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Es gibt keine Zufälle
Dieses Buch wäre vermutlich nie entstanden, wenn ich nicht in mehrfacher Hinsicht betroffen wäre. Es geht um Syrien, es geht um Jugendliche in Deutschland, und es geht um den Islam. Zu allen drei Themen habe ich starke Bezüge.
Ich bin gläubige Muslimin und als Kind syrischer Eltern 1978 in Deutschland geboren. Ich bereiste Syrien beinahe jährlich. Seit fast vier Jahren ist mir das nicht mehr möglich. Dass es dort einmal zu solch einem Bürgerkrieg kommen würde und ich mich wegen dieses Teils meiner Identität und vor einem so katastrophalen Hintergrund erneut mit der Frage nach Heimat auseinandersetzen müsste, hätte ich nicht für möglich gehalten. Syrien war seit meiner Kindheit ein fester Bezugspunkt für mich. Syrien bedeutete für mich Familie, Fernweh, aber auch Fremdheit.
Als ich mich nach dem Abitur 1997 entschloss, Arabistik und Islamwissenschaft zu studieren, war das eine reine Bauch- und Sympathieentscheidung. Ich hätte nie daran gedacht, dass ich mit diesem Studium jemals etwas zum Zusammenleben der deutschen Gesellschaft beitragen könnte.
Im Jahr 2003 begann ich, im Stadtteil Dinslaken-Lohberg als Lehrerin für Islamkunde (seit 2014 als Lehrerin für Islamischen Religionsunterricht) zu arbeiten. Inzwischen muss ich in den letzten zwölf Jahren weit mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler muslimischen Glaubens unterrichtet haben. Bereits zu Beginn meiner Tätigkeit stellte ich große soziale und emotionale Defizite bei meinen Schülern fest. Seit Jahren beschäftige ich mich mit der Problematik der sozialen und emotionalen Integration dieser muslimischen Jugend.
Im Frühjahr 2013 wurde ich dann von der Nachricht überrascht, dass eine Handvoll meiner ehemaligen Schüler in das Land meiner Eltern gereist war, um sich dort an den Aktionen der islamistischen Terrorgruppen zu beteiligen. In Deutschland waren sie von Salafisten angeworben worden. Sie hatten sich ihnen angeschlossen, weil sie bei ihnen das zu bekommen glaubten, was sie zuvor vergeblich suchten: Respekt, Orientierung und Zusammenhalt. Das Ganze traf mich wie ein Schlag. Ich begann, mich noch intensiver als früher mit den Fragen des Salafismus zu beschäftigen. In den Medien wurde und wird derweil vieles dazu geschrieben. Aber stimmt das auch? In seiner Titelgeschichte »Der Dschihad-Kult« vom 18. November 2014 skizziert der Spiegel beispielsweise zwei in Deutschland angeworbene Kämpfer wie folgt: »Es sind junge Männer wie David G. aus dem Allgäu, ein höflicher, ruhiger Junge, der eine Lehre machte und 18 war, als er Deutschland verließ, sich dem IS anschloss und getötet wurde im Gefecht. Männer wie Mustafa K. aus Dinslaken, der mit abgetrennten Köpfen in Syrien in die Kameras lächelt. Übergewicht, schlecht in der Schule, keine Chance bei Frauen, einer, der oft verprügelt wurde und zu viel trank und im Morgengrauen besoffen in der Dönerbude am Marktplatz saß.«
Ich schreibe dieses Buch nicht als ausgewiesene Salafismusexpertin. Da die Bewegung des Salafismus noch so jung ist, stehen Forscher, Behörden und Praktiker ohnehin erst am Anfang, wenn es darum geht, das Phänomen zu begreifen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann also niemand allgemeinverbindliche Aussagen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Daten treffen. Vieles basiert auf Beobachtungen und ersten Analysen. Wir müssen uns dem Problem noch viel weiter annähern. Denn wir können dem Salafismus in Deutschland erst dann gezielt und effektiv etwas entgegenstellen, wenn wir ihn richtig verstehen.
Ich schreibe dieses Buch, weil ich junge Menschen kennengelernt und zeitweise begleitet habe, die sich haben verführen lassen. Ich konnte mit Menschen sprechen, deren Kinder verschwunden sind. Ich habe mit Jungen wie Mädchen gesprochen, die in den selbst ausgerufenen Dschihad gezogen sind und wiederkamen oder hier dafür werben. Und ich kenne mich als Islamwissenschaftlerin mit jener Religion aus, die hier von Extremisten benutzt wird.
In diesem Buch möchte ich Fragen stellen und nach Antworten suchen. Lässt sich die Radikalisierung aufhalten? Wie? Mit welchen Menschenfängermethoden gewinnt der politische Salafismus unsere Kinder? Warum lassen sich muslimische wie nichtmuslimische Kinder im 21. Jahrhundert überhaupt auf eine alte, äußerst dogmatische Lehre ein? Gibt es Unterschiede zwischen deutschstämmigen Familien und Familien mit ausländischen Wurzeln? Das Buch gibt Einblicke in die Gedankenwelt von jungen Deutschen, die bereit sind, im Irak und in Syrien zu töten. Nur, wenn wir verstehen, was unsere Kinder antreibt, sind wir in der Lage, mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Ich möchte zeigen, dass wir alle dazu beitragen können und müssen, dass salafistische Menschenfänger weniger erfolgreich Jagd auf unsere Jugend machen können.
Es gibt wenige Begriffe, die in unserer Gesellschaft so schnell Karriere gemacht haben, wie der des »Salafismus«. Das Wort war vor weniger als zehn Jahren gerade mal einer Handvoll Experten bekannt. In seiner heutigen Bedeutung bezeichnet es ein relativ neues Phänomen des Extremismus, das neben die schon länger bekannten Formen des Rechts- und des Linksextremismus getreten ist. Der Verfassungsschutz befasst sich seit 2006 mit dem Salafismus. Nur kurz davor hatte einer der bis heute prägenden Köpfe der Bewegung, Pierre Vogel, die Öffentlichkeit gesucht. Bereits damals sorgte er unter Jugendlichen mit öffentlichen Auftritten und Darstellungen im Internet für Aufsehen. Auch ich nehme das Phänomen seit etwa dieser Zeit bei meiner Arbeit verstärkt wahr.
Zunächst müssen wir kurz klären, was Salafismus überhaupt ist. Der religiöse Salafismus ist eine Strömung innerhalb des Islam. Im Islam gibt es verschiedene Glaubensrichtungen wie die der Sunniten und der Schiiten sowie liberale, konservative und fundamentalistische Hauptströmungen, die sich wiederum unterteilen lassen. Der Salafismus gehört zum sunnitischen Islam und ist ein Teil des fundamentalistischen Spektrums. Fundamentalisten geben vor, sich auf die Ursprünge der Religion zu konzentrieren. Sie wollen den Koran wortwörtlich verstehen. Damit ignorieren sie, dass die Zeit stetig fortschreitet und neue Erkenntnisse bringt. Fundamentalisten sind rigide, verweigern Kompromisse und wehren jegliche Kritik an ihren Auffassungen ab.
Der Salafismus selbst lässt sich ebenfalls unterteilen: in eine unpolitische Strömung, in der es den Anhängern nur darum geht, ihre religiösen Vorstellungen privat zu leben. Hier sprechen wir von puristischem Salafismus. Dann gibt es politische Salafisten, die gezielt die Gesellschaft und den Staat, in dem sie leben, durch Missionierung nach ihren Vorstellungen verändern wollen. Die dritte Gruppe schließlich setzt sich aus dschihadistischen Salafisten zusammen. Sie wollen auch die Gesellschaft verändern, das aber unter ausdrücklicher Einbeziehung von Gewaltanwendung. Die Bezeichnung »dschihadistisch« kommt vom arabischen Wort dschihad. Im Deutschen wird das zumeist mit »Heiliger Krieg« übersetzt, womit der bewaffnete Kampf für die Religion des Islam gemeint ist. Die Übersetzung ist unglücklich, weil sich die Vorstellung von »heilig«, wie man sie im Christentum kennt, so nicht einfach auf den Islam übertragen lässt.
Der Begründer der sunnitisch-hanafitischen Rechtsschule, Abu Hanifa (699 – 767), soll die Welt schon in der Frühzeit des Islam in dār al-harb (wörtl. »Haus des Kriegs«) und dār al-islām (»Haus des Islam«) eingeteilt haben. So werden Gebiete, in denen der Islam und damit die Scharia nicht als Gesetzesgrundlage praktiziert werden, als dār al-harb bezeichnet. Alle anderen Gebiete, in denen der Islam das Staatsgefüge bestimmt, nennt man dār al-islām. Etwas später wurde dann zur Aufweichung dieser Polarisierung auch noch die Kategorie des dār al-’ahd (»Haus des Vertrags«) eingeführt. Das sind Gebiete, in denen rechtliche Absprachen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen getroffen wurden und somit ein befristeter Frieden gesichert wurde. Nach klassischer theologischer Vorstellung heißen die Kriege gegen die Menschen im Kriegsgebiet dschihād. Der Märtyrertod wird als schahīd bezeichnet.
Dschihad bedeutet aber zunächst schlicht »Anstrengung« oder »Bemühung«. Es gibt zwei Formen dieser Bemühung: Die wichtigere Bemühung liegt darin, täglich eine Art Selbstüberwindung und -läuterung durchzuführen. Das ist der dschihād al-akbar, der »größere Dschihad«. Der »kleinere Dschihad« (dschihād al-asghar) bezieht sich vor allem auf kriegerische Verteidigungskämpfe, aber auch auf Eroberungskämpfe. Diese theologischen Konzeptionen müssen im historischen Kontext betrachtet werden. Um beispielsweise einen kriegerischen Dschihad auszurufen, bedarf es eines religiösen Oberhaupts, dem alle Muslime auf der ganzen Welt loyal ergeben sind. Da dies seit dem Tod des Propheten Muhammad de facto nicht mehr der Fall ist, wird es nie einen Dschihad geben können, an dem sich alle Muslime geschlossen beteiligen würden. Auch das völkerrechtliche Verständnis von Kriegs- und Friedensgebiet ist damit im Grunde hinfällig, da es keinen von allen Muslimen anerkannten Kalifen mehr gibt.
Fakt aber ist heute: Die Idee des Dschihad wird ungeachtet dessen, in allen Nuancen seiner Bedeutung gelebt. Der kriegerische Dschihad ist de facto Realität, auch wenn er kaum noch etwas mit den klassischen religiösen Überlegungen zu tun hat, sondern vorwiegend auf dem brutalen weltlichen Machtstreben einiger selbsternannter Anführer beruht. Vor allem aus einer politischen Motivation heraus entsteht also der Wille, die ganze Welt den religiösen Überzeugungen der jeweils treibenden Kraft zu unterwerfen. Wie das zu geschehen hat – ob mit Gewalt oder ohne –, wird allerdings sehr unterschiedlich verstanden – auch bei den Salafisten. Ihnen gilt der Islam als die beste Religion, und sie sind davon überzeugt, dass ihre Religion für alle gelten muss. Allerdings gehen die Puristen unter ihnen nicht kämpferisch vor, sondern missionieren mit gewaltfreien Mitteln. Und selbst wenn auch das nicht unserer Toleranzvorstellung entsprechen mag, so stellen diejenigen keine direkte Bedrohung für uns dar.
Anders ist es mit jenen Salafisten in Deutschland, die als Prediger agieren und die politischen und gesellschaftlichen Strukturen verändern wollen, auch wenn sie nicht direkt zu Gewalt aufrufen, und natürlich mit solchen, die aktiv Werbung für den dschihadistischen Salafismus machen. Letztere werden von Staat und Polizei verfolgt, inhaftiert oder gegebenenfalls abgeschoben. Was jemand in seinen eigenen vier Wänden glaubt, geht dagegen erst einmal niemanden etwas an. Und gegen öffentliche Prediger, die nicht zu Gewalt aufrufen, können die Sicherheitsbehörden eines demokratischen Rechtsstaats kaum vorgehen. Sie müssen von uns, der Zivilgesellschaft, mit den Mitteln der Aufklärung bekämpft werden. Denn brandgefährlich sind auch die politischen Salafisten, die sich friedlich geben. Es sind vor allem sie, die Jugendliche anlocken, mit der salafistischen Szene in Kontakt bringen und in das Gedankengut einführen. Wer dann erst einmal in der Szene ist, kommt auch leicht in Berührung mit dschihadistischen Salafisten.
Salafismus in Deutschland können wir auch nicht mit der Terrorgruppe »Islamischer Staat« gleichsetzen. Diese nutzt zwar den dschihadistischen Salafismus als ideologischen Rahmen für ihren Terror, aber nicht jeder Salafist schließt sich dieser Gruppe an, die im Irak und in Syrien mit schockierender bestialischer Gewalt eine Region besetzt und den Menschen dort ihre Schreckensherrschaft aufgezwungen hat. Früher schlossen sich kampfbereite deutsche Salafisten noch unterschiedlichen islamistischen Terrorgruppen in Syrien an, seit dem Aufstieg im Sommer 2014 und den militärischen Erfolgen üben die IS-Dschihadisten nun die größte Anziehungskraft auf gewaltbereite Salafisten in Deutschland aus. Sie haben das zuvor dominierende Terrornetzwerk al-Qaida in den Schatten gestellt.
Bis Ende 2014 waren nach Angaben der deutschen Behörden etwa 550 Menschen aus Deutschland ausgereist, um im Irak und in Syrien zu kämpfen. Etwa 60 starben dort. Knapp ein Drittel kam zurück und lebt nun wieder in Deutschland. Die Zahl der Salafisten bewegte sich nach Darstellung des Verfassungsschutzes zu diesem Zeitpunkt auf knapp 7000 Mitglieder zu. Die Zahl bezieht sich allerdings nur auf den harten Kern, Sympathisanten im Umfeld sind dabei nicht eingeschlossen. Es ist jedoch weniger die reine Zahl der Mitglieder, die die Szene so gefährlich macht. Das quantitative Bedrohungspotenzial im rechtsextremistischen Bereich ist deutlich größer. Auch die Linksextremisten können noch wesentlich mehr Menschen mobilisieren. Unter 4,5 Millionen Muslimen machen Salafisten in Deutschland nur einen verschwindend geringen Anteil aus, erst recht in Relation zu mehr als ca. 80 Millionen Deutschen. Das besonders Besorgniserregende am Salafismus ist seine Dynamik. Die Zahl der Mitglieder wächst rasant. Immer mehr Jugendliche schließen sich an. Die Zahlen haben sich in wenigen Jahren vervielfacht. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Angaben über die Größe der Szene allein auf Erhebungen des Verfassungsschutzes und der deutschen Sicherheitsbehörden basieren, deren Finanzierung auch von der Einschätzung abhängt, wie brisant eine Szene gerade eingestuft wird. Unabhängige Zahlen gibt es bislang so gut wie keine. Die meisten Experten gehen jedoch davon aus, dass die gezeigten Tendenzen zutreffend sind.
Die meisten deutschen Muslime kritisieren den sogenannten »Islamischen Staat« vehement. Sie sind genauso entsetzt und verängstigt angesichts der Geschehnisse wie die meisten anderen Bürger auch. Die ganze islamische Welt leidet unter den aktuellen Entwicklungen. Sie leidet darunter, dass ihre Hoffnungen in die Revolutionen des Arabischen Frühlings enttäuscht wurden und diese teilweise in einer neuen Form von Extremismus gipfelten. Das betrifft in erster Linie die Menschen, die vor Ort der unmittelbaren Gefahr durch den IS ausgesetzt sind. Aber es betrifft auch diejenigen, die sich fernab der Krisenregion bedroht fühlen durch pauschale Anschuldigungen – als ob ihre Religion sie automatisch zu Sympathisanten der Salafisten machen würde.
Bei den Arabern spielt der Islam stets eine wichtige Rolle, aber lange Zeit traten sie allenfalls als konservative Gläubige auf. Die islamische Radikalisierung unter Arabern begann in dem Moment, als die politischen und ökonomischen Bedingungen in den arabischen Ländern sich verschlechterten beziehungsweise keine Verbesserungen brachten. Seit der Iranischen Revolution von 1979 setzten einzelne Gruppen verstärkt auf politische Ideologien, die sich auf den Islam berufen, weil ihnen das authentischer und erfolgversprechender erschien, als die importieren westlichen Ideen von Nationalismus, Kapitalismus, Sozialismus oder Kommunismus. Gerade jetzt, wo auch der Arabische Frühling eben nicht erreicht hat, was man sich erhofft hatte, wird der IS – jenseits der Gräueltaten, durch die er in erster Linie wahrgenommen wird – beispielsweise von den Verlierern aus den Reihen des hinweggefegten Regimes von Diktator Saddam Hussein im Irak auch als Chance zur Rückkehr an die Macht gesehen. Die einfache Bevölkerung arrangiert sich manchmal schon aus rein existenziellen Gründen: Der IS zahlt bereits einfachen Kämpfern mehrere hundert Dollar pro Monat. Das ist für Menschen in Syrien oder im Irak sehr viel Geld. Ihre Entscheidung, für den IS zu kämpfen, ist also längst nicht immer ideologisch, sondern oft sehr pragmatisch motiviert. Für einige geht es ums pure Überleben.
Mit den militärischen »Erfolgen« wuchs die Faszination für diese Terrorgruppe auch unter deutschen Salafisten. Das bedeutet freilich nicht, dass der IS nun über diese gezielt nach Deutschland greifen würde. Die konkrete Gefahr des Salafismus hierzulande zeigt sich zunächst auf subtile Art und Weise. Es geht zum Beispiel um unser Wertesystem, unser Freiheitsverständnis, das mit den Wertevorstellungen der Salafisten kollidiert. In Deutschland gilt die Freiheit jedes Individuums. Von den Salafisten wird Freiheit untergraben, vor allem die Freiheit von »Schwächeren«, Frauen oder Andersgläubigen, die als nicht gleichwertig gelten. Auch uns selbstverständlich erscheinende Werte wie die Meinungsfreiheit oder die Demonstrationsfreiheit werden untergraben oder missbraucht. Dass sich salafistische Wertevorstellungen auch in Deutschland ausbreiten, sehen wir auf offener Straße, wenn Jugendliche bei öffentlichen Veranstaltungen lautstark »allāhu akba« – »Gott ist groß« brüllen und sich unseren gesellschaftlichen Normen und Werten widersetzen. Oder wenn zur Aushebelung des deutschen Rechtsstaats die sogenannte »Scharia-Polizei« in Wuppertal patrouilliert. Immer wieder werden auch Materialien mit islamistischem Gedankengut auf deutschen Straßen verteilt.
Eine unmittelbare Gefahr geht von jenen aus, die in Syrien oder dem Irak bereits gekämpft haben und dann nach Deutschland zurückgekehrt sind. Von den 150 bis 180 Heimkehrern haben wohl mindestens 30 Kampferfahrung, wobei die Dunkelziffer vermutlich um einiges höher liegt. So gering ihre Zahl ist: Sie haben eine militärische oder paramilitärische Ausbildung erhalten, und man muss davon ausgehen, dass sie einer Art »Gehirnwäsche« unterzogen wurden, die mit der Rückkehr nach Deutschland nicht unbedingt ausgelöscht wird. Vielmehr: Diese zumeist jungen Menschen kennen radikales islamistisches Gedankengut aus eigener Erfahrung, sie haben ihre Gewaltbereitschaft bereits unmissverständlich unter Beweis gestellt und verfügen möglicherweise über Kenntnisse im Vorbereiten von Anschlägen. Und wir wissen nicht, welche Ziele sie hier verfolgen. Könnte man ihnen ihre Taten nachweisen oder wüsste man, dass sie in Deutschland Terrorplanungen anstrebten, hätte man sie längst festgenommen und angeklagt. Und nicht jeder kommt hasserfüllt aus Syrien und dem Irak zurück. Manche Rückkehrer haben der Ideologie abgeschworen. Sie haben sich abgewandt vom Dschihadismus, begreifen ihr Handeln als großen Fehler und wollen am liebsten durch nichts mehr an diese Episode ihres Lebens erinnert werden.
Allerdings kehren manche auch traumatisiert zurück. Vor allem aus dem Internet kennt man die Bilder von Jugendlichen, die an Enthauptungen beteiligt sind, die abgetrennte Köpfe in die Kameras halten, an Erschießungen teilnehmen. Und wenn sie nicht selbst aktiv mitmachen, so sehen sie zumindest zu oder bekommen Bilder und Videos dieser Gräueltaten gezeigt. Solche Erfahrungen wirken sich unweigerlich auf die Psyche oder die Persönlichkeit dieser jungen Menschen aus. Die Folgen sind nicht absehbar, bergen aber sicher Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Hier stellen sich Fragen der psychologischen Betreuung und der Resozialisierung, um sie wieder in unsere Gesellschaft zurückzuführen.
Die Möglichkeit, diesem Gefahrenpotenzial ganz einfach durch eine Abschiebung entgegenzuwirken, erübrigt sich bei den meisten durch eine simple Tatsache: Diese Jugendlichen sind deutsche Staatsbürger. Ohne konkrete Veranlassung können wir sie auch nicht zeitlebens wegsperren, und schließlich wurden sie ja hier in unserem Land sozialisiert.
Was wir gerade erfahren, ist: Die Gefahr, die vom militanten Salafismus ausgeht, macht vor Landesgrenzen nicht halt. Langfristig wird es darum gehen, die Ursachen der Radikalisierung in der salafistischen Szene ausfindig zu machen und zu benennen, um dann Strategien dagegen zu entwickeln. Es wird nicht reichen, die Symptome zu bekämpfen. Die Rückkehrer sind definitiv ein Sicherheitsproblem, und es empfiehlt sich, sie im Auge zu behalten – ihr Verhalten, ihre Reintegration. Doch während die Behörden diese Rückkehrer im Visier haben, geraten weit mehr Jugendliche in unserer Gesellschaft ins Visier der Salafisten – als potenzielle Rekruten. Wir müssen diese Jugendlichen schützen und schon früh genug gegen solche Übergriffe stärken – mit Aufklärung, mit langfristigen Programmen und Initiativen, in denen vor allen Dingen ihre Sozialkompetenz im Vordergrund steht. Wir müssen dafür sorgen, dass ihnen die Möglichkeit geboten wird, ein gesundes Islamverständnis zu bekommen. Hier kann beispielsweise der Islamische Religionsunterricht helfen. Wir müssen beginnen, Präventionsarbeit zu leisten, wenn wir verhindern wollen, dass auch unsere eigenen Kinder nach Syrien gehen, um zu töten – auch wenn diese in nicht muslimischen Familien aufwachsen, denn auch Nichtmuslime konvertieren zum Salafismus.
Die Frage dieses Kapitels kann ganz eindeutig beantwortet werden: Ja, der Salafismus in Deutschland und darüber hinaus ist gefährlich. Letztlich hat er das Ziel, moderne, muslimische wie nicht muslimische Gesellschaften, zu unterwandern. Diese Gefahr ist zwar wegen der geringen Größe der Gruppe derzeit noch nicht groß und eher theoretisch vorhanden, nimmt aber zu. Die Fakten sprechen für sich: Immer mehr junge Menschen ausländischer wie auch deutscher Herkunft wenden sich dem Salafismus zu, und auch wenn die deutsche Innen- und Sicherheitspolitik bereits versucht, diesem Phänomen etwas entgegenzusetzen, genügt das nicht. Wir alle, Muslime wie Nichtmuslime, müssen mehr tun, um unsere Gesellschaft zu schützen.