Titel
Widmung
Prolog
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Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Anita Krätzer & Ralf Schmitz
Für meine begeisterten weiblichen Fans:
Ange, Alaska
Denise, Draoneen
Jabberwookie, Jennifer
Lasair, Lila
Magic, Nephilim
Serena, Shoshana
Stacy, Stella
Thatch, Teca
Vickie und Renee (zugleich auch meine beste Freundin
aus Kindertagen)
Außerdem danke ich allen,
die mir in diesem Jahr geholfen haben, mit meinen Hochs
und Tiefs und mit dem anfallenden Kleinkram
fertig zu werden.
Ich widme dieses Buch auch
meiner persönlichen Stalkerin Amy.
Das hier ist für euch, Freunde!!!
Prolog
Wer etwas über das Schicksal des Dämonengeschlechts erfahren will, muss diese Prophezeiung zurate ziehen …
… weil Magie wieder einmal die Zeit bedroht und die friedliche Welt der Dämonen im Wahnsinn versinkt …
… wird es geschehen, dass die Dinge in diesem großen Zeitalter wieder zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückkehren, nach der das Dämonengeschlecht stets streben muss. Hier offenbaren sich die Bedeutung und der Sinn unserer strengen Gesetze, die besagen, dass keinem unschuldigen Menschen ein Schaden zugefügt werden darf und dem friedlichen Zusammenleben der Völker höchstes Gewicht beizumessen ist …
Aus der verschollenen Prophezeiung über die Dämonen
… es ist den Angehörigen des Dämonengeschlechts daher verboten, sich mit einem Wesen zu paaren, das nicht seinesgleichen ist, das nicht sein Wesen hat und das nicht seine Kraft und seine Stärke besitzt. Es ist unsere Pflicht, diese schwächeren Wesen vor uns zu schützen, damit sie nicht durch scheußliche sexuelle Gräueltaten verletzt werden. So will es das Gesetz und so will es die Natur. Der Hund wohnt nicht der Katze bei; die Katze wohnt nicht der Maus bei. Wer gegen diese heilige Regel verstößt, wird vom Vollstrecker des Gesetzes hart bestraft …
Aus dem Original der Schrift von der Zerstörung
Elijah sank auf die Knie und presste die Hand auf die Brust. Etwas Warmes breitete sich zwischen seinen Fingern aus und färbte sie und sein weißes Hemd hellrot. Er blickte an sich hinunter und sah, wie sich sein Lebenssaft auf dem Stoff fast so faszinierend ausbreitete wie die zerlaufenden kunstvollen Kreise eines Batikhemdes.
Der Kriegerdämon war erstaunt.
Im Laufe seines jahrhundertelangen Lebens war er schon mehrmals verwundet worden. Das war nichts Neues für ihn. Alles, von mystischer Elektrizität bis hin zu den mörderischen Klingen aus grausamem brennendem Eisen, das für seine Art so gefährlich war, hatte ihn im Lauf der Zeit durchbohrt, durchdrungen und verletzt. Einige Wunden waren so schwerwiegend gewesen, dass sie trotz seiner angeborenen Heilungskräfte Narben hinterlassen hatten; andere hingegen waren spurlos verheilt. Aber er war nie so schwer verletzt worden, dass er dachte, er müsste sterben. Was für andere, auch für normale Dämonen tödlich war, war für ihn noch lange nicht tödlich – wenn auch nur deshalb, weil er sich hartnäckig weigerte, etwas so Altmodischem zu erliegen wie dem Tod.
Jetzt jedoch war sein Leben nicht einfach nur in Gefahr, weil seine Brust sehr dicht neben seinem Herzen durchbohrt worden war, sondern weil er sich mitten im Nirgendwo befand und nicht mehr die Kraft hatte, Hilfe zu holen, und weil er zudem von Feinden umzingelt war. Selbst wenn er irgendwie durchhalten und diese schwere Verwundung überleben sollte, würde es im Ermessen dieser Feinde liegen, wie lange sie ihn am Leben lassen wollten.
Elijah war wütend auf sich selbst, weil er in eine so missliche Lage geraten war. Er war der Anführer der Dämonenkrieger, der Elitearmee des großen Dämonenkönigs. Er war der fähigste Kämpfer unter den Dämonen, einer Gattung von Schattenwandlern, die für ihre erschreckenden Fähigkeiten im Kampf berüchtigt war. Er hatte seine Kampfkunst viele Jahrhunderte lang vervollkommnet. Er hatte alles gelernt, was man über Kampf, Krieg und Waffen und über Erfolg versprechende Strategien wissen musste. Jacob, der Vollstrecker der Dämonen, und sein Lehnsherr Noah, der Dämonenkönig, waren die Einzigen, die er als ebenbürtige Kämpfer betrachtet hätte. Er hätte eigentlich nicht so dumm sein dürfen, in eine Falle zu tappen, auch wenn sie noch so geschickt gelegt war, und er sollte auch nicht aufgeben, wenn er in so einer Falle gefangen war.
Selbst ohne Training waren alle Dämonen ihrem Wesen nach kampfbereite Bestien. Daran glaubte er – es war seine persönliche Philosophie –, und er hatte das Gefühl, dass es, unabhängig davon, wie ausgeprägt die zivilisierte Fassade seines Volkes oder des einzelnen Dämons auch sein mochte, Instinkte gab, die sich nicht verleugnen ließen.
Sicher, Dämonen sahen aus wie Menschen, auch wenn sie größer und dunkelhäutiger waren als der Durchschnitt, aber wenn sie sich unter Menschen bewegten, galten sie bei diesen als ungewöhnlich attraktiv. Elijah wusste, dass der Grund dafür in ihren urwüchsigen, animalischen Genen lag. Sie sorgten für einen höheren Ausstoß an Pheromonen, die vom anderen Geschlecht wahrgenommen wurden, für eine raubtierhafte Wachsamkeit, die eine reizvolle Gefährlichkeit ausstrahlte, sowie für ungewöhnliche Augen, in denen ungewöhnliche Gewitztheit und Intelligenz lagen. Das waren die Eigenschaften von geborenen Jägern, die stets dicht unter der Oberfläche brodelten und die darauf warteten, dass jemand sich selbst zur Beute machte.
Dämonen waren zu Verhaltensweisen fähig, die so ungezügelt waren wie die Elemente, aus denen sie ihre Kräfte ableiteten; zu Verhaltensweisen, die sie bereitwillig akzeptierten und in die Fähigkeiten mit einbezogen, die sie ihr langes Leben hindurch entwickelten. All das machte sie zu furchterregenden Gegnern all jener, die an ihre verdrängten schlechten Seiten rührten.
Daher hätte selbst der unerfahrenste Grünschnabel es vermeiden können, in so eine missliche Lage zu geraten, dachte der Krieger verärgert. So in der Falle zu sitzen wie eine Maus, das war beschämend und empörend. Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Dinge plötzlich gegen ihn kehrten, während er seine Pflicht tat? Er war der Heerführer, er verfolgte alle Schattenwandler, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt war; er verfolgte alle, die keine Dämonen waren und ungeheuerliche Taten und Sünden gegenüber dem Volk der Dämonen begangen und damit den Dämonenkönig selbst herausgefordert und beleidigt hatten. Er war der Spezialist unter den Spezies, ein anthropologischer Stratege. Wenn irgendjemand wissen wollte, wie man Vampire, Lykanthropen und alle anderen Schattenwandler vernichten konnte, war Elijah die beste Informationsquelle. Leider waren Krieg und Frieden keine dauerhaften Zustände, und es war seine Pflicht, gewappnet zu sein, falls aus Freunden Feinde wurden oder aus Feinden bedrohte Freunde.
Elijah kämpfte gegen einen Schwächeanfall an, der sich über sein Bewusstsein legte wie eine Decke und ihm das Gefühl gab, als würde sich alles um ihn herum drehen. Er gehörte im Notfall an die Spitze der Armee seines Königs, und er musste die Spione und Attentäter ausbilden, die im Angesicht von bedrohlichen Machenschaften durch den Schutz der Dunkelheit schlichen. Daher wusste er alles, was es derzeit zu wissen gab über die Menschen, die sich in der perversen Kunst der schwarzen Magie versuchten. Es waren genau die, die in diesem Moment um ihn herumstanden wie Geier, die auf die letzten Zuckungen eines Opfers warteten.
Die Anwendung der schwarzen Magie verwandelte diese dummen menschlichen Männer und Frauen in Nekromanten, die ihre Seelen mit der dunklen Farbe des Bösen befleckten und die ihrem Fleisch einen so ekelhaften Gestank einpflanzten, dass kein Schattenwandler mit einer reinen Seele den Geruch ertragen konnte. Sie waren mächtig und konnten noch mächtiger werden, wenn sie ihre niederträchtigen Künste weiter ausbildeten und ausübten. Aber sie waren nicht mächtig genug, ihn zu fangen, geschweige denn, ihn zu töten. Nein, nur seine Dummheit konnte ihnen diese Möglichkeit gegeben haben.
Er war aus dem Wald hervor in ihre Falle getappt wie ein Hase, und überall waren Nekromanten und menschliche Jäger. Diese Sterblichen spürten mythische Wesen auf, um sie zu quälen und zu töten. Sie legten die Existenz und die Wohnorte der verborgenen Schattenwandler offen, und sie machten es sich zur Aufgabe, sie ganz auszulöschen, wobei sie sich nur auf Mythen, Legenden und auf Nichtwissen stützten.
Dämonen gehörten zu den in den Mythen der Menschen am wenigsten beschriebenen Schattenwandlern, aber Arten wie Vampire und Lykanthropen waren weniger gut dran. Über diese gab es zahlreiche Geschichten, die, ob sie nun stimmten oder nicht, die Jäger anstachelten, sie zu verfolgen, um Beweise vorlegen zu können und eine Rechtfertigung zu haben. Und ab und zu hatten sie Glück bei ihrer blutrünstigen Verfolgung. Für den Jäger war das ein Sieg, eine mentale Trophäe. Sie war rein mental. Der Körper eines toten Schattenwandlers sah oft nicht viel anders aus als der eines ermordeten Menschen, also nicht gerade die Art von Schatz, die ein Jäger sich an die Wand hängen und über die er Geschichten erzählen konnte – zumindest nicht außerhalb seiner eigenen Geheimgesellschaft von geistesgestörten Helden.
Neuerdings kam es immer öfter vor, dass man die Asche von Vampiren fand, die gepfählt und in der Sonne liegen gelassen worden waren, oder dass man auf Lykanthropen stieß, die mit für sie giftigen Waffen aus Silber erschossen oder erstochen worden waren. Und es waren auch Leichen von Dämonen gefunden worden, die mit Waffen aus ätzendem, entstellendem Eisen durchbohrt worden waren – wenn die Dämonen nicht stattdessen bei einer Abberufung in den vergifteten Pentagrammfallen von Nekromanten verstümmelt und vernichtet worden waren. Ein sinnloser Mord folgte auf den anderen, und die Liste der Opfer unter diesen beiden Gruppen von Menschen würde immer länger werden.
Der Verrat schmerzte. Dämonen hatten menschliche Sterbliche stets mit größter Wertschätzung behandelt, so ähnlich wie Eltern ihre Kinder beschützen. Sie und die anderen zivilisierten Schattenwandler beschützten diese Menschen bedingungslos. Vielleicht weil sie instinktiv wussten, dass sie, auch wenn sie derzeit nicht aus sich selbst heraus befähigt waren, heranzuwachsen und sich zu entwickeln, eines Tages möglicherweise dazu in der Lage sein würden. Es wäre schön, diese Entwicklung in den kommenden Jahrhunderten zu beobachten.
Das Dämonengeschlecht wusste zwar, dass nur vergleichsweise wenige Sterbliche ihm schaden wollten, aber dennoch schmerzte es heftig. Und jetzt, da sich die Jäger und die Nekromanten zusammenschlossen, hatte sich die Gefahr für sie alle verdoppelt.
Verdreifacht, dachte der Krieger trocken.
Elijah wusste, dass er in diesem Augenblick und mit diesem Gedanken dem Tode nah war. Der Krieger in ihm hätte sich während eines Kampfes, der seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, niemals irgendwelchen Grübeleien hingegeben. Aber der Kampf war so gut wie vorbei, was ihm ein paar kostbare Sekunden ließ, die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen.
Es war wie reine Ironie, dass diese schlecht informierten Menschen die mit Macht ausgestatteten Schattenwandler, die sie so fürchteten, vernichten wollten, sich jedoch nicht bedroht fühlten durch die schwarze Magie, mit der sie nun zu tun bekamen. Worin lag für sie der Unterschied? Was machte einen aus den reinen und schönen Elementen der Erde erschaffenen und damit ausgestatteten Dämon für diese Menschen so verwerflich? Und wieso wurde gleichzeitig die Anwendung der schwarzen Magie durch die Nekromanten von genau denselben selbstgerechten Gruppen gepriesen und hingenommen?
Lag das ganz einfach daran, dass der durchschnittliche Sterbliche von Natur aus und besonders wegen der kümmerlichen Ausprägung seines sechsten Sinnes nicht imstande war, das Urböse zu fühlen oder zu riechen? Waren die Menschen wirklich eine so naive Spezies, dass ihnen der Instinkt fehlte, Gut und Böse, Richtig und Falsch zu unterscheiden? Sicher, in dem Augenblick, als sie diesen Pfad betraten, konnten sie nicht mehr erkennen, dass sie einen Fehler machten, weil sie vom Bösen durchdrungen und eingenommen wurden. Aber besaßen sie keine innere Stimme, die sie vorher warnte?
Auf diese Fragen wusste Elijah keine Antwort. Und wie es schien, würde er in der ihm noch verbleibenden Lebenszeit auch keine Antwort mehr finden. Nach über fünf Jahrhunderten, nach Tausenden von Schlachten und Tausenden von Siegen schien Elijahs sogenannte Unsterblichkeit nun zu Ende zu gehen. Er hatte schließlich den falschen Tiger am Schwanz gepackt.
Oder sollte er lieber sagen: die falsche Tigerin?
Elija hob seine dunkelgrünen Augen und richtete sie voller Groll und Verachtung auf seine Angreifer, die stolz dastanden, weil sie ihn besiegt hatten. Die Jäger und die Nekromanten, die ihn umringten, waren alles Frauen. Sie gehörten zu einer von den Dämonen erst kurz zuvor entdeckten Frauensekte. Was jedoch in ihm brannte wie eine Feuersbrunst war die Anwesenheit zweier Dämoninnen, die an vorderster Front dieser mörderischen weiblichen Truppe standen.
Verräterinnen.
Die Dämonin auf der rechten Seite, die er als Ruth kannte, war ein mächtiger Geistdämon. Sie war die Erstgeborene dieses noch jungen Elements, das es erst etwas mehr als fünfhundert Jahre in der Dämonenkultur gab. Sie war ein ehemaliges Mitglied des Großen Rates und hatte viele, viele Jahre lang dazu beigetragen, die Grundlagen der Dämonengemeinschaft und deren Gesetze zu schaffen. Das Ausmaß ihres Treuebruchs war ungeheuerlich. Elijah konnte mit seinem Verstand kaum fassen, was hier vor sich ging.
Obwohl sie die Ältere von beiden war, sah sie ebenso jugendlich aus wie ihre Tochter, die Mary hieß und die dicht neben ihr stand. Da Dämonen äußerlich nur bis zu einem gewissen Grad alterten, wirkten die beiden eher wie Schwestern. Allerdings hatte Ruth einen Arm um die Taille ihres Kindes gelegt und strich der jungen Frau mit einer mütterlichen Zärtlichkeit über das Haar, die darüber hinwegtäuschte, dass Mary selbst schon fast hundert Jahre alt war. Es war zutiefst unnatürlich und musste selbst den Menschen um sie herum äußerst unheimlich vorkommen. Vielleicht wäre das auch so gewesen, wenn deren Augen nicht durch Hass und Furcht geblendet gewesen wären.
Es war unbegreiflich, dass diese beiden Frauen Elijahs eigenem Volk angehörten – diese Abtrünnigen, die sich offen mit diesen böswilligen Magierinnen und mit diesen selbstgerechten Jägerinnen zusammenschlossen, die in ihm einen so unheiligen Zorn entfachten. Natürlich wusste Elijah, worin die noch größere Ironie lag: Niemand von den Sterblichen hatte bemerkt, dass die beiden Frauen zu genau der Gattung gehörten, der sie nun mit dem Angriff auf ihn den Krieg erklärten. Keiner von ihnen war klar, dass Ruth von einer abartigen, fehlgeleiteten Rachgier getrieben wurde und dass sie sie nur benutzte – als Waffe, die sie gegen ihr einstiges Volk richten konnte.
Für die Sterblichen war sie nur eine überaus schöne, kluge Menschenfrau. Vielleicht auch eine begnadete Magierin, falls sie ihnen gezeigt hatte, mit welcher Meisterschaft sie bestimmte Aspekte des Elements Geist beherrschte. Diese Dämonin und ihre Tochter hatten die Menschen dazu angestachelt, Opfer anzugreifen, die von den Sterblichen niemals so leicht und so mühelos aufgespürt worden wären. Mit jedem Tag, den Ruth auf der anderen Seite der von diesen wahnsinnigen und fehlgeleiteten Menschen geschaffenen Trennlinie stand, würde sie ihnen mehr über die Dämonengattung enthüllen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie ihnen alle notwendigen Mittel an die Hand gab, ihre ehemaligen Freunde zu vernichten. Darüber hinaus waren auch alle anderen Schattenwandler, ob nun unschuldig oder nicht, durch Ruths über Jahrhunderte angesammeltes Wissen bedroht.
Das Einzige, was für die Menschen zählte, war ihre Angst vor dem Unbekannten, ihre Furcht vor Geschöpfen, die stärker waren, als sie sich je vorstellen konnten, und sie in der Überzeugung bestärkten, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis diese in der Nacht zum Leben erwachenden Wesen über die Menschheit herfielen, wie Mythen und Legenden das immer wieder vorhergesagt hatten. Dabei spielte es keine Rolle, dass jede Schattenwandlergattung das allein im vergangenen Jahrtausend unzählige Male hätte tun können, wenn sie gewollt hätte.
Mit Bitterkeit spürte Elijah, dass die Sterblichen selbst dann, wenn jemand ihnen die Wahrheit eröffnete, von allen Schattenwandlern nur das Schlimmste befürchteten, weil sie von hartnäckigen Vorurteilen und Ängsten beherrscht wurden. Der einzige Gedanke, der Elijah in diesem Moment tröstete, war, dass sein Tod dazu führen würde, dass die Ältesten und Mächtigsten seiner Art Vergeltung üben würden und dass dies dann sehr wahrscheinlich das Ende dieses Aufbegehrens des Bösen bedeutete.
„Du Ausgeburt der Hölle!“, zischte Ruth mit boshaftem Vergnügen und stachelte damit den Blutdurst der Frauen um ihn herum an. „Du Teufel in Menschengestalt!“ Sie lächelte und sagte mit leiser Stimme: „Elijah, der mächtige Heerführer!“ Dann lachte sie, und der Klang ihrer Stimme war verwirrend schön, während sie sich vorbeugte und ihn prüfend betrachtete. Flüsternd, sodass die anderen nicht mitbekamen, wie vertraut sie sich waren, fügte sie hinzu: „Noahs kleiner gehätschelter Pitbull, nur von Frauen zu Fall gebracht. Ich kenne deine Gedanken, Winddämon. Es wird keine Vergeltung in deinem Namen geben. Wenn wir fertig sind, werden sie nie mehr irgendetwas von dir finden.“
Ruth richtete sich wieder auf und warf mit einem gleichmütigen Lächeln ihr langes, üppiges blondes Haar zurück. Sie küsste ihr über alles geliebtes Kind auf die Wange, falls man einen heranwachsenden Dämon von fast neunzig Jahren als Kind bezeichnen konnte. Mary lächelte daraufhin unterwürfig, was Elijah den Magen umdrehte. Aber im Vergleich zu den Erwachsenen und Älteren ihrer Art und auch verglichen mit den Heranwachsenden ihres Alters war sie ein Kind. Obwohl sie die Schönheit und den voll entwickelten Körper einer Frau besaß, war sie, was Gefühl und Verstand betraf, noch ein kleines Mädchen, das völlig unter dem Einfluss seiner Mutter stand.
Warum hatte niemand Ruths emotionale Loslösung von den Dämonen bemerkt? Als Geistdämon hatte sie zweifellos die Wahrnehmung erfahrener Geistdämonen blockiert. Aber warum hatte nie jemand darauf bestanden, das Kind von seiner sich so unnatürlich und dominant verhaltenden Mutter zu trennen? Weil es nicht ihre Art war, jemandem das elterliche Recht abzusprechen, sein Kind nach eigenem Gutdünken zu erziehen? Jetzt würde ihr ganzes Volk mit diesen Fehlern und den Folgen leben müssen, und Elijah musste deswegen sterben.
Das nützt jetzt alles nichts mehr, dachte er und empfand tiefe Trauer darüber, welchen Weg die Dämoninnen eingeschlagen hatten. Beide waren nun verdorben, und sie verfaulten unter der atemberaubenden Hülle ihrer äußeren Schönheit. Er brauchte gar nicht erst seinen ihm angeborenen scharfen Geruchssinn einzusetzen, um den abstoßenden Gestank der Fäulnis wahrzunehmen, den ihre braunhäutigen Körper verströmten.
Elijah sank nach vorn. Er streckte eine Hand aus und versuchte, sich abzustützen, um nicht mit dem Gesicht in den Dreck zu fallen. Auch wenn die Situation hoffnungslos war, er würde nicht in Erinnerung bleiben als jemand, den man ganz leicht töten konnte. Er war zu stolz, um so zu enden. Hinter dem deutlich verkleinerten Kreis lagen niedergestreckte und erschlagene Gegner, ein Zeichen dafür, wie erbittert er um sein Leben gekämpft hatte. Auch wenn es Frauen waren – jeder, der versuchte, ihn zu töten, hatte es nicht anders verdient.
Er bemerkte, dass die Gestalten um ihn herum näher kamen. Der Gestank der schwarzen Magie, den die menschlichen Zauberinnen ausdünsteten, war übermächtig und unerträglich. Überall um ihn herum knisterten Energiefelder, während sie mit ihrer Macht spielten. Blaue Bögen aus Elektrizität zuckten zwischen ihnen hin und her, fast wie bei einer makabren Variante des Spiels „Blödmann in der Mitte“. Elijah presste seine Lippen grimmig zusammen, als ihm klar wurde, was es in diesem Fall hieß, der Blödmann in der Mitte zu sein.
Der erste Blitz, der aus dem Kreis der Frauen auf ihn geschleudert wurde, traf ihn am Rücken. Der Krieger krümmte sich nach hinten, und seine Arme zuckten. Die Muskeln seiner breiten Brust dehnten sich, sodass Blut aus seiner Wunde schoss. Das Blut floss so heftig und so schnell, dass er spürte, wie es warm sein Hemd durchtränkte und zugleich den Baumwollstoff seiner Jeans vollkommen durchnässte.
Er fühlte sich benommen, schwindelig und irgendwie weit weg, als der nächste Blitz seinen Körper in eine andere Richtung krümmte. Er konnte riechen, wie sein Fleisch verschmorte, und er wunderte sich, dass dieser Geruch den Gestank der Zauberinnen überlagerte. Er versuchte, sich zu verwandeln, in der Gestalt des Windes Trost zu finden, von dem er so sehr ein Teil war. Wenn er doch wenigstens die Kraft gehabt hätte, sich in einen ganz schwachen Wind zu verwandeln, hätten sie ihm nichts mehr tun können. Aber die Zeit dafür war verstrichen. Er hatte seine Situation falsch eingeschätzt, und jetzt war er zu schwer verwundet und zu schwach und konnte sich nicht einmal auf die einfachste Verwandlung konzentrieren.
Er verfluchte sich, dass er so dumm gewesen und in diese weibliche Falle getappt war. Dabei hatte er die anderen noch gewarnt, dass niemand sicher sei, solange die Abtrünnigen, Ruth und Mary, frei herumliefen und den Abschaum unter den Menschen aufhetzten. Hatte er ihnen nicht im letzten halben Jahr, seit sie den Verrat der Abtrünnigen das erste Mal bemerkt hatten, eingeschärft, dass jeder zum Opfer der beiden werden konnte, weil sie ein so präzises Wissen über die Dämonen hatten? Ruth, deren Geisteskrankheit unter dem Deckmantel mütterlicher Liebe für eine verletzte Tochter daherkam, kannte so viele Namen, so viele Fakten. Sie konnte diese Mörderinnen zu jedem Mitglied des Großen Rates führen.
Und er würde der Erste sein, erkannte Elijah, und erneut flammte ein ohnmächtiger Zorn in ihm auf. Als Nächstes würden die Vollstrecker an die Reihe kommen, der Heiler Gideon und vielleicht auch Noah, der Dämonenkönig selbst. Und er würde nicht mehr da sein, um seine Pflicht zu tun und sie zu beschützen. Elijah dachte an Jacob und Isabella, die Vollstrecker, die gerade Eltern einer wunderschönen Tochter geworden waren, die das seidige schwarze Haar ihrer Mutter und die ernsten dunklen Augen ihres Vaters geerbt hatte.
Der Heerführer war auserwählt worden, einer von den beiden zu sein, die außer ihren Eltern ihrer Namenszeremonie beiwohnten. Einer von nur zwei Dämonen auf der Welt zu sein, denen die Ehre zuteilwurde, die Rolle als Siddah des engelsgleichen Babys einzunehmen, war die größte Ehre, die ein Freund dem anderen erweisen konnte. Kurz vor ihrem sechzehnten Lebensjahr hätte er sie in sein Haus gebracht und die Erziehung des Kindes übernommen, als wäre es seine eigene Tochter. Er hätte ihr die Sitten und die moralischen Grundsätze ihres Volkes vermittelt und ihr gezeigt, wie sie mit der ihr angeborenen Kraft umgehen und wie sie sie beherrschen konnte. Diese Verantwortung hätte er nur mit einem anderen Wesen geteilt, der weiblichen Siddah des Kindes. In diesem Fall war das Magdelegna, die Schwester des Königs.
Der Gedanke an Legna machte seinen Schmerz noch größer. Sie war selbst schwanger, etwa im fünften Monat, und unter den wachsamen Augen ihres Mannes Gideon in Sicherheit. Aber welche Zukunft stand diesen beiden unschuldigen Wesen bevor? Würden sie gejagt werden? Ausgelöscht werden? Als wären sie nur herumsurrende Fliegen, die man mit einem gezielten Schlag zerquetschen muss? Das Schicksal der Babys ging Elijah zu Herzen, und er machte sich Vorwürfe, dass er nicht besser auf sich selbst achtgegeben hatte, damit er auch weiterhin ihr Beschützer sein konnte.
Der Krieger spürte, wie ein schwarzer Schleier sich über ihn legte, aber das Gefühl kam ebenso aus dem Wissen, dass er seinem Volk und seinem König gegenüber versagt hatte, wie von dem tödlichen Blutverlust. Er hörte weibliches Lachen, das durch die Lust am Töten, die darin mitschwang, hässlich verzerrt wurde – Laute, die keine Frau je von sich geben sollte, ob sie nun eine Schattenwandlerin war oder ein Mensch.
Schließlich brach Elijah zusammen. Er rollte sich im Gras auf den Rücken und versuchte, sich auf die Sterne über ihm zu konzentrieren. Wie aus weiter Ferne nahm er wahr, dass die bösartigen Frauen weiter ihre Späße mit ihm trieben und wie in einem sadistischen Spiel Stromschläge durch seinen Körper jagten. Der schwarze Himmel wurde von Blitzen durchzuckt. Sein warmes Blut sickerte in das trockene Laub und in das Gras unter ihm. Seit seinem dreizehnten Lebensjahr hatte er das Wetter angerufen. Was hätte er in diesem Augenblick nicht für einen einfachen Regenschauer gegeben. Ein letztes Aufbegehren, durch das der Boden durchnässt wurde, sodass die gesamte Elektrizität, die sie durch seinen Körper schickten, zu seinen Mörderinnen zurückgeleitet wurde.
Aber dazu war er nicht mehr in der Lage. Seine Gedanken waren alles, was er noch hatte. Es war ihm gleichgültig, ob Ruth seine Gefühle und als Ältere vielleicht sogar seine Gedanken wahrnehmen konnte, obwohl normalerweise nur Männer ihres Typs über diese Gabe verfügten. Ihr Geist war gebrochen, und die böse Magie, von der die anderen angesteckt worden waren, hatte auch sie verdorben, und meist entstanden aus solch bösartigen Verbindungen unerwartete Kräfte.
Doch nein. Das Einzige, was Elijah noch kümmerte, war die Beschaffenheit der Welt, die er bald hinter sich lassen würde. Nie mehr über einsame Berge und unberührte Strände hinwegstreichen wie der Wind. Sich und die Welt nie mehr reinwaschen wie der Regen. Nie mehr langsam vom Himmel auf die Erde schweben und sich dabei ziellos treiben lassen wie die Schneeflocken. Dass er der Freude an diesen Dingen für immer beraubt sein würde, das ließ ihn verzweifelt aufbegehren. Er öffnete den Mund, um seinen Zorn hinauszubrüllen, aber er brachte keinen Ton heraus.
Zu seiner Verwunderung hörte Elijah das Echo seines Schreis in der Ferne.
Es war wild, ungezügelt. Unglaublich schön, und es ließ ihn erzittern, als es durch seine Nervenbahnen fuhr. Er versank in seiner eigenen inneren Nacht, aber der Schrei wiederholte sich, und er merkte, wie er darum kämpfte, ihn zu hören und zu verstehen, was das bedeutete. Plötzlich wich die Kälte in seinem Körper einer unerklärlichen Hitzewelle, und er spürte, wie seine Sinne zu ihm zurückzukehren versuchten, wie sie versuchten, ihre Arbeit wiederaufzunehmen, wie sie sich mit jeder noch funktionierenden Zelle bemühten, an jenem ursprünglichen, überwältigenden Klang festzuhalten.
Aber er war dem Tod zu nah. Mit einem Gefühl schmerzlicher Enttäuschung, die sein Inneres durchzog, erlag er seinen Verletzungen.