Der Junge aus der Kolonie
Vom Tellerwäscher zum Millionär – Frank Stronach glaubt fest an den amerikanischen Traum. Kein Wunder: Er hat ihn selbst durchlebt. Heute ist er Milliardär, einer der reichsten Österreicher, war lange Zeit einer der mächtigsten Unternehmer Kanadas und Österreichs und pflegte in den vergangenen Jahrzehnten glänzende Kontakte in die Politik auf zwei Kontinenten. Zur Welt kam er aber am 6. September 1932 als Franz Strohsack unter ärmlichsten Verhältnissen in der Barackensiedlung Kleinsemmering. Diese lag in der Nähe der kleinen oststeirischen Bezirks- und Industriestadt Weiz und hieß damals im Volksmund nur die »Kolonie«. Es war eine harte Zeit, in der Stronach geboren wurde: Der Schwarze Freitag, der 25. Oktober 1929, und mit ihm der Beginn der bislang schlimmsten Krise der Weltwirtschaft, lag noch nicht einmal drei Jahre zurück. Die Krise hatte im Februar 1932, ein halbes Jahr vor Stronachs Geburt, in Österreich ihren Höhepunkt erreicht: Bei sechs Millionen Einwohnern gab es 557 000 Arbeitslose – 45 Prozent aller Arbeitnehmer in der Industrie waren ohne Beschäftigung. Kleinsemmering war Ausdruck dieser Krise: Die »Kolonie« war als Werkssiedlung der Steirischen Kohlebergwerks AG gegründet worden. Bis zu 250 Arbeiter waren hier beschäftigt gewesen und hatten mit ihren Familien direkt am Arbeitsplatz gelebt. Die Kohlegrube wurde in der Krise zugesperrt, die Arbeiter aber blieben – in Not und Elend.
Je härter die Krise die Bevölkerung traf, desto mehr gewannen die Parteien am äußersten linken und rechten Rand des politischen Spektrums an Einfluss. Sie hatten einfache Erklärungen und Rezepte für Wege aus der Krise. Für die einen war das Kapital, die Macht der Reichen, der Quell allen Übels. Für die anderen waren es die Juden, die sich gegen den Rest der Welt verschworen hätten. Ab 1934 regierte in Österreich eine faschistische Regierung, die trotz ihrer rechtsextremen Ausrichtung mit den Nationalsozialisten im benachbarten Deutschland zutiefst verfeindet war und ihre Macht vor allem auf die Kirche und das faschistische System in Italien baute.
Auch in der »Kolonie« war das Leben hart: Hier lebten arme österreichische Arbeiter gemeinsam mit Zuwanderern – den Begriff »Gastarbeiter« gab es damals noch nicht – aus Italien und den ehemaligen Kronländern Ungarn und Kroatien. Das Leben spielte sich wie heute in den Slums der Dritte-Welt-Metropolen vor allem auf der Straße ab. Schließlich traten die Bewohner einander in den kleinen Baracken nicht nur im übertragenen Sinn auf die Zehen. Zum Los der Geburt im Elendsviertel kam auch, dass Stronach ein lediges Kind war – zumindest offiziell: Mutter Liesl Strohsack war erst ein Jahr vor seiner Geburt aus Arnoldstein in Kärnten als Fabrikarbeiterin in die »Kolonie« eingewandert. Hier hatte sie den Steirer Anton »Toni« Adelmann kennen und lieben gelernt. Offiziell war Stronachs Vater unbekannt. Jeder in der »Kolonie« wusste aber, dass es Toni Adelmann war, ein Fabrikarbeiter und »ein aktiver, aber auch ein wenig verträumter Kommunist«, wie Stronach später einmal sagen sollte. Die Mutter hatte mit Politik wenig am Hut. Von ihr habe er die Wertschätzung für harte Arbeit und das unternehmerische Denken gelernt, so der Milliardär. Für Liesl Strohsack ging es in diesen Jahren in der »Kolonie« aber weniger um wirtschaftliches Denken im langfristigen Sinn, als schlicht darum, ihrer Familie täglich Essen auf den Tisch zu bringen. Die Familie, das waren, wie Norbert Mappes-Niediek in seiner Stronach-Biografie schreibt, neben Stronach seine um zwei Jahre ältere Schwester Lisi, die die Mutter aus Kärnten mitgebracht hatte, und die um elf Jahre ältere Cousine Resi. Diese musste bald ihren Teil zum Einkommen beitragen und nahm sich noch im jugendlichen Alter aus Verzweiflung über die widrigen Lebensumstände das Leben.
Die katastrophalen sozialen Verhältnisse, mit denen Stronach in seinen ersten Jahren konfrontiert war, besserten sich auch nicht wesentlich, als es ab 1937 mit der Wirtschaft in Österreich langsam wieder bergauf ging. Erst nach dem Anschluss des Landes an Hitler-Deutschland im März 1938 bekam auch Kleinsemmering seinen kleinen Teil vom Wachstum ab. Die Region wurde nämlich zu einem von drei Notstandsgebieten des neuen Reichsgaues Steiermark erklärt und damit besonders gefördert. Als Kommunist hatte der Vater schon ab 1934 in der austrofaschistischen Diktatur ein schwieriges Leben gehabt. Unter Hitler wurde es noch schwieriger. Davon bekam der spätere Milliardär aber nur mehr wenig mit: Seine Eltern hatten sich 1937 getrennt, als er fünf Jahre alt gewesen war, und heirateten später jeweils andere Partner, auch wenn sie weiterhin Kontakt hielten. Mappes-Niediek beschreibt Toni Adelmann als »stillen, bescheidenen Bastler«, der schon vor dem Anschluss wegen seiner politischen Einstellung einige Male festgenommen worden war. Im Krieg wurde er an die Ostfront abkommandiert und dort wegen verbotener Kontakte zur russischen Seite zum Tode verurteilt. Er konnte aber fliehen und kehrte nach dem Zusammenbruch in die Ostmark zurück, die nun wieder Österreich hieß. »Ich glaube, er war ein tapferer Mann«, sagte Stronach später über seinen Vater. Toni Adelmann starb 1968 im Alter von 63 Jahren. Zuvor war er mit seiner neuen Frau einmal bei seinem Sohn in Kanada gewesen. Liesl Strohsack überlebte ihren Ex-Lebensgefährten um ein Jahr – sie wurde nur 60 Jahre alt.
Zurück aber in die ersten Jahre Stronachs. Der Nationalsozialismus war in Österreich von 1934 bis 1938 zwar verboten, lockte aber dennoch die Massen an. Es gab regelmäßig Zusammenstöße und Scharmützel zwischen der Staatsmacht und den Anhängern der verbotenen Parteien: den Nazis, Sozis und »Kummerln« (Kommunisten). Der spätere Magna-Milliardär verbrachte seine ersten Jahre also nicht nur in einer ärmlichen, sondern auch in einer durch und durch politisierten und zudem noch gewalttätigen Gesellschaft. Es mag sein, dass diese frühesten Erfahrungen mit ein Grund dafür sind, dass der Industrielle später seine Fühler in alle politischen Richtungen ausstreckte.
Trotz der Armut, die Stronach erlebte, hatten es die Weizer in der harten Zeit der Weltwirtschaftkrise noch relativ gut erwischt: In ihrer kleinen Stadt, die damals gerade 4300 Einwohner zählte, gab es zumindest eine Fabrik, die Arbeit bot und dafür auch zahlen konnte. 1892 hatte der aus Weiz stammende Ingenieur und Erfinder Franz Pichler (1866–1919) in der Stadt eine Werkstätte gegründet, in der er Dynamos erzeugte. Seit 1908 sind seine F. Pichler Werke als Elin AG für elektrische Energie ein Teil der österreichischen Wirtschaftsgeschichte, der heute zum großen Siemens-Konzern gehört. Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland wurde Elin zunächst arisiert und dann mit der Schorch-Werke AG im Rheinland verschmolzen. Im Krieg entstanden in Weiz unter anderem Elektromotoren für die U-Boot-Flotte und Scheinwerfer. 1944, nach der Ausrufung des »totalen Krieges«, lieferte Elin als kriegswichtiger Betrieb die Hälfte seiner gesamten Produktion direkt an die Kriegsmarine und das Heer.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wurde das Werk als deutsches Eigentum eingestuft und damit zum Freiwild für die Sieger aus dem Osten: Die Sowjets bauten 1945 fast alle der 150 Maschinen ab und transportierten sie nach Russland – als Teil der Entschädigung für die Zerstörung, die Hitler über ihr Land gebracht hatte. Nach drei Monaten russischer Besatzung übernahmen die Briten die Steiermark. Sie übergaben die leer geräumte Elin-Fabrik, die nun wieder als eigenständiges Unternehmen geführt wurde, der jungen österreichischen Republik, die sie 1946 verstaatlichte. Aus dem Nichts begann der damalige Werksleiter Karl Widdmann (1901–1982), der schon 1927 als Berechnungsingenieur in den Betrieb eingetreten war, wieder eine bescheidene Produktion aufzubauen. Für seine Leistung im Wiederaufbau benannten noch zu seinen Lebzeiten die Weizer eine Straße nach ihm – eine überaus seltene Ehre.
Als erste Maschine ließ der neue Chef unter primitivsten Verhältnissen Tabakschneider erzeugen. Das klingt heute skurril, damals fanden die Maschinen aber reißenden Absatz. Findige Bauern hatten nämlich nach Kriegsende begonnen, in der Steiermark Tabak anzubauen, der in der Nachkriegszeit neben Kaffee als inoffizielle Währung gehandelt wurde. Aus der Not wurde später ein Geschäft: Die Anbaufläche für Tabak stieg in Österreich von 76 Hektar im Jahr 1946 auf 547 Hektar im Jahr 1955, der Ertrag von 108 auf 729 Tonnen. Für viele Kleinbauern blieb der Absatz, der durch das Monopol der staatlichen Tabakwerke gesichert war, über Jahre ein willkommenes Zusatzeinkommen. Zwei der rund 400 Elin-Arbeiter, die in diesen harten Monaten nach dem Krieg anpackten, waren der neue Mann von Liesl Strohsack und damit Stronachs Stiefvater Karl Stelzer und sein leiblicher Vater Toni Adelmann, der als Vertrauensmann der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) auch im Betriebsrat saß.
Bei diesen Voraussetzungen war es kein Wunder, dass Stronach nach der Hauptschule, in der er seine ersten paar Brocken Englisch gelernt hatte, 1946 im Alter von 14 Jahren im Weizer Elin-Werk eine Lehre als Werkzeugmacher beginnen konnte. Das war schon ein kleiner sozialer Aufstieg für den Jungen – schließlich waren Vater und Stiefvater nur angelernte Dreher. Auch nach dem Krieg war die Zeit hart: In der Steiermark gab es eine strenge Lebensmittel-Rationierung – die Metzgereien verkauften nur an Samstagen Fleisch, in den Wirtshäusern durften Braten und Schnitzel nur am Sonntag auf der Speisekarte stehen. Stronach lernte bei Elin viel und wurde als fleißig geschätzt. Seine Freizeit verbrachte er auf dem Fußballplatz und mit seinem Jugendfreund Peter Zachenhofer. Mit ihm klaute er angeblich einmal russischen Besatzungssoldaten ein Gewehr und fischte mit Handgraten, die aus dem Krieg übrig geblieben waren, einen Fischteich leer. Der spätere Industrielle war ein wilder, aber anständiger und zielstrebiger Bursch. Und niemand wagte es, ihn wegen seines komischen Nachnamens zu hänseln. Denn darauf reagierte der drahtige und kräftige junge Mann ungemein empfindlich.
Kurzer Aufenthalt in der Schweiz
Am Ende seiner Lehrzeit erlebte der junge Stronach den Beginn dessen, was später als Wirtschaftswunder in die Geschichtsbücher eingehen sollte: Die Menschen arbeiteten hart und hatten zum ersten Mal auch die reale Aussicht auf bescheidenen Wohlstand. Der Kauf eines Mopeds oder eines Volkswagens – im Mai 1949 waren die ersten 14 »Käfer« in Österreich ausgeliefert worden – war für den Lehrling und späteren jungen Gesellen als Lebensziel aber zu wenig. Er wollte mehr und vor allem einmal etwas anderes sehen als die heimische Oststeiermark. 1952 ging der damals 19-Jährige daher wie so viele Österreicher in die Schweiz, die damals in der Alpenrepublik für viele fast so etwas wie das Gelobte Land war. Dorthin waren in den Jahren von 1945 bis 1946 insgesamt 137 000 Kinder aus dem zerstörten Österreich und 44 000 aus dem ausgebombten Deutschland geschickt worden. Viele waren Kriegswaisen, krank und unterernährt. Damals gab es im heute so reichen Deutschland und Österreich echten Hunger. Tausende der damaligen »Schweizer Kinder« hätten ohne die Hilfe der freiwilligen Gastfamilien die unmittelbare Nachtkriegszeit nicht überlebt. Auch viele junge Handwerker gingen in dieser Zeit in die Schweiz, weil es dort deutlich mehr zu verdienen gab als zu Hause. Ein zynischer Treppenwitz der Geschichte: Jene Österreicher, die sich im reichen benachbarten Ausland als Gastarbeiter verdingten und dort nicht immer gerne gesehen wurden, schimpften nur wenige Jahre später über die ersten Italiener und Jugoslawen, die mit dem Fortschreiten des Wirtschaftswunders nun von Österreich als Gastarbeiter angeworben wurden.
Stronach arbeitete in einer Fabrik in Bern als Maschinist. Bei den Eidgenossen hielt es der junge, aufstrebende Handwerker aber nicht lange aus. Nach nicht einmal einem Jahr kam er 1953 wieder zurück in die Steiermark – der Grund für diese schnelle Rückkehr ist bis heute nicht klar. Zurück in der Heimat wollte der junge Geselle eigentlich in Graz bei Steyr-Daimler-Puch arbeiten. Der damals ebenfalls staatliche Fahrzeug- und Rüstungskonzern galt als ein Zugpferd der österreichischen Industrie. Allerdings wurde es nichts mit dem Job – über die Gründe dafür schweigt sich Stronach bis heute aus. Stattdessen ging er als Werkzeugschlosser in das heimatliche Weiz zurück und heuerte bei der Firma Mosdorfer an, einem bereits im Jahr 1712 gegründeten und noch heute existierenden metallverarbeitenden Betrieb. Der berufliche Ausflug in die Schweiz war zwar kurz gewesen, hatte sich aber ausgezahlt: Als Stronach zurück in die Steiermark kam, hatte er, wie Mappes-Niediek schreibt, einen Koffer voller moderner Werkzeuge und Messinstrumente dabei, die man hierzulande noch nie gesehen hatte – Technologie-Transfer auf oststeirisch also.
Die Heimat war dem jungen Mann aber längst zu eng geworden – er wollte sein Glück in Übersee machen: Also schrieb er an die Botschaften der USA, Kanadas, Südafrikas und Australiens und suchte jeweils um ein Arbeitsvisum an. Stronach hat bisher kaum öffentlich darüber gesprochen, warum es ihn in die Fremde zog. Auf Fragen nach seiner Jugendzeit reagiert er stets kurz angebunden und ablehnend. Der Zufall wollte es, dass ausgerechnet die Kanadier als Erste antworteten – nur dadurch wurde aus dem Steirer-Bua ein austrokanadischer Industrieller. 1954 packte Stronach gemeinsam mit Anton »Toni« Czapka, einem um vier Jahre älteren Freund und ehemaligen Arbeitskollegen in der Montage-Abteilung von Elin, erneut seine Reisetasche, um ins Ausland zu gehen. Dieses Mal sollte er nicht so bald wieder zurückkehren. Erst nach sieben Jahren kam der damals 28-Jährige zum ersten Mal zu einem kurzen Urlaub in die Steiermark zurück. Vor der Abfahrt in das neue Leben hatte er noch seine gesamten Ersparnisse in die Währung seiner neuen Heimat gewechselt: Für etwas mehr als 2000 Schilling – das waren in etwa eineinhalb durchschnittliche Monatseinkommen – erhielt er 200 Dollar, mit denen sich die steirischen Freunde in ihr neues Leben aufmachten. Wichtiger als das wenige Geld waren aber die Adressen von bereits ausgewanderten Landsleuten, die ihnen in Kanada auf die Sprünge helfen sollten.
Die Reise führte die beiden zuerst mit dem Zug nach Rotterdam, dem größten europäischen Hafen, und dann weiter mit einem holländischen Überseedampfer über den Atlantik. Weil die Burschen nicht genügend Geld für die Überfahrt hatten, mussten sie im Bauch des Schiffes Kohle in die Dampfmaschinen schaufeln. »Ich bin mit einem Pappendeckelkoffer in Kanada angekommen«, sagte Stronach im Rückblick. In der neuen Heimat trennten sich die Freunde vorerst. Stronach wollte sein Glück in Montreal versuchen, der größten und wichtigsten Stadt in Québec, der französischsprachigen Provinz Kanadas. Der Start in das neue Leben war für ihn allerdings schwieriger als erwartet. Anstelle von Montreal verschlug es ihn nach Kitchener, eine mittelgroße Stadt mit heute etwas mehr als 200 000 Einwohnern, die im südlichsten Zipfel Ontarios liegt und rund eine Autostunde von Toronto entfernt ist, der größten und wirtschaftlichen wichtigsten Stadt Kanadas. Die Region wird wegen ihres Wohlstandes auch als »Golden Horseshoe« (Goldenes Hufeisen) bezeichnet und erstreckt sich halbkreisförmig um das westliche Ende des Ontariosees bis zu den Niagarafällen.