Unheilvolle Jagd

SAJ - Special Agents of Justice 4

Alia Cruz

© 2016 Sieben Verlag, 64823 Groß-Umstadt
© Umschlaggestaltung Andrea Gunschera

ISBN Taschenbuch: 9783864436116
ISBN Ebook-mobi: 9783864436123
ISBN Ebook-epub: 9783864436130

www.sieben-verlag.de

1

Lance Del Monte fluchte.

Das war in letzter Zeit zu einer unangenehmen Angewohnheit geworden. Irgendwann, in einem anderen Leben, war er Arzt gewesen – genaugenommen Hirnchirurg. Daher wusste er, dass er sich die Schmerzen selbst zuzuschreiben hatte. Geduld wäre in seinem Fall die beste Medizin. Eine Auszeit, aber er hatte keine Zeit. Die SAJs brauchten ihn. Außerdem war es seine Schuld, dass sie in dieser Klemme steckten. Sich von einer Frau überlisten zu lassen. Er schüttelte den Kopf und hätte fast die grüne Phase der Ampel verpasst. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, saßen sie nicht nur wegen ihm in der Klemme. Sein ehemaliger Boss Corey Snyder hatte ihnen den ganzen Schlamassel eingebrockt. Lance konnte immer noch nicht glauben, dass Corey freiwillig von seinem Posten als Chef der Special Agents of Justice zurückgetreten war. Barrett Manor hatte jetzt das Sagen und das war im Grunde gut so. Corey war derzeit alles andere als objektiv. Was sicherlich daran lag, dass der ehemalige Chef der NSA – Dale Benson - Coreys Tochter hatte verschleppen lassen. Benson war tot, durch Coreys Hand gestorben. Um die verschleppte Tochter kümmerte sich Agent Can Smith. Lance hatte eine andere Aufgabe und die nahm er derzeit sehr persönlich. Während erneut eine rote Ampel ihn aufhielt, starrte er auf seine rechte Hand, die von einer hässlichen Narbe verziert wurde. Gut, dass er nicht mehr als Chirurg arbeitete, den Job hätte er jetzt eh an den Nagel hängen können. Zumindest konnte er noch den Abzug einer Feuerwaffe betätigen. Das war alles, was zählte. Er schloss ein paar Mal die Hand und öffnete sie wieder. Immer noch ziemlich steif, aber das würde sich geben. Er hatte großes Glück gehabt, dass dieses Miststück Zazouela so eine schmale Pfeilspitze benutzt hatte und die Nerven in seiner Hand nicht irreparabel geschädigt worden waren. Auch sein Oberschenkel war glimpflich davon gekommen. Die Wunde war gut verheilt, und er hinkte so gut wie gar nicht mehr. Ihm brach immer noch der Schweiß aus, wenn er daran dachte, wie er mit einem Pfeil in der Hand und einer Schusswunde in seinem Bein, den Reifen seines Wagens hatte wechseln müssen. Den hatte das Miststück – ein anderer Name kam für sie nicht in Frage – zu allem Überfluss zerschossen. Ohne Telefonverbindung in der Wüste von Las Vegas war ihm nichts anderes übrig geblieben, als Schmerzen und Ohnmacht zu ignorieren. Er hatte nur die Wunde in seinem Bein mit seinem Gürtel abgebunden und den Pfeil verkürzt um besser am Reifen arbeiten und fahren zu können. Den Pfeil zu entfernen hätte einen großen Blutverlust bedeutet. Irgendwie hatte er es nach Las Vegas in ein Krankenhaus geschafft. Bevor er die Ärzte an sich rangelassen hatte, konnte er noch Barrett informieren und so waren ihm die Fragen der Mitarbeiter und der Polizei erspart geblieben. Relativ schnell hatte man ihn nach Shreveport in die Krankenstation der SAJs gebracht. Barrett hatte gewollt, dass er sich erholte und wollte einen anderen Agenten abstellen, um die Legitimation zurückzuholen, aber das kam nicht in Frage. Wozu gab es Schmerzmittel? Und da das Miststück ihn ausgetrickst hatte, war es ab sofort eine persönliche Angelegenheit. Nicht mit ihm. Das würde sie schon noch merken.

*

Zazouela erlaubte sich, kurz die Augen zu schließen. Sie behauptete gern von sich, dass sie nie schliefe, aber jeder Mensch brauchte Schlaf. Sie war seit exakt fünfundfünfzig Stunden auf den Beinen. Es tat gut, endlich zu sitzen und ihrem Ziel näher zu kommen. Die Special Agents of Justice waren dabei, sie zu jagen. Da machte sie sich nichts vor. Sie hatte etwas, auf das die Spezialagenten scharf waren. Deswegen war sie in den letzten zwei Wochen kreuz und quer in den USA unterwegs gewesen und hatte falsche Fährten gelegt. Damit würden die Agenten, oder vielleicht auch nur ein Agent, erst mal beschäftigt sein. Sicherlich schickten sie nicht diesen Lance Del Monte. Schade eigentlich, aber sie hatte ihn selbst außer Gefecht gesetzt. Sie hätte ihn auch töten können, auf eine Leiche mehr oder weniger in ihrem Leben kam es nicht mehr an, aber es wäre echt schade um diese goldbraunen Augen und das dunkle Haar gewesen. Um die schlanke, aber muskulöse Gestalt, und vor allen Dingen um diese Stimme, die so einen beruhigenden Klang hatte. Sie hatte recherchiert. Der Mann musste zusätzlich auch noch hoch intelligent sein. Er war vor einigen Jahren der beste Hirnchirurg des ganzen Landes gewesen. Schade, dass sie nicht auf derselben Seite standen. Sie hätte zu gern mal Sex mit ihm gehabt. Als sie kurz für die SAJs gearbeitet hatte, war sie nur diesem Narbengesicht Barrett Manor und einem Doppelagenten namens Can Smith begegnet. Der war auch zu den SAJs übergelaufen. Ein fester Arbeitgeber kam für sie selbst nicht in Frage. Zu wenig Geld. Geld war alles, was für sie zählte. Machte sie das zu einem schlechten Menschen? Was schlecht und was gut war, lag sowieso im Auge des Betrachters. Das Flugzeug hob ab und sie öffnete kurz die Augen.

Der John F. Kennedy Airport in New York wurde kleiner und verschwand ganz aus ihrem Gesichtsfeld. In ein paar Stunden würde sie in Berlin landen. Zeit, sich zu entspannen. Sie hatte alle Passagiere dieses Linienfluges mehrfach gecheckt. Hier drohte ihr keine Gefahr. Ihr Körper forderte seinen Tribut. Ihr Kopf kippte zur Seite, Schlaf übermannte sie. Noch im Halbschlaf wurde ihr klar, dass sie wieder diesen Traum haben würde. Den Traum, in dem Lance Del Monte mit ihr schlief und in dem sie einen Ehering mit seinem Vornamen darin eingraviert trug …

„Alles in Ordnung?“

Zazouela wollte die Hand auf ihrer Schulter fortwischen. Albtraum, das war ein absoluter Albtraum. Sie wollte diesen Ehering von ihrem Finger reißen und Lance eine verpassen. Erstaunt bemerkte sie, dass es die Hand eines Flugbegleiters war, die auf ihrer Schulter ruhte. Er sah besorgt aus. „Sie haben geschrien.“

„Alles in Ordnung. Wirklich.“ Zazouela zwang sich zu einem Lächeln. „Ich habe nur schlecht geträumt.“

Der Flugbegleiter lächelte mitfühlend. „Das muss aber ein sehr schlimmer Albtraum gewesen sein.“

Erst jetzt bemerkte sie, dass die anderen Passagiere sie anstarrten. Unverbindlich lächelte sie in die Runde und sah dann geradeaus auf den Bildschirm über ihrem Sitz. Sie hatte verdammt lange geschlafen. In einer Stunde würden sie bereits landen. Noch einmal blickte sie auf ihre Hände, während der Flugbegleiter sich entfernte. Kein Ehering. Gut. Da würde auch nie einer an ihrem Finger sein. Sie dachte an ihren Traum zurück. Alles fing immer so harmlos an. Sie war an einem Strand und beobachtete entspannt die Wellen. Irgendwann spürte sie starke, warme Hände auf ihren Schultern. Der Mann hinter ihr küsste ihren Nacken. Immer war es genau dieser Moment, wenn sie in ihrem Traum realisierte, dass sie nackt am Strand stand. Der Mann verführte sie nach allen Regeln der Kunst. Manchmal hatte sie sogar einen Orgasmus im Schlaf. Als die Träume vor einigen Monaten anfingen, hatte der Mann nie ein Gesicht gehabt. Seit sie Lance Del Monte außerhalb von Las Vegas begegnet war, war er es, der sie sanft in den Sand des Strandes gleiten ließ und sie in verschiedenen Positionen nahm. Vor einer Woche hatte der Traum sich verändert. Er endete nicht mit einem Orgasmus am Strand, sondern auf einer Party. Sie sah sich selbst in einem Abendkleid. Neben ihr Lance Del Monte im Smoking, und alle starrten sie an. Nach einer kleinen Weile teilte sich die Menge, es war jedes Mal dasselbe. Sie sah ihn, wie er auf sie zuschritt und Lance anklagend ansah, dann zeigte er jedes Mal auf ihren Ring. Jedes Mal riss sie sich den Ring vom Finger, sah den Namen Lance darin eingraviert, sah Lance’ verletzte Gefühle, wenn sie den Ring abnahm und das Entsetzen im Gesicht des Mannes, der sie zu dem gemacht hatte, was sie heute war.

*

Ryan Black – natürlich war das nicht sein richtiger Name – konnte die Augen nicht von den honigblonden, dicken Haaren abwenden. Sie strich sie immer wieder hinter die Ohren, während sie auf den Kreml sah. Der Kreml war nur aus Stein, aber diese Frau war aus Fleisch und Blut. Zum Greifen nah. Er ballte die Hände in seinen Taschen zu Fäusten. Zum Greifen nah und doch so fern. Sie würde ihn umbringen, wenn er sie anrührte. Sie hatte zu viel Erfahrung. War zu verschlagen. Sie war einfach schon zu lange im Geschäft. Lydia Meek – was wahrscheinlich auch nicht ihr wahrer Name war – stand auf. Ihr Blick war auf einige der zwanzig Türme gerichtet. Ryan hatte sich nie sonderlich für Architektur interessiert, musste aber zugeben, dass die aus dem Mittelalter stammende Burg einen gewissen Charme hatte. Sie waren in der Nähe des Borowizki- und des Dreifaltigkeitsturms am Westabschnitt, über die Besucher den Kreml betreten und verlassen konnten, während zwei andere Türme am Roten Platz als Eingänge für Personal der im Kreml ansässigen Behörden und den Soldaten der Kreml-Garnison vorbehalten waren. Sie hatten jedoch nicht vor, die Durchfahrten zu passieren. Zumindest nicht heute. „Wann wird es soweit sein?“, fragte er.

„Ich werde es dich wissen lassen.“

„Warum dauert es so lange?“ Endlich sah sie ihn an. Sie war eine wahre Schönheit. Sie musste über fünfzig sein, er selbst war gerade mal Ende dreißig, aber er konnte sich durchaus vorstellen mit ihr ins Bett zu gehen. Dieses Verlangen verspürte er bei älteren Frauen normalerweise nicht.

„Du weißt, wie das ist. Wir müssen einfach Geduld haben.“

Natürlich wusste er das. Wieder mal versuchte er zu ergründen, welche Farbe ihre Augen hatten. Grün? Oder eher Graugrün? Schwer zu sagen. Sie sprach Englisch ohne Akzent, er hatte sie aber auch schon akzentfrei russisch sprechen hören. Vielleicht machten ihn ihre Geheimnisse so an. Ryan hatte keine Ahnung, wie sie wirklich hieß, wo sie herkam, er wusste nur eine Sache von ihr. Sie war gefährlich. Im tödlichen Sinne. Doch darüber wollte er nicht weiter nachdenken. Er selbst war es auch. Es war ein tödliches Spiel, das sie hier betrieben. Sie musterte ihn und lächelte dann. Es war kein echtes Lächeln, dennoch war es atemberaubend. „Du denkst über mich nach, nicht wahr?“

War das so offensichtlich? Hatte er nicht sein berühmtes Pokerface aufgesetzt gehabt? Anscheinend nicht. Dann konnte er auch direkt mit der Tür ins Haus fallen. „Ja, solange wir zur Untätigkeit verdammt sind, könnten wir uns die Zeit doch mit Sex vertreiben.“

Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter, erreichte aber immer noch nicht ihre geheimnisvollen Augen. „Ich gebe zu, dass du nicht gerade unattraktiv bist.“ Langsam strich sie mit ihren langen schlanken Fingern über sein Gesicht, zeichnete seine Lippen nach und kam näher. Ihm wurde warm.

„Du hast alles, was ein Mann braucht. Hohe Wangenknochen, sinnliche Lippen, volles Haar.“ Sie redete langsam, berührte mit der Hand, die Körperteile von denen sie sprach. „Schöne, wache, grüne Augen, breite Schultern. Dein Körper ist hart. Ich kann die Muskeln an deinem Bauch spüren.“ Ihre Stimme wurde leiser, sie hörte sich so verdammt verrucht an. Lydias Hand wanderte tiefer. Seinen Beinmuskeln schien gerade die Härte abhanden zu kommen. „Wahrscheinlich bist du auch dort gut bestückt.“

Ihre Hand lag auf seinem Schritt. Er hielt den Atem an. „Verdammt!“ Es war nur eine schnelle Bewegung gewesen, sie hatte ihm tatsächlich die Eier zusammengequetscht. Er schnappte noch einmal nach Luft. „Was soll das?“

„Kein Interesse Schätzchen. Du hörst von mir.“

Sie drehte sich um und verschwand. Er starrte auf ihren Hintern. Egal, was sie sagte, er würde sie ins Bett bekommen. Scheißegal, wie wichtig der Auftrag war, Sex mit Lydia gehörte jetzt eindeutig auch zur Agenda.

2

Wäre er ein Rockstar, hätte Lance wohlmöglich das Hotelzimmer zerlegt. So lag er auf dem Bett, starrte die Decke an und fluchte vor sich hin. Der braune Fleck neben der Deckenlampe zeugte davon, dass irgendwann mal Feuchtigkeit durchgedrungen sein musste. Seit zwei Wochen jagte er dem Miststück hinterher. Eines musste Lance ihr lassen, sie war gerissen. Sie hatte Spuren gelegt, die immer wieder in eine Sackgasse führten. Die erste Spur hatte ihn nach Kentucky geführt, von da aus war er weiter nach Tennessee gereist. Nevada, Kalifornien, und jetzt war er in Washington gelandet. Wohlgemerkt im Staat Washington, am Arsch der Welt. Das Miststück hatte ihn reingelegt und er würde sein bestes Stück darauf verwetten, dass sie überhaupt nicht mehr in den Vereinigten Staaten war. Nur wo war sie hin? Russland wäre eine Option, wenn er sich den ganzen Schlamassel, in dem sie steckten, wieder ins Gedächtnis rief. Erst seit einigen Wochen war Lance darüber im Bilde, weshalb die Special Agents of Justice überhaupt berechtigt waren, ihren Job auszuführen. Nach dem zweiten Weltkrieg hatten die Staatsoberhäupter der USA, der damaligen Sowjetunion, von Großbritannien und Frankreich beschlossen, dass sie Agenten ausbilden und eine Organisation gründen mussten, die einen Weltkrieg verhindern konnte. Einen weiteren Hitler sollte es nicht mehr geben. Die vier Länder gründeten eine Organisation von Spezialagenten in ihrem jeweiligen Land, die im Notfall den eigenen Machthaber töten durften. Dies war in einem hoch offiziellen Dokument festgelegt. Jedes Land hatte ein Dokument, das innere Legitimation genannt wurde. Es gab für jedes Land noch ein weiteres Dokument, die äußere Legitimation. Diese berechtigte die Agenten dazu, auch Machthaber anderer Länder zu töten, wenn dies gemeinsam beschlossen wurde. Alle acht Dokumente wurden im UN-Gebäude in New York hinterlegt. Dummerweise hatte sein Ex-Boss Corey Snyder die äußere Legitimation der USA den Russen gegeben. Er hatte damit seine Tochter erkauft, eine Tochter, die Corey mit einer russischen Agentin gezeugt hatte. Dies bedeutete, dass die Russen zwei Stimmen hatten und die USA keine mehr, wenn es um eine Abstimmung zur Tötung eines Machthabers ging. Ferner war die innere Legitimation irgendwie in den Besitz der Mafia von Las Vegas gelangt. Beim Versuch der Wiederbeschaffung war Lance von Zazouela überrascht worden. Deswegen jagte er hinter ihr her. Doch das war noch nicht alles. Im UN-Gebäude befanden sich nur noch vier Dokumente. Die inneren und äußeren Legitimationen der Franzosen und Briten. Die russischen Dokumente waren weg. Lance vermutete, dass die Russen sich diese schon lange geholt hatten. Eine weitere Vermutung war, dass sie Zazouela für die Beschaffung aller Legitimationen engagiert hatten. Vielleicht um ihre „Verbündeten“ zu erpressen? Oder glaubten die Russen, sie hätten so das Recht, allein zu entscheiden, wer in welchem Land regieren durfte? Lance begriff bis heute nicht, was an diesen Papieren so wichtig sein sollte. Ob sie nun im UN-Gebäude lagen oder nicht, war doch im Grunde egal. Sein neuer Boss Barrett Manor hatte ihm lang und breit erklärt, dass ohne die Papiere jede Eliminierung, die sie vollzogen, zu einem terroristischen Akt wurde. Denn ohne die Legitimationen, waren sie kein offizieller Geheimdienst oder auch keine Spezialeinheit mit der Berechtigung zu töten. Ob das Ganze nun eher einen symbolischen Charakter hatte oder tatsächlich so wichtig war, war im Grunde egal. Es war Lance’ Aufgabe alle fehlenden Legitimationen wiederzubeschaffen und zurück nach New York zu bringen.

Frage Nummer eins war nun, wo war das Miststück Zazouela? In Russland? Zweite Frage: Wo waren die russischen Dokumente? Auch in Russland? Lance fluchte wieder vor sich hin. Sie konnte überall auf dieser Welt sein. Er musste mehr über sie herausfinden. Dringend. Sie hatte mal kurz für die SAJs gearbeitet, so viel wusste er. Mittlerweile war sie eine Söldnerin, gehörte keinem Geheimdienst an. Jeder, der gut zahlte, konnte sie engagieren. Corey hätte ihm vielleicht mehr erzählen können, aber der war zu beschäftigt mit der Suche nach seiner Tochter und dem Kleinkrieg mit Can Smith. Einem SAJ, der mit eben dieser Suche beauftragt war. Corey war also keine Hilfe. Barrett, das As am Rechner, hatte bereits all sein Hackerkönnen in die Waagschale geworfen. Viel hatte er nicht herausfinden können. Zazouela war vermutlich in Afrika aufgewachsen. Irgendwann war sie einfach immer wieder bei diversen Geheimdiensten aufgetaucht. Man zahlte, sie lieferte, was auch immer man von ihr wollte. Informationen, brisante Dokumente oder auch den Tod. Niemand kannte ihren Nachnamen, niemand wusste, wo sie lebte. Im Grunde war sie ein Phantom. Wie sollte es ihm jemals gelingen, ein Phantom zu finden? Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als einen Flug nach Moskau zu buchen.

Während er sich müde vom Bett erhob, warf er einen Blick auf den Fernseher. Er hatte den Ton abgestellt. Über den Newsticker am unteren Rand verfolgte er kurz die wichtigsten Nachrichten. Eine Boeing 777 der Malaysia Airlines war vor einigen Stunden vom Radar verschwunden. Auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking war die Maschine wahrscheinlich irgendwo über dem Golf von Thailand abgestürzt. Lance holte einmal tief Luft. Seit er zum SAJ geworden war, jettete er ständig in der Welt herum. Tief in seinem Inneren litt er immer noch an Flugangst. Er hasste es einfach zu fliegen. Doch in seinem Agentenjob hatte er oft keine Wahl. Früher, als er noch als Arzt tätig gewesen war, hatte er versucht Flugzeuge zu meiden. Fast alle Kongresse und Geschäftsreisen hatte er mit dem Auto erledigt. Manchmal war er tagelang unterwegs gewesen. Die Flugangst hatte er einfach ignorieren müssen, als Corey ihn ausbildete. Irgendwie hatte er es geschafft. Im Grunde war es zum Lachen. Einst war er Arzt gewesen, hatte Menschenleben gerettet und Flugangst gehabt. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich sein Leben verändert. Der Arzt wurde zum Killer, und Ängste gab es nicht mehr. Zumindest nicht offiziell. Lance betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers. War das gut? War es richtig, was aus ihm geworden war? Er schüttelte über sich selbst den Kopf. So wie er seine Flugangst verdrängen konnte, musste er auch diese Gedanken, die ihn seit seiner Verletzung heimsuchten, verdrängen. Er musste nach Russland, das Miststück und die Legitimationen finden. Punkt. Aus. Ende.

*

Zazouela hätte schreien können. Ihre Finger waren eingefroren. Es war März und immer noch furchtbar kalt in Finnland. In Berlin war es schon kalt gewesen, aber Finnland war noch schlimmer. Sollte in Europa nicht Frühling herrschen? Sie war in Nordafrika aufgewachsen, ihr lag dieses kalte Klima einfach nicht. So wie es aussah, würde sie eine Weile in Sodankylä bleiben müssen. Noch gab es keinen festen Termin zur Übergabe. Sie machte sich eine gedankliche Notiz in Zukunft Aufträge zu vermeiden, die sie in Regionen nördlich des Polarkreises zwingen würden. Doch sie konnte verstehen, warum sie hier verweilen sollte. Die Gemeinde in Lappland war nur dünn besiedelt. Der perfekte Ort, um sich ein paar Tage oder Wochen zu verstecken. Das würde ihre Auftraggeber allerdings einiges mehr kosten. Der Auftrag zog sich länger hin, als geplant. Die Übergabe des gestohlenen Dokumentes hätte längst über die Bühne gehen können. Warum die Russen es immer wieder herauszögerten, war ihr ein Rätsel. Doch es nützte nichts, darüber nachzugrübeln. Es ging sie nichts an, und sie wusste, dass es besser war, so wenig wie möglich über die Hintergründe ihrer Aufträge zu wissen. Wissen bedeutete Macht, es konnte aber auch den Tod bedeuten.

Zazouela stieg aus dem Mietwagen und beäugte kritisch die kleine Pension. Sie liebte Luxus jeglicher Art. Natürlich konnte sie nicht immer in 5-Sterne Hotels residieren. Im Grunde war das eher selten der Fall, aber das hier sah nach einer Bruchbude aus. Die Kälte in Lappland hatte Risse in die Hauswände geschlagen. Hoffentlich funktionierten wenigstens die Heizungen. Mit klammen Fingern nahm sie ihren kleinen Koffer aus dem Auto. Sie hatte sich in Berlin mit Winterkleidung eingedeckt, aber Handschuhe hatte sie vergessen, und die Heizung im Auto war nicht der Bringer gewesen. Die Fassade war zwar heruntergekommen, aber als sie das Haus betrat, wurde sie positiv überrascht. Ein riesiger Kamin verströmte mit seinem Feuer eine angenehme Wärme. Die Frau hinter dem Tresen begrüßte sie auf Finnisch. Zazouela probierte ihr Glück auf Englisch. Französisch, Spanisch. Portugiesisch und Niederländisch hätte sie noch im Angebot gehabt, aber Englisch schien auszureichen. Kurze Zeit später war sie in einem kleinen Zimmer untergebracht und – oh Wunder – es gab tatsächlich eine Heizung.

Zazouelas erste Amtshandlung war, sich die kleine Badewanne mit heißem Wasser zu füllen. Ihre Muskeln spannten von der langen Autofahrt. Erleichtert sank sie ins Wasser und schloss die Augen. Diese Träume, die sie, seit sie diesen Auftrag angenommen hatte, heimsuchten, mussten aufhören. Die ständige Anspannung konnte sie sich in ihrem Job nicht leisten. Nur wie sollte sie die Träume abstellen? Tabletten oder Alkohol um ruhig zu schlafen, kamen für sie nicht in Frage. Vielleicht wenn sie ihn wiedersehen würde. Ja, das hatte ihr immer geholfen. Hatte sie immer wieder daran erinnert, warum sie lebte und weshalb sie ihren Job ausübte. Sie würde ihn viel öfter sehen, wenn es für ihn nicht zu gefährlich wäre. Das heiße Wasser tat ihren Muskeln zwar gut, aber sie war zu unruhig, um lange in der Wanne liegenzubleiben. Sie hüllte sich in ihren Bademantel und schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken. Eine Sondersendung flimmerte über den Bildschirm. Die vor zwei Tagen verschwundene Boeing der Malaysia Airlines war immer noch nicht gefunden worden. Ungewöhnlich, doch andererseits war es ein undurchsichtiges Gebiet rund um Indonesien. Es würde sicher dauern, bis man erste Wrackteile sichten würde. Doch als die Dame, die die Sondersendung bei CNN leitete, sagte, dass das Flugzeug anscheinend unerklärlicherweise den Kurs gewechselt hatte, wurde Zazouela hellhörig. Wieso sollte der Pilot so etwas tun? Doch nur, wenn er dazu gezwungen wurde. Sie lächelte. Vielleicht konnte sie sich die Zeit in Lappland vertreiben, indem sie ein bisschen recherchierte. Im nächsten Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Sie wusste, wie sie an Informationen kam, sie war schließlich mit fast allen Geheimdiensten der Welt vernetzt. Doch die ganze Sache ging sie nichts an. Wenn einer der Geheimdienste seine Finger im Spiel hatte, konnte sie sich mit diesem Zeitvertreib schnell zur Zielscheibe machen. Während die CNN-Moderatorin gemeinsam mit einem Experten der amerikanischen Luftfahrt weitere Mutmaßungen anstellte, fielen Zazouela die Augen zu. Ihr letzter Gedanke galt Lance Del Monte. Sie wollte unter keinen Umständen wieder von ihm träumen.

Zazouela konnte nicht genau sagen, was sie geweckt hatte. Ein Geräusch? Das kurze Aufflackern eines Lichtes? Sie öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Kein Licht fiel durch die schweren dunkelblauen Vorhänge. Selbst wenn die Vorhänge nicht zugezogen wären, mitten in der Nacht herrschte in Finnland vollkommene Dunkelheit, die das Sehen unmöglich machte Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Lauschte. Versuchte zu ergründen, ob noch jemand in ihrem Zimmer atmete. Ja, da war etwas, oder bildete sie sich das nur ein? Ihre Pistole lag auf dem Nachttisch. Millimeter für Millimeter bewegte sie ihren Arm unter der Bettdecke und näherte sich der Waffe. Das Geräusch, das sie dabei unter den Laken verursachte war kaum hörbar, kam ihr aber viel zu laut vor. In der Dunkelheit konnte sie noch nicht mal die Umrisse der Schränke ausmachen. Selbst wenn jemand direkt neben ihrem Bett stünde, könnte sie es nicht sehen. Ihren Arm hatte sie aus den Laken befreit, ihre Hand näherte sich dem kleinen Tischchen neben dem Bett. Behutsam tastete sie nach ihrer Pistole. Nichts, da war nichts! Eine kalte Hand packte ihr Handgelenk. Bevor sie reagieren konnte, presste ihr jemand ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase. Scheiße, Chloroform! Wie eine Anfängerin hatte sie sich übertölpeln lassen. Hatte keine Sicherheitsvorkehrungen an ihrer Zimmertür getroffen, weil sie sich so sicher gewesen war, dass nur Lydia Meek wusste, wo sie war. Doch die konnte sie nicht verraten haben. Unmöglich. Waren die SAJ’s doch besser, als Zazouela gedacht hatte? In dieser Nacht hatte sie nicht von Lance Del Monte geträumt, doch es war sein Gesicht, das sie als Letztes in Gedanken vor sich sah, als sie in die Ohnmacht glitt.

*

Lydia kochte vor Wut, doch äußerlich merkte man ihr das hoffentlich nicht an. Irgendwas musste schiefgelaufen sein. Sie hätte alles darauf verwettet, dass Ryan Black seine Finger im Spiel hatte. Er war einfach zu ungeduldig, oder er spielte ein falsches Spiel. Letzteres würde ihn teuer zu stehen kommen. Dafür würde sie persönlich sorgen. Doch sie musste sich zusammenreißen, denn noch war nichts bewiesen, noch wusste sie nicht, was da lief. Gerade das hätte nicht passieren dürfen. Sie musste alles wissen, dafür wurde sie bezahlt. Die Mission war die Wichtigste, die sie je ausgeführt hatte. Es war das Größte, was sie in ihrem Leben vollbringen würde.

Sie betrat das alte, leerstehende Gebäude. Das Haus war mal ein nettes Wohnhaus gewesen, doch jetzt war es nur noch ein dunkles, kaltes Loch mit vereinzelten, zerschlissenen Möbeln, verschimmelten Wänden und verdreckten Fenstern. Der perfekte Treffpunkt.

Ryan lehnte lässig an einer Fensterbank und grinste sie an. „Für ein außerplanmäßiges Date zwischen uns, hätte ich mir aber einen romantischeren Ort gewünscht.“

Eines Tages würde sie ihm das Grinsen aus dem Gesicht schlagen, nur noch nicht heute. „Was hast du getan?“

Ein Hochziehen seiner Augenbrauen war die Antwort. Sie forschte in seiner Mimik. Natürlich war er ein Meister darin, sich zu verstellen. Dennoch hatte Lydia für einen kurzen Moment das Gefühl, dass er nicht wusste, wovon sie sprach.

„Was auch immer du glaubst, du weißt, ich bin nur als stiller Beobachter an der Operation beteiligt. Mir sind die Hände gebunden. Ich darf nichts tun.“

Lydia setzte ihren spöttischsten Gesichtsausdruck auf. „Und du hältst dich natürlich daran.“

Ryan stieß sich von der Fensterbank ab. „Wir sind anders als ihr. Ja, wir halten uns an Befehle. Seit dem 30. November 1983 ist das so. Das weißt du ganz genau.“ Lydia wusste natürlich, worauf Ryan anspielte. Als Mitglied des australischen Geheimdienstes ASIS, dem Australian Security Intelligence Service, war es ihm untersagt, an paramilitärischen Aktionen teilzunehmen. Dies war seit einer spektakulär fehlgeschlagenen Trainingsmission im Sheraton Hotel in Melbourne am 30. November 1983 per Gesetz festgelegt. Bei dieser Operation wurden australische Agenten in Ausbildung von der Polizei verhaftet und einer langen Liste von Vergehen beschuldigt. Für Lydia war der ASIS ohnehin ein Witz. Wozu einen Geheimdienst betreiben, wenn den Agenten die Hände gebunden waren. Der ASIS fungierte als externe australische Informationsbeschaffungsbehörde. Nahezu alle Angestellten des Dienstes befanden sich außerhalb von Australien im Einsatz, da die Behörde hauptsächlich Informationen sammelte. ASIS wertete die Daten nicht selbst aus, sondern gab sie an andere Behörden zur Analyse weiter. In Zazouelas Augen noch ein weiterer Fehler der Behörde. All das war nicht ihr Problem. Es hatte sie ohnehin gewundert, dass ihre Vorgesetzten darauf bestanden hatten, den australischen Agenten mit einzubeziehen.

Plötzlich fing Ryan an zu lachen. „Weißt du Lydia, man sollte nicht von sich auf andere schließen. Du bist skrupellos und hinterhältig. Diesen Ruf hattest du schon zu KGB-Zeiten. Doch jetzt …“ Er machte eine kurze Pause. „jetzt hast du noch mehr Freiheiten. Die Welt da draußen außerhalb der Geheimdienste hat immer noch den KGB im Kopf. Die meisten kennen den GRU doch gar nicht. Sie haben keine Ahnung, wie weit ihr geht.“

Er hatte ja recht. Lydia hatte ihren Job als Agentin des KGB geliebt, doch nach der Auflösung der Sowjetunion war sie in den GRU eingetreten. Der Glawnoje Raswedywarelnoje Uprawlenije hatte die Veränderungen überlebt. Sie war nun Mitarbeiterin des leitenden Zentralorgans des russischen Militärnachrichtendienstes. Sie waren das alles sehende Auge des Militärs. Sie waren nicht nur für die nachrichtendienstliche Beschaffung aller militärisch relevanten Informationen und die Spionageabwehr zuständig. Lydia gehörte einer Kommandoeinheit für unkonventionelle Kriegsführung an, offiziell um Terroristen zu bekämpfen. Sie hatte so viel Entscheidungsfreiheit, wie es ein Mensch nur haben konnte in dieser Welt, einschließlich der Freiheit zu töten, wenn es ihr angebracht erschien. Andere der GRU-Mitglieder waren für die Wirtschaftsspionage im Einsatz. Lydia war stolz, ein Teil dieses Dienstes zu sein. Ihr wurde klar, wie wenig Macht Ryan Black im Gegensatz zu ihr besaß. Dennoch glaubte sie ihm nicht. Zazouela reagierte nicht auf ihre Versuche mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wer sonst als Ryan Black sollte da seine Finger im Spiel haben?

„Vielleicht verrätst du mir erst einmal, was ich überhaupt in deinen Augen verbrochen haben soll?“, riss Ryan sie aus ihren Gedanken.

„Die Übergabe der Legitimation ist gefährdet. Ich kann die Agentin nicht erreichen.“

Jetzt war wirkliche Überraschung in Ryans Zügen zu erkennen. Entweder war er ein oscarreifer Schauspieler oder er hatte tatsächlich nichts mit der Verzögerung zu tun.

„Warum sollte ich die Pläne durchkreuzen? Man hat mich entsendet, um die Dokumente auf Echtheit zu überprüfen. Ferner, um die amerikanischen Legitimationen an mich zu nehmen, sodass Australien den Platz der USA einnehmen kann. Es liegt in unser aller Interesse, die Machtpositionen der Amerikaner zu schwächen. Außerdem wie hätte ich das anstellen sollen? Ich habe keine Ahnung, wo deine Agentin sich aufhält.“

„Was nicht bedeutet, dass du es nicht herausfinden könntest. Du bist Australiens bester Agent, wie ich gehört habe.“

„Mir würden die Papiere doch sowieso zufallen, und ich bringe sie nach Australien. Warum sollte ich das alles gefährden und ihr die Dokumente vorher abjagen?“

„Um das Geld zu sparen, dass du unserem russischen Präsidenten dafür schuldest.“

Wieder fing Ryan an zu lachen. „Australien geht es gut. Wir haben es nicht nötig, uns um diese Zahlung zu drücken. Keine Sorge. Du solltest dich lieber um deine Agentin sorgen. Beschaff das zweite amerikanische Dokument und lass uns die Übergabe hinter uns bringen.“ Er trat auf sie zu. Sie wartete ab, hinderte ihn auch nicht daran, als er eine Locke ihres Haares hinter ihrem Ohr festklemmte. „Ich würde sagen die Stimmung ist gerade ein bisschen verdorben. Wir verschieben unser Date. Du weißt, wie du mich erreichen kannst.“

Ihre Wut war immer noch nicht verraucht, als sie ihm nachsah, wie er das Haus verließ.

3

Zazouela schlug die Augen auf. Ihr war noch nie so übel gewesen. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung. Übergeben kam nicht in Frage. Sie lag immer noch in ihrem Pensionszimmer. Es war immer noch dunkel, doch die Stehlampe in der Ecke gab ein gedämpftes Licht. Ihre Sicht war verschwommen, also schloss sie die Augen wieder und konzentrierte sich auf ihren Körper. Sie konnte Arme und Beine bewegen, war nicht gefesselt. Doch die kleinste Bewegung verursachte erneute Übelkeit und ihr Kopf schien von einem Hammer malträtiert zu werden. Ein Stöhnen entwich ihrem Mund.

„Hier, trink das.“

Sie riss die Augen auf. Seine Stimme war tiefer und melodischer, als in ihrer Erinnerung. Verdammte Scheiße, er war tatsächlich hier. Er hatte ihr das angetan. Die Übelkeit ignorierend schlug sie Lance Del Monte das Glas Wasser aus der Hand und wollte nach ihrer Pistole auf dem Nachttisch greifen. Doch die war nicht mehr da. Es schien ihn nicht zu interessieren, dass sie ihm das Glas aus der Hand geschlagen hatte. Er grinste sie unverschämt an. Lachfältchen bildeten sich um seine goldbraunen Augen.

„In diesem Zimmer gibt es keine Waffe. Weder Pfeil noch Bogen, noch Feuerwaffen.“

Pfeil und Bogen. Die Erinnerung traf sie wie ein Blitz. Sie hatte ihm einen Pfeil durch die Hand geschossen, als sie die Legitimation gestohlen hatte. Nicht nur einen Pfeil. Auch sein Bein hatte dran glauben müssen, dort hatte sie ihm eine Kugel rein gejagt. Es schien ihm überraschend gut zu gehen. Das Ganze war ja auch eine Zeit her. Ihr nächster Gedanke war, dass er ihr vielleicht mit seiner Aussage deutlich machen wollte, dass auch er unbewaffnet war. Doch wieso sollte er ihr ohne Waffen gegenübertreten? Warum war er überhaupt hier? Er hatte sie außer Gefecht gesetzt, hätte die Legitimation, die sie im Koffer gehabt hatte, an sich nehmen und verschwinden können. Was wollte er noch von ihr?

„Da du nicht sonderlich gesprächig bist, fange ich an.“ Er zog sich den alten schäbigen Stuhl heran und setzte sich zu ihr ans Bett. Sie betrachtete seine Hände. Ihm weiter in die Augen zu sehen, erschien ihr unmöglich. Sein Blick war so unergründlich und doch warm. Er musste sie hassen. Natürlich hasste er sie, wenn sie die dicke Narbe an seiner Hand näher betrachtete. Das war ihr Werk.

„Du hast mich in den Vereinigten Staaten ganz schön an der Nase herumgeführt, das muss ich dir lassen. Du bist richtig gut. Ich war auf dem Weg nach Russland, dort hatte ich dich vermutet, aber in letzter Sekunde hat mein Boss mich hierhergeschickt. Ist ein altbekanntes Versteck des GRU, hier schicken sie oft Leute hin, bevor sie sich mit ihnen treffen.“

Sie räusperte sich. „Du hast doch jetzt, was du willst.“ Ihre Stimme hörte sich wie ein Reibeisen an. „Bring es zu Ende.“

Echte Überraschung erschien auf seinem Gesicht.

„Du hast die Legitimation. Du weißt genauso gut wie ich, dass mich die Russen jetzt töten werden, also wäre es nett, wenn du es jetzt und hier erledigen könntest.“ Vielleicht erledigte Lance es schnell und schmerzlos, die Russen würden nicht so gnädig mit ihr umgehen. Zazouela hatte immer gewusst, dass das Leben, welches sie führte, letztendlich zu einem gewaltsamen Ende führen musste.

Er betrachtete sie nachdenklich. „Ich glaube wir haben hier den klassischen Fall eines Missverständnisses.“ Sein leises Lachen hörte sich wundervoll an. Gegen ihren Willen wurde ihr warm, Behaglichkeit überkam sie, als säße sie entspannt an einem Kamin.

„Ich bin nicht derjenige, der dich außer Gefecht gesetzt hat. Als ich ankam, hab ich nur das hier gefunden.“ Er deutete auf einen Lappen, der auf dem Boden lag. Vermutlich war dies der mit Chloroform getränkte Stofffetzen, den man ihr vor Mund und Nase gehalten hatte. „Dokumente habe ich nicht gefunden.“

Konnte sie ihm glauben?

*

Lance war auf der Hut. Auch wenn er keinerlei Waffen in diesem Zimmer entdeckt hatte, war Zazouela nicht ungefährlich. Mit jeder Sekunde stieg mehr Farbe in ihr Gesicht, mehr Leben in ihre tief dunkelbraunen Augen. Er hatte sich tausendmal ausgemalt, was er mit ihr anstellen würde, wenn er sie endlich in die Finger bekäme. Sie anzustarren hatte nicht dazugehört. Er hatte sich diesen Moment herbeigesehnt. Sich vorgestellt, wie er seine Rache genießen würde. Ja, er hatte vorgehabt, sie zu eliminieren. Den Killer in sich herauszulassen und dann die Legitimation mitzunehmen. Doch sie gehörte nicht zu den Terroristen, die er bisher hatte töten müssen. Sie war die Frau, die seine Hand ruiniert hatte, und dennoch verspürte er nicht mehr das geringste Bedürfnis, ihr wehzutun. Die Zeit nachdem er das Zimmer durchsucht hatte, hatte er damit verbracht, in aller Seelenruhe abzuwarten, bis sie aufwachte. Hatte sich ihre Gesichtszüge eingeprägt, sie betrachtet. Sie war wunderschön. Eine der exotischsten Frauen, die er je getroffen hatte. Mokkafarbene Haut, dunkelbraune, dichte Locken, die sich über das Kopfkissen ergossen. Dichte, schwarze Brauen umrahmten ihre von langen Wimpern gekrönten Augen. Ihre kleine Stupsnase war einfach nur süß, doch am meisten faszinierten ihn ihre vollen dunkelroten Lippen. Ob sie so weich waren, wie sie aussahen? Doch letztendlich war es nicht ihr Aussehen, das ihn in ihren Bann zog. Diese Frau war ein einziges Geheimnis. Im Aufwachen hatte sie zwei Namen immer wieder vor sich hingemurmelt. Balthasar. Und Lance. Wieso wisperte sie seinen Namen im Schlaf? Na ja, Lance war kein ungewöhnlicher Name, es musste sich nicht zwangsläufig um ihn handeln. Er wischte die Gedanken fort und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch. „Was haben die Russen vor?“

Sie grinste schief. „Du weißt genau, dass ich solche Informationen nicht habe. Mein Auftrag bestand darin, ein Dokument zu beschaffen und ihnen zu übergeben.“

„Und selbst wenn du es wüsstest, würdest du es mir nicht sagen. Ich weiß, ich weiß, das übliche Agentengeplapper.“

Sie warf ihm einen bösen Blick zu. Verflucht nochmal, warum faszinierte ihn dieses Miststück nur so? Sie hatte es zumindest verdient, dass er sie übers Knie legte und ihr ordentlich den Hintern versohlte. Bei dem Gedanken musste er grinsen und sein bestes Stück stand stramm, um zu salutieren. „Dann lass uns doch mal überlegen, wer dich überfallen haben könnte.“ Ob ihr bewusst war, dass sie eine Schnute zog? Die taffe Frau vor ihm, war angepisst, und er konnte das einfach nur attraktiv finden.

„Ist dir wohl noch nicht passiert, dass man dich so überrumpelt, was? Kein schönes Gefühl. Wenigstens hat man dir keinen Pfeil und auch keine Kugel verpasst.“

War das ein kurzes Aufflackern von Bedauern in ihren Augen? Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein.

„Willst du, dass ich mich bei dir entschuldige? Bist du deswegen noch hier?“

Die Vorlage musste er einfach nutzen. „Entschuldigen reicht nicht.“ Er hielt demonstrativ seine vernarbte Hand hoch. „Meine Chirurgenkarriere ist vorbei. Ich hatte an echte Wiedergutmachung gedacht.“

„Du bist ein SAJ, erzähl mir nicht, dass du wieder als Chirurg arbeiten wolltest.“

„Was weißt du schon über mich?“

„Genug. Du warst ein begnadetet Chirurg, aber als Killer für den Geheimdienst bist du noch effektiver. Das will was heißen. Du bist einer der gefürchtetsten Agenten der USA.“

War das wirklich so? Er war gut, in dem was er tat, aber das andere Geheimdienste oder Regierungen ihn fürchteten, darüber hatte er nie nachgedacht. „Also reden wir weiter über die Wiedergutmachung.“

„Ich habe andere Probleme.“ Sie setzte sich auf. „Ich brauche diese verdammten Papiere.“

„Ich auch, Süße. Was hältst du davon, wenn wir uns zusammentun?“

„Was?“

Er wusste selbst nicht, warum er diesen Vorschlag machte. Es gab keinen Grund, sie mit einzubeziehen. Ganz im Gegenteil. Sie wollten beide die Legitimation und nur einer von ihnen würde sie bekommen. Im Grunde verkomplizierte der Vorschlag alles. Er hätte es als Witz abtun sollen, hörte sich aber selbst sagen: „Wir arbeiten zusammen. Schließen ein Bündnis, bis wir die Legitimation gefunden haben, und dann werden wir sehen, wer von uns beiden besser ist und sie am Ende in Händen hält. Ich schätze dich so ein, dass dich dieser Vorschlag reizt.“

Sie legte den Kopf schief. In ihren Augen glühte ein erotisches Funkeln, während sie über seinen Vorschlag nachdachte. „Okay.“ Zazouela hielt ihm ihre Hand hin und sie besiegelten den Deal.

*

Lydia saß kerzengerade auf ihrem Stuhl. Sie hasste diese Plastikstühle in den geheimen Räumen im Kreml. Vielleicht lag es aber auch daran, dass es nie was Gutes zu bedeuten hatte, wenn man hierher zitiert wurde und auf diesen unbequemen Dingern warten musste.

Ihr Vorgesetzter Baristan Karlow betrat den kahlen Raum. Er zog sich ebenfalls einen der Plastikstühle heran und setzte sich. Mit auf die Knie gestützten Ellenbogen, vergrub er kurz das Gesicht in seinen Händen. Dann sah er sie seufzend an. „Ich habe alle Mikrofone und Kameras abgeschaltet. Das ist ein Gespräch nur zwischen uns beiden.“

Sie nickte und entspannte sich ein wenig. „Du siehst verzweifelt aus.“

„Lydia, wie konnte das passieren? Wieso hast du solange gezögert? Wir könnten die Legitimation schon längst in Händen halten.“

„Ich dachte, wir timen das genau. Die Übergabe durfte unter keinen Umständen vor Operation ‘Fort Knox‘ stattfinden. Daher habe ich sie nach Lappland geschickt und in den USA falsche Spuren legen lassen. Snyder ist kein Idiot, er wird die besten Leute auf sie angesetzt haben.“

„Snyder hat die Leitung an Barrett Manor übergeben. Sie räumen gerade bei der CIA auf. Sie haben einen unbestechlichen Mann bei der NSA eingesetzt und sind jetzt wieder unabhängig.“

„Bitte was?“ Lydia glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Corey hatte seinen Posten freiwillig abgegeben? Sie hätte alles darauf verwettet, dass er bis zu seinem letzten Atemzug die Special Agents of Justice anführen würde. „Dann gehst du davon aus, dass die SAJs Zazouela haben und damit auch die Legitimation?“

„Ich habe, wie du wolltest, alle Satelliten und Drohnen in der Gegend zu Hilfe genommen. Einige haben in der Nacht die Pension betreten. Eine unbekannte, nicht identifizierbare Person hat sie auch wieder verlassen. Die will ich noch überprüfen, nur zur Vorsicht. Doch ich bin mir sicher, dass die Legitimationen verloren sind. Lance Del Monte war nämlich bei ihr. Sie haben die Pension auch zusammen verlassen. Er hat sie und damit die Legitimation in seiner Gewalt.“

„Scheiße.“