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Das Buch

Ingo Zamperoni zeichnet ein präzises Bild der Stimmungslage in den USA. Er trifft leidenschaftlich engagierte Oppositionelle, begegnet Einwanderern, die sich durch die neue Regierung bedroht fühlen, und fragt Grenzbewohner nach Sinn und Unsinn eines Mauerbaus. Er spricht mit glühenden Trump-Anhängern, die keineswegs enttäuscht sind von einem Präsidenten, der alle Konventionen über Bord wirft, und ihre Hoffnung, Amerika werde »great again«, jedenfalls noch nicht enttäuscht hat. Aber wie konnte es passieren, dass die etablierten Politiker einen Gutteil der amerikanischen Wähler offenbar völlig aus den Augen verloren haben? Wie stabil kann dieses urdemokratische Gemeinwesen unter Trump bleiben? Wie schnell verschwinden Toleranz und Anstand aus einer Gesellschaft, wenn das Handeln des Präsidenten regelmäßig nicht diesen Werten entspricht? Wie vereinigt sind die Staaten noch? Der langjährige USA-Beobachter Ingo Zamperoni beschreibt in seinem neuen Buch mit vielen persönlichen Einblicken ein Amerika, das ihm zunehmend fremder erscheint. Und zieht Parallelen zur jüngsten Entwicklung in Deutschland.

Der Autor

Ingo Zamperoni, geboren 1974, studierte Amerikanistik, Geschichte und Jura. Ein Fulbright-Stipendium führte ihn zum Auslandsstudium nach Boston. Nach dem Master arbeitete er unter anderem in Washington und als Inlandskorrespondent für die ARD, später moderierte er das Nachtmagazin. Von 2014 bis 2016 berichtete er aus den USA als ARD-Auslandskorrespondent, seit Herbst 2016 moderiert er im Ersten die Tagesthemen. Er lebt mit seiner amerikanischen Frau und den drei Kindern in Hamburg. Sein Buch Fremdes Land Amerika wurde ein Bestseller.

INGO ZAMPERONI

ANDERLAND

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Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1724-3

© 2018 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Lektorat: Jan Martin Ogiermann
Umschlaggestaltung: BÜRO JORGE SCHMIDT, München
Umschlagabbildungen: © Carolin Saage (Porträt),
© RiverNorthPhotography /Getty Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für AHL

»Nicht immer werden aufgeklärte Staatsmänner am Ruder sein.«

James Madison, Vierter Präsident der Vereinigten Staaten, Architekt des Systems der Checks and Balances und Verfasser der Bill of Rights

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Motto

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Prolog

1 Der Schock

2 Der Sumpf

3 Anderland

4 Alternative Fakten

5 Die Mauer

6 Der Widerstand

7 Die Aussicht

Epilog

Dank

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

»I don’t fucking believe it.« In ihrer Stimme schwingt neben einer Mischung aus Unglauben, Empörung und Ärger vor allem eins mit: Panik. Ich glaub es einfach nicht! Was zum Teufel passiert hier gerade? Es ist dieselbe Frage, die auch ich mir gerade stelle. Und ich habe keine Antwort.

Meine Frau war teils aus beruflichen, teils aus persönlichen Gründen eigens nach New York gereist, damit sie den historischen Moment live miterleben konnte. Der spektakuläre Rahmen: das Javits Center direkt in Midtown Manhattan am Ufer des Hudson, mit Blick auf die legendäre Skyline von New York City. In die imposante Glas- und Stahlkonstruktion hatte Hillary Clinton zu ihrer Wahlparty geladen, um vor Tausenden von Mitstreitern, Anhängern und Journalisten aus aller Welt den erwarteten Wahlsieg zu feiern. Der Ort mit all den transparenten Wänden und Decken war bewusst gewählt, die Anspielung nicht zu übersehen: Clinton würde heute Abend die sprichwörtliche gläserne Decke durchbrechen und die erste Frau in diesem mächtigsten Amt der Welt werden – der ultimative Höhepunkt ihrer so wechselvollen Karriere. Nach diesem epochal neuen Kapitel in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika hatte es den ganzen Wahltag über noch ausgesehen, die Umfragen hatten bis zuletzt einen Clinton-Sieg vorausgesagt. Die Stimmung in der Menge war entsprechend zuversichtlich, Katy Perry hatte gesungen, die Leute hatten getanzt.

»Das glaube ich verdammt noch mal nicht«, sagt meine Frau nun mit bebender Stimme ins Telefon und wiederholt ihre Frage: »Wie ist das möglich?« Sie hatte gerade noch eine Runde durch die Menge im Javits Center gedreht und plötzlich gespürt, dass etwas nicht stimmt, hatte gemerkt, dass die greifbare Zuversicht in nervöses Unbehagen und Verunsicherung kippt, als auf der gigantischen Leinwand das erstrahlt, was auch ich knapp vierhundert Kilometer weiter südlich im ARD-Studio Washington, erst einmal erfassen muss: Donald Trump hat soeben Ohio gewonnen. Ohio! Der klassischste aller swing states, weil er in seiner Durchschnittlichkeit eine Art Mikrokosmos der USA darstellt. Seit 1964 hat Ohio immer für den späteren Wahlsieger gestimmt. Obwohl Trump dort in Umfragen vorne lag, hatte sich das Clinton-Lager in diesem Staat etwas ausgerechnet.

Es ist der Abend des 8. November 2016, kurz vor 22 Uhr 30 Ostküstenzeit. Vor knapp viereinhalb Stunden haben die ersten Wahllokale geschlossen. Und zunächst ist alles wie erwartet verlaufen. Clinton hat einige der sogenannten blue states – sichere Lager für die Demokraten – gewonnen: Vermont, Massachusetts, New York. Trump hat eisern republikanische red states geholt: Texas, South Carolina, Kentucky. Doch entscheidende Staaten wie Florida bleiben nervenaufreibend lange too close to call – dort laufen Kopf-an-Kopf-Rennen, denn noch sind nicht alle Wahlkreise ausgezählt. In den drei wichtigen Staaten von Hillary Clintons sogenannter fire wall – Pennsylvania, Wisconsin und Michigan – war für einen früheren Zeitpunkt mit Klarheit gerechnet worden. Sie hatte dort in den Umfragen stets äußerst komfortabel vorne gelegen – so komfortabel, dass sie in der Endphase des Wahlkampfs im seit Jahren demokratisch wählenden Wisconsin kaum noch Geld für Wahlwerbespots ausgegeben hatte und dort auch nicht mehr aufgetreten war.

Doch die »Brandmauer« droht zu bröckeln. Mit jeder Minute, die verstreicht, pocht von tief unten ein dumpfes Gefühl herauf, erst verschwommen, dann immer heftiger und nicht mehr unterdrückbar: Er könnte gewinnen.

Er. Könnte. Tatsächlich. Gewinnen.

Unfassbar. Und jetzt also steht fest: Trump hat mit Ohio eine Herzkammer des rust belt, des Industriegürtels im Mittleren Westen der USA, eingenommen. Ein Omen?

»Naja, sieh es mal so«, versuche ich meine Frau zu beruhigen, »solange er nicht auch Pennsylvania und die anderen wichtigen Staaten im Mittleren Westen gewinnt, müsste es trotzdem reichen.«

»Aber er liegt dort überall vorne …«

»Schon, aber die ländlichen, dünn besiedelten Wahlkreise zählen immer schneller aus, und natürlich liegt Trump daher jetzt ein paar Prozentpunkte in Führung. Warte mal ab, bis etwa in Pennsylvania die liberaleren, jüngeren Wahlkreise in den Städten dazukommen … Pittsburgh, Philadelphia. Dann sieht das schon ganz anders aus.«

»Ich weiß nicht. Hier ist gerade völlig die Luft raus …«

Mit einem Knoten im Magen legen wir auf. Ich starre wieder gebannt auf den Fernseher.

Dabei hatte der Tag so unverfänglich begonnen. Es ist einer jener goldenen Spätherbsttage, die typisch für die amerikanische Ostküste sind, mit zwar frischen Temperaturen, aber strahlend blauem Himmel. Wir waren frühmorgens noch vor der Schule zusammen mit den Kindern wählen gegangen. Meine Frau gab ihre Stimme im Gemeindesaal einer alten Kirche ab, die mit einem großen Plakat im Vorgarten damit wirbt, dass sonntags eine Rockband die Messe begleitet. Der in den USA stets an einem Dienstag mitten in der Woche liegende Wahltermin ist sehr unpraktisch für die arbeitende Bevölkerung und eine der vielen anachronistischen Traditionen aus den Anfängen dieses Landes, an denen die Amerikaner unbeirrbar festhalten – ein Erbe der Puritaner: Sonntag ist der Tag des Herrn, also tabu, Montag war im landwirtschaftlichen Amerika des 18. und 19. Jahrhunderts Anreisetag zu den Wahllokalen in den entfernten Kreisstädten. Also Dienstag, und zwar immer der nach dem ersten Montag im November.

Die Kinder hatten gespürt, dass es ein besonderer Tag war. Washington ist logischerweise ohnehin eine sehr politisierte Stadt; und dem gigantischen Zirkus, den so ein fast zweijähriger Präsidentschaftswahlkampf bietet, konnten auch sie sich nicht entziehen. Besonders die zahlreichen Vorwahlen, in denen fast jede Woche ein anderer Staat über die jeweiligen Kandidaten der Parteien abstimmte, hatten sie fasziniert. Sie sahen es wie einen sportlichen Wettkampf, wie Olympische Spiele, mit den Kandidaten als Athleten. »Wer hat diesmal gewonnen?«, fragten sie morgens gleich als Erstes. Besonders meine ältere, damals achtjährige Tochter war Feuer und Flamme für die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin der USA. Sie mochte das T-Shirt, das ihre Mutter am Election Day trug, mit dem Aufdruck »Vote for the girl!« – »Gib dem Mädchen deine Stimme!«. Allein deshalb hätte meine Frau gerne Hillary Clinton als Präsidentin gesehen: als deutliches Signal für die nächste Generation starker amerikanischer Frauen. Meine Älteste durfte dann sogar den Wahlzettel in die Urne werfen und trug für den Rest des Tages stolz einen »I voted«-Aufkleber (»Ich habe gewählt«) auf dem Pullover.

Nachdem wir die Kinder in die Schule gebracht hatten, machte sich meine Frau auf den Weg nach New York zu besagter Wahlparty, während ich zu meiner Redaktion ins ARD-Studio fuhr. Zwei Wochen zuvor hatte ich in Hamburg meinen neuen Job als Moderator der Tagesthemen begonnen. Den Schlusspunkt dieses wohl verrücktesten, unwahrscheinlichsten und bizarrsten Wahlkampfs in der Geschichte der USA, den ich von Anfang an als Korrespondent begleitet hatte, musste ich aber zum Glück nicht aus der Ferne beobachten, denn wir hatten die gesamte Sendung nach Washington verlagert.

An diesem sonnigen Dienstag senden wir also um 16 Uhr 15 Ortszeit – 22 Uhr 15 deutscher Zeit – die gesamte halbe Stunde Tagesthemen live vom Dach eines Bürogebäudes gegenüber dem Weißen Haus – vor spektakulärer Kulisse und mit ungestörtem Blick auf das Zentrum der Macht.

Direkt neben uns hat der Nachrichtensender CNN seine Kameras aufgebaut, und die Kollegen machen jetzt das, was kaum jemand so gut beherrscht wie amerikanische Fernsehjournalisten: Sendezeit füllen. Als ich zwischen zwei Ablaufproben mit dem Aufzug vom Dach hinunter ins Foyer des Gebäudes fahre, steigt im letzten Augenblick der CNN-Anchorman Jake Tapper hinzu. Wir sind uns vor einigen Monaten schon einmal über den Weg gelaufen – beim Abholen unserer Kinder. Meine jüngere Tochter ging in dieselbe Kita wie sein Sohn. Ich begrüße ihn, und in typisch amerikanischer Profimanier grüßt er sofort zurück: »Ach ja, na klar. Wie geht’s denn so?« Unheimlich höflich, aber es ist offensichtlich, dass er sich nicht die Spur an mich erinnert. Wofür ich vollstes Verständnis habe. Unsere Begegnung war sehr flüchtig, und vor allem: Wir alle haben heute den Kopf wahrlich voll mit anderen Dingen.

»Und, Jake, was meinst du?«

»Tjaaa …« Ein vielsagender Blick. »Das wird interessant. Wir werden sehen.«

Und wie wir sehen sollten.

In den Tagesthemen schalten wir zu meinem Kollegen Stefan Niemann, der sich ebenfalls nach New York ins Javits Center aufgemacht hat. Man sei dort durchaus angespannt, aber letztlich guter Dinge, sagt er, man bereite sich auf eine rauschende Party vor. Das ist am Nachmittag vor Schließung der Wahllokale. Über das Endergebnis würden wir erst in der Sendung am nächsten Tag berichten können.

Im ARD-Studio bereiten wir diese Nachwahlsendung bereits vor. Wir versuchen dabei zwar, alle Eventualitäten abzudecken, aber ehrlich gesagt ist der Ablauf mit den geplanten Beiträgen, Schalten und Expertengesprächen auf einen Clinton-Sieg ausgerichtet. Daran ändert sich zunächst auch nichts, als über die Fernseher erste Ergebnisse einlaufen.

Auch jetzt nicht, nach Ohio. Ich schaue in die Runde der angereisten Kollegen aus Hamburg und erzähle mit Blick auf die restlichen Staaten dasselbe, was ich schon meiner Frau erzählt hatte. Doch dann, keine Stunde nach Ohio, breaking news: Trump holt Florida! Und jetzt zeichnet sich sein Weg zu den erforderlichen 270 Wahlmännerstimmen sehr viel klarer ab als der von Hillary Clinton.

Ungläubige Blicke überall im Studio. Die verantwortliche Redakteurin für die morgige Sendung, Bettina Winter, reagiert pragmatisch: »Ich schätze, wir müssen umdenken und ganz andere Stücke bestellen.« Die übrigen Redakteure ahnen zu diesem Zeitpunkt schon, dass sie recht behalten wird. Trotzdem tun sich alle schwer damit, das zu akzeptieren. Wir basteln einen alternativen Sendeablauf, schauen noch ein wenig den TV-Kommentatoren zu, die größtenteils selbst nicht zu fassen scheinen, was da gerade geschieht. Dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Morgen wird ein langer Tag.

Auf dem Heimweg lasse ich bewusst das Radio aus, um kurz innerlich abzuschalten. Als ich nach Mitternacht die Haustür aufschließe, läuft natürlich der Fernseher. Die Babysitterin ruft mir zu, Trump liege jetzt in Pennsylvania ziemlich deutlich vorne. Beim Verabschieden sagt auch sie das Wort, das ich an diesem Abend wohl am häufigsten höre: »unbelievable« – »unglaublich«.

Natürlich kann ich nicht schlafen und sitze hellwach vor dem Bildschirm. Kurz vor halb zwei ist es so weit: Pennsylvania geht tatsächlich ebenfalls an Trump. In Deutschland wachen die Menschen gerade in dieser neuen Realität auf. Als eine halbe Stunde später Hillary Clintons Wahlkampfmanager John Podesta vor die verunsicherte Menge im Javits Center tritt, um die Party abzublasen und alle nach Hause zu schicken, gesteht er damit die Niederlage ein. Ich erreiche meine Frau nicht, kann mir aber vorstellen, wie ihr gerade zumute ist.

Gegen 2 Uhr 45 tritt Trump im New Yorker Hilton Midtown Hotel vor die siegestrunkene, euphorische Menge. President-elect Donald Trump. President Donald J. Trump. Er winkt seinen Anhängern zu. »Sorry to keep you waiting. Complicated business.« – »Tut mir leid, dass ich euch warten ließ. Komplizierte Sache.«

In der Tat. Wie, bitte schön, erkläre ich das morgen den Kindern?