Michael Winterhoff
Die Wiederentdeckung
der Kindheit
Wie wir unsere Kinder glücklich
und lebenstüchtig machen
Inhaltsverzeichnis
Prolog
>TEIL I:
SPIEL OHNE GRENZEN
Kapitel 1: KLEINKIND AM STEUER
Kapitel 2: DIE VERSCHOLLENE KINDHEIT
Kapitel 3: IM BÄLLEBAD
TEIL II:
GRENZENLOS VERLOREN
Kapitel 4: UNENDLICHE LIEBE
Kapitel 5: ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN
Kapitel 6: KIND AUS GLAS
TEIL III:
DAS TOR ZUM GLÜCK
Kapitel 7: DIE EROBERUNG DER WELT
Kapitel 8: IMMER IN VERBINDUNG
Kapitel 9: KINDER MACHEN GLÜCKLICH
Epilog
Anmerkungen
Anhang
PROLOG
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich 2004 zum ersten Mal das neue CLS-Mercedesmodell auf der Straße sah. Geduckt und buckelig sah das Auto aus, Seitenfenster wie Sehschlitze und ein total unproportioniertes Heck. Mein erster Gedanke war: »Mein Gott! Ist der potthässlich!« Jedes Mal, wenn in den folgenden Wochen und Monaten wieder einmal ein CLS an mir vorbeifuhr, hat es mich geradezu geschüttelt. Wie konnte jemand nur einen hohen fünfstelligen Betrag für so ein missratenes Design ausgeben? Und dann ... habe ich mich an den Anblick gewöhnt. Bald dachte ich: »Eigentlich ist der gar nicht so schlecht ...« Irgendwann begann ich sogar, das Modell richtig schick zu finden. Meine neue Einstellung gipfelte in dem Gedanken: »Das ist ja großartig, wie weit der Designer damals vorausgedacht hat.«
Erst als ich vor einigen Monaten eine Oldtimer-Ausstellung besuchte und dort einige der alten Mercedes-Modelle bewunderte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: »Boah, das sind schöne Autos!« Die fließenden, rasanten Linien und die Lebensfreude, die jedes einzelne Exemplar ausstrahlte ... Gegen dieses traumhaft sichere Design kam die missgestaltete Seepocke von 2004 nicht an. Dass sich meine Beurteilung des Designs der neuen Automodelle geändert hatte, war mir gar nicht bewusst gewesen. Das war einfach mit der Zeit passiert. Erst auf dem Oldtimerplatz ist mir schlagartig klar geworden, wie weit ich mich von meiner ursprünglichen Einschätzung entfernt hatte. Auf einmal war die Relation wieder da! Es war, als wäre ich aufgewacht. Ich konnte es gar nicht verstehen: Wie hatte ich das Modell von 2004 jemals für schön halten können!
Die Antwort ist ganz einfach. Auf den Straßen war ja fast nur noch die neue Version zu sehen gewesen, das Klobige war zur Normalform geworden. Denn auch die anderen Marken hatten nachgezogen und sahen vergleichbar aus. Die Oberklasse von BMW, Audi und Co. – alles massige Gefährte, die andere Verkehrsteilnehmer eher einschüchtern als bewundernde Seufzer entlocken.
Ob ich ein bestimmtes Auto schön oder hässlich finde – das ist rein subjektiv und eigentlich nicht der Rede wert. Doch ich erzähle diese Geschichte aus einem ganz bestimmten Grund. Ich will die Augen dafür öffnen, dass viele unserer Einstellungen, Erinnerungen und Erwartungen sich schleichend ändern. Nur wenn wir in einer Art Zeitsprung die alte und die neue Version nebeneinander betrachten können, merken wir, wie weit wir uns – ohne es mitzubekommen oder gar zu wollen – von unserem ursprünglichen Urteil entfernt haben. Es ist wie bei einem Vorhang, der jahrzehntelang am Fenster hängt. Es scheint uns so, als wäre er immer noch derselbe. Erst wenn wir ein Stoffmuster danebenhalten, aufbewahrt in einer dunklen Kiste und kaum gealtert, wird sichtbar, wie sehr seine Farben ausgeblichen sind.
Diesen Effekt will ich in diesem Buch nutzen. Denn innerhalb der letzten 25 Jahre hat ein Veränderungs- und Gewöhnungsprozess stattgefunden, der die Lebenswelten unserer Kinder komplett auf den Kopf gestellt hat. Fakt ist: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von heute unterscheiden sich wesentlich von denen, die etwa um 1990 herum aufgewachsen sind. Nur eine Generationsspanne hat es gebraucht, um radikal veränderte Verhältnisse als völlig normal erscheinen zu lassen.
Diese Aufzählung soll hier genügen, auch wenn ich diese Liste natürlich noch verlängern könnte. Das Fatale ist nicht nur, dass so vieles im Argen liegt, sondern dass nur die wenigsten Erwachsenen wahrnehmen, dass überhaupt eine Veränderung stattgefunden hat. Vielen reicht ein »Ach, das ist doch alles nicht so schlimm, aus uns ist ja schließlich auch was geworden!«, um ihre eventuell aufkommenden Zweifel und Sorgen im Keim zu ersticken. Man gewöhnt sich eben an alles. Vor allem, wenn es keine Alternativen zu geben scheint.
Erst im Vergleich dazu, wie es früher einmal war, springt ins Auge, was heute schiefläuft. Könnte ein Zeitreisender aus dem Jahr 1990 unsere Zeit besuchen, dann würde er seinen Augen nicht trauen. Ich bin überzeugt, dass er noch nicht einmal verstehen könnte, was hier abläuft. Weil es eben so verrückt ist und so völlig an den Bedürfnissen der Kinder vorbei geschieht. Merkwürdigerweise haben wir, die wir in der heutigen Zeit leben, nicht den Eindruck, dass sich im Vergleich zu 1990 viel geändert habe. Deshalb möchte ich die Leser dieses Buches immer wieder einmal zurück in das Jahr 1990 führen. Bei dieser Zeitreise treffen wir auf Alex und Alexa (geboren 1990). Sie helfen uns dabei, die Welt von Luis und Luisa (geboren 2017) besser zu verstehen. Die Erlebnisse dieser Vier stehen für die aller Kinder und Jugendlichen, die zu der jeweiligen Zeit groß werden bzw. geworden sind.
Im Vergleich zu der Welt, in der Luis und Luisa zu Hause sind, wird klar: »Ach, stimmt. So war das ja mal! Hmm, jetzt sehe ich, dass bei uns einiges aus dem Ruder gelaufen ist.« Alex und Alexa aus der Vergangenheit helfen den Erwachsenen von heute zu verstehen, wie sie ihren Kindern Luis und Luisa in Familie und Schule wieder eine Kindheit bieten könnten, die ihren Namen wirklich verdient hat.
Die Neunzigerjahre sind aus Gründen, die ich noch weiter ausführen werde, für mich der Wendepunkt. Wohlgemerkt: Ich leide nicht unter nostalgischen Anwandlungen; nichts liegt mir ferner, als die Vergangenheit zu verklären oder gar die Verhältnisse vergangener Jahrzehnte wieder installieren zu wollen – weder die der Neunzigerjahre und erst recht nicht die der von Muff und hierarchisch geprägten Beziehungen geprägten Fünfziger. Oder anders gesagt: Ich will nicht den alten, verschlissenen Vorhang mit neuer Farbkraft künstlich aufpeppen. Mein Augenmerk richtet sich auf die Zukunft. Der Rückgriff auf die Zeit um 1990 dient allein dazu, deutlich zu machen, dass für unsere Kinder die Welt seitdem nicht besser geworden ist. Sondern dass sie verstörter, ausgelieferter, missbrauchter sind als zuvor. Und dass es höchste Zeit ist, wieder auf ihre tatsächlichen Bedürfnisse zu achten.
Gehen Sie mit mir in diesem Buch auf die Suche nach der Kindheit, so wie Kinder sie brauchen. Eine Kindheit, die sie zu glücklichen, lebenstüchtigen, selbstständigen Erwachsenen mit gut entwickelter Persönlichkeit werden lässt, die darauf brennen, als beziehungsfähige und verantwortungsvolle Menschen ihren Platz in der Welt zu finden.
Teil I:
SPIEL OHNE GRENZEN