem vielen Dank«, sagte er zu dem Angestellten.
»Ein Cherokee mit Vierradantrieb«, verkündete sie, als er zu ihr kam, und gab ihm den Vertrag. »Wir müssen sowieso in die gleiche Richtung, und um ehrlich zu sein, ich war nicht begeistert von der Vorstellung, bei diesem Wetter den ganzen Weg allein zu fahren. Sie würden mir sogar einen Gefallen tun. Ich fahre wie Stevie Wonder.«
»Na gut, aber ich bestehe darauf, die Hälfte zu bezahlen.«
»Klar, ich will Ihnen ja nicht den letzten Stolz rauben.«
»Abgemacht.« Er blickte den Gang hinunter zu den Gates und der Gepäckausgabe und betrachtete die links und rechts aufgereihten Geschäfte. »Ich besorge noch ein paar Vorräte – Wasser, etwas zu essen, eine Taschenlampe. Bin gleich wieder da.«
»Jesus«, antwortete sie, »glauben Sie wirklich, dass wir das alles brauchen?«
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich gehe lieber auf Nummer sicher. Brauchen Sie noch etwas Bestimmtes?«
»Bücher.«
»Bücher?«
»He«, sagte sie, »wenn wir schon ein paar Tage in der Pampa festsitzen, dann brauche ich einen Zeitvertreib.«
»In Ordnung.« Er gab ihr den Mietvertrag zurück. »Und vielen Dank. Sie haben mir den Arsch gerettet.«
»Betrachten Sie’s als Gegenleistung für den Drink.«
Er kaufte Mineralwasser, Schokoriegel und Chips, eine Straßenkarte, eine Taschenlampe und Batterien, Aspirin, zwei Paar Handschuhe und zwei gestrickte Schals mit dem Abzeichen der Chicago Bears. Außerdem nahm er zwei Taschenbücher für Kate mit. Schließlich fiel ihm ein, dass sein Gepäck – und die Geschenke für Justin – unerreichbar im Flugzeug waren. Deshalb suchte er den größten Teddy aus, den er finden konnte. Er war ungefähr so groß wie ein Kleinkind. Als Letztes erstand er noch eine Segeltuchtasche, um seine Einkäufe zu transportieren, und klemmte sich den Teddy unter den Arm. Die Frau an der Kasse sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
Am Autoverleih erwartete Kate ihn mit zwei dampfenden Bechern Starbucks-Kaffee.
»Schöner Bär.«
»Sie sind meine Retterin.« Er trank einen Schluck. Die heiße Flüssigkeit verbrannte ihm fast die Kehle, aber das war ihm egal.
»Dies sind Fred und Nan Wilkinson«, sagte Kate. Sie trat zur Seite, damit er das grauhaarige Paar begrüßen konnte. Die beiden waren Ende sechzig und trugen dicke Mäntel, ihr Gepäck bestand aus zueinander passenden Bordkoffern. Der Mann war anscheinend noch recht gut in Form, und die Frau hatte einen Anflug ihrer Jugend bewahrt. Sie schienen sich über die Begegnung sehr zu freuen.
Todd nickte. »Hallo.«
»Sie fahren mit uns«, erklärte Kate.