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Elisabeth Herrmann

Seifenblasen küsst man nicht

Elisabeth Herrmann

Seifenblasen

küsst man

nicht

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cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

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Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2013

© 2013 cbt Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Songzitate aus:

Carly Rae Jepson : Call me maybe (604 Records, Kapitel 1)

Macy Gray: I try (Epic, Kapitel 7)

The Script: Hall of Fame (Phonogenic, Kapitel 8)

Bob Dylan: Blowin’ in the wind (Columbia, Kapitel 17)

Pink Floyd: Wish you were here (Harvest Records, Kapitel 20)

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler

unter Verwendung von Motiven von

© Istockphoto (Svitlana Pidburtna, Kim Sohee);

© shutterstock (yukitama)

SK · Herstellung: kw

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-09617-5
V003

www.cbt-jugendbuch.de

Für Shirin

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1.

Erste Sonnenstrahlen tanzten über das Kopfsteinpflaster. Die Luft war noch feucht vom Tau der Nacht und die Vögel sangen ihr Frühkonzert. Ab und zu startete ein Auto. Das war das Einzige, was die Idylle störte. Man hätte meinen können, in einer dieser verschlafenen Vorstädte zu sein und nicht mitten in der Großstadt Berlin.

Bis der Wagen aus der Einfahrt geprescht kam.

Er raste, ohne zu halten, über den Bürgersteig und setzte hart auf der Straße auf. Coralie konnte im letzten Moment ihr Rad zurückreißen, doch ihr Anhänger schaffte die schnelle Bewegung nicht mehr – er kippte um. Zweihundertneunzehn Zeitungen fielen in den Rinnstein.

»Vollidiot!«, schrie sie empört.

Der Wagen war flach wie eine Flunder und hatte dunkel getönte Scheiben. Sie konnte nicht erkennen, wer am Steuer saß. Aber es war wohl kaum eine sorgende Mutter, die so früh am Morgen ihre Kinderschar behütet in den nächsten Hort bringen wollte.

»Das können Sie ruhig noch lauter sagen.«

Erschrocken fuhr Coralie herum. In der Garageneinfahrt saß ein Mann. Er hatte seinen elektrischen Rollstuhl beinahe geräuschlos die Einfahrt hochfahren lassen und bremste nun kurz vor dem zurückgefahrenen Tor ab. Er war noch nicht sehr alt, Mitte vierzig vielleicht. Wahrscheinlich war er einmal ein kräftiger und sportlicher Typ gewesen, doch das Schicksal, das ihn in dieses Gefährt gezwungen hatte, hatte auch tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Dazu kam derzeit noch ein kaum unterdrückter Ärger.

»Vollidiot«, wiederholte Coralie, aber nicht mehr ganz so laut.

Auf der Straße röhrte der Motor. Der Fahrer gab Gas, bis die Reifen durchdrehten. Einige Zeitungen flatterten davon. Coralie rannte ihnen nach. Beim Aufheben sah sie dem Wagen nach, der gerade die Kreuzung erreicht hatte. Das straff gefederte Auto kam mit den Pflastersteinen nicht zurecht. Es hoppelte davon wie ein Hase auf der Flucht. Es sah so albern aus, dass Coralie grinsen musste.

»Ist jemand hinter ihm her?«, fragte sie und drehte sich wieder nach dem Mann um.

Doch der war verschwunden. Gerade glitt das automatische Rolltor zu. Es war wie ein eiserner Theatervorhang, der sich vor einem Bühnenbild schloss. Coralie erkannte noch, dass in der Tiefgarage weitere Autos standen. Daneben erhob sich eine geschwungene Steintreppe, die zu einer geradezu monströsen Villa führte. Dann fiel das Tor mit einem satten Laut ins Schloss.

»Steuerfahndung«, murmelte sie ärgerlich und richtete den Anhänger wieder auf. Während sie die restlichen Zeitungen einsammelte und hoffte, dass ihr keine in den Gulli gefallen war, wünschte sie dem Fahrer alles an den Hals, was einem den Tag verderben konnte. Inklusive Zeitungen austragen im Grunewald.

Es war halb fünf Uhr morgens und sie hatte noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Während die anderen ihre Route im Schlaf kannten, musste sie sich noch einarbeiten. Das war mühsam, denn die Frau, deren Urlaubsvertretung sie hier übernahm, war krank geworden und hatte sie deshalb nicht einweisen können. Die meisten Anwohner in dieser Gegend waren wohl außerdem der Meinung, Namensschilder und Hausnummern seien unter ihrer Würde.

Diese Adresse hier, zum Beispiel. Woher sollte man wissen, wer hier wohnte? Intuition? Coralie suchte die geschlossene Einfahrt nach etwas ab, das man für einen Briefkasten halten könnte. Rund um das Anwesen hatten die Besitzer eine zwei Meter hohe Mauer aus Waschbeton gezogen, damit auch bloß niemand einen Blick auf das Haus werfen konnte. Wie albern. Albern und hässlich.

Schließlich fand sie zwanzig Meter weiter den Zugang zum Grundstück. Ein gläsernes Kameraauge beobachtete misstrauisch jeden, der sich den heiligen Hallen nähern wollte. Und hier entdeckte sie auch eine Klingel auf einem hochglanzpolierten Chromschild. Rumer stand darauf. Sie verglich den Namen mit ihrer Liste und fand ihn. Zwei Zeitungen. Wahrscheinlich saßen sich Herr und Frau Rumer am Frühstückstisch gegenüber und schwiegen sich hinter den aufgeschlagenen Zeitungen an. Oder es hatte jahrelang Streit gegeben, weil er den Sportteil und sie die Nachrichten lesen wollte. Manchmal rettete ein zusätzliches Zeitungsabo Ehen …

Kein Briefkasten. Wohin jetzt mit den Zeitungen? Über den Zaun werfen? Erst auf den dritten Blick erkannte sie, dass das Chromschild auch die Klappe war. Sie warf zwei Exemplare in den Schlitz und schob ihr Fahrrad weiter, bis das Ende der Waschbetonmauer erreicht war. Dahinter kam ein Jugendstilzaun aus Schmiedeeisen. Ein bisschen verrostet, windschief und angenagt vom Zahn der Zeit. Genau wie das Haus, das er beschützte. Gewaltige Rosenbüsche wucherten hier und warfen ihre Ranken bis über die Zaunspitzen. Es duftete süß und schwer. Coralie blieb stehen und zog eine der schweren tiefroten Blüten zu sich heran.

»Guten Morgen!«

Erschrocken ließ Coralie los. So früh war sonst außer ihr niemand auf den Beinen. Hinter dem Gartenzaun bewegten sich die verwilderten Triebe, und dann tauchte das Gesicht einer älteren Dame auf. Ihr Lächeln war so herzlich und vertrauenerweckend, als würde sie Reklame für Backpulver oder Schokopudding machen. Das Einzige, was das Bild störte, war ihr giftgrüner Turban. Coralie hatte nicht gewusst, dass so etwas überhaupt noch von lebenden Personen getragen wurde.

»Bitte nicht in den Briefkasten, sondern dort hinein«, sagte die ältere Dame und deutete auf eine kleine Röhre im Dickicht, die kein Mensch entdecken würde, wenn man ihn nicht mit der Nase darauf stieß. Ihre Stimme war fröhlich und zwitscherte wie ein satter Spatz. »Ich bekomme so wenig Post, deshalb habe ich meistens den Schlüssel nicht dabei, wenn ich das Haus verlasse. Sie sind neu? Ich habe Sie noch nie hier gesehen.«

»Ich bin die Urlaubsvertretung.« Coralie griff nach einer Zeitung, rollte sie zusammen und reichte sie der Dame über den Zaun. »In vier Wochen ist wieder alles beim Alten.«

Und ich habe die Fahrkarte hinein in meine Träume. Und werde nie, nie wieder meinen Wecker auf die Ziffer Drei stellen … Höllendrei. Weiterschlaf-Drei. Aufsteh-Folter-Drei. Never ever.

»Hoffentlich nicht!« Die Dame schmunzelte. »Es gibt so wenig junge Leute hier in der Gegend. Ich bin übrigens Asta. Asta Sander.« Die Frau schob die Rosenzweige etwas zur Seite und reichte eine schmale Hand durch den Zaun. Sie trug einen Morgenmantel, der aussah wie ein japanischer Kimono.

Verblüfft erwiderte Coralie die Geste. »Coralie Mansur. Ich glaube, ich muss jetzt weiter.«

»Aber natürlich. Ich will Sie nicht aufhalten. War das David, der gerade die ganze Nachbarschaft geweckt hat?«

»David?«

Asta beugte sich vor. Sie sah aus wie eine in die Jahre gekommene Blumenfee. »Der Sohn von Tom. Thomas Rumer.« Sie erwartete offensichtlich, dass Coralie die Vor- und Zunamen, nahen und entfernten Verwandtschaftsverhältnisse und wahrscheinlich auch noch besonderen Vorlieben aller Bewohner des Villenviertels kannte.

»Der Mann im Rollstuhl?«, fragte sie. Die Leute hier interessierten sie nicht besonders. Sie wohnte in einem Neuköllner Hinterhof. Da hatte man es nicht so mit Rosenranken und Messingschildern. Trotzdem berührte sie das Schicksal des unbekannten Mannes. Thomas Rumer. Irgendwo hatte sie den Namen schon einmal gehört.

Asta nickte. »Ja. Eine schlimme Sache war das, aber lange vor Ihrer Zeit.«

»Bestimmt.« Coralie hatte das Gefühl, dass die alte Dame wohl nichts dagegen hätte, die zufällige Begegnung noch etwas auszudehnen. Wenn sie an jedem Haus so trödeln würde, bekämen die Letzten ihre Zeitung am Abend. Sie deutete auf den Anhänger, der noch nicht einmal zur Hälfte geleert war. »Ich muss weiter.«

Asta Sander nickte. »Morgen bringe ich Ihnen einen Kaffee hinaus. Sie sehen aus, als könnten Sie ihn vertragen!«

»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe leider keine Zeit.« Coralie schwang sich auf den Sattel. Das nächste Haus lag ein ganzes Stück die Straße hinunter. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihre Tour vor sechs zu Ende bringen wollte. Dann ab in die S-Bahn, zurück nach Neukölln, ein kurzes Frühstück und schnell in die Schule, wo sie hoffentlich nicht wieder einschlafen würde.

»Dann bis morgen«, flötete Asta, nahm die Zeitung und verschwand hinter den Rosenhecken.

Coralie lugte ihr hinterher. Ein schmaler Weg aus Felssteinen führte zu dem kleinen Haus, das über und über mit Efeu berankt war. Es passte nicht in diese Gegend. Asta auch nicht. Noch nie hatte Coralie jemand auch nur gegrüßt, wenn sie hier wider Erwarten doch einem Frühaufsteher begegnet war.

Sie trat in die Pedale. »Bis morgen!«, rief sie.

Das nächste Haus war wieder eines, das passte. Riesig. Erker. Türmchen. Holzbalkone. Englischer Rasen. Tiefgarage für schätzungsweise ein halbes Dutzend Autos. Und natürlich Videokameras und Schilder mit zähnefletschenden Dobermännern über der Aufschrift »Hier wache ich«. Oder »Kalaschnicom Security«. Die Jungens mussten einen Bomben-Job machen, so oft, wie ihre Schilder neben den Kameraaugen an den Eingangstüren angebracht waren.

Die Villenkolonie Grunewald war so ziemlich die nobelste Ecke Berlins. Leute wie Coralie betraten solche Häuser sowieso nur durch den Dienstboteneingang. Oder sie blieben ganz draußen, steckten Zeitungen in messingpolierte Briefkästen und machten, dass sie weiterkamen, bevor die Hunde und die Brüder Kalaschnicom wach wurden. Manchmal sah Coralie sich in den spiegelnden Fenstern der kleinen Konditorei, wenn sie vorüberradelte. Eine schmale Gestalt in Jeans und T-Shirt, die langen braunen Haare offen oder zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein bisschen müde und glücklicherweise schnell genug vorüber, um sich nicht länger anschauen zu müssen.

Sie fand sich ganz okay. Ja, das war wohl der Eindruck, den sie von sich selbst hatte. Ganz okay. Großartig, phänomenal, cool, abgefahren … Das waren meistens die anderen. Aber es gab Momente in Coralies Leben, in denen sie sich so fühlte, als ob sie die Welt aus den Angeln heben könnte: beim Tanzen. Dafür lebte sie. Dafür lohnte es sich, um drei Uhr nachts aufzustehen. Es war Glück pur. Nicht denken, nur fühlen. Alles rauslassen. Sie hätte nie geglaubt, dass ihr das einmal so wichtig werden würde. Die anderen aus ihrer Klasse liebten Kino, Chatten, Clubs, Klamotten … Sie liebte Tanzen.

Mit drei hatte sie ihre erste kleine Rolle im Kinderballett gehabt. Und jetzt, mit siebzehn, stand sie kurz vor dem Erreichen ihres ganz großen Traums: eine Wild Card für Khaleds Dance-Academy-Workshop in London zu bekommen. Die Auswahlkriterien waren die schärfsten, die es gab. Aber Khaled hatte bereits mit den Crews von Nicki Minaj, Two Doors Cinema Club und Flo Rida gearbeitet. Seine Choreografien waren die heißesten, und die Stars rissen sich darum, ihre Tänzer – und wohl auch sich selbst, flüsterte man – von ihm coachen zu lassen. Für Coralie war Khaled einfach der Größte. Sie träumte davon, dabei zu sein. Einen anderen Traum hatte sie nicht. Wollte sie nicht. Gab es nicht. Immer noch besser als gar kein Traum.

Aber der Workshop kostete Geld. Und London war teuer. Und deshalb radelte sie seit Anfang der Woche die stillen Straßen des Grunewalds ab, um den Menschen die neuesten Nachrichten druckfrisch zum Morgenkaffee zu liefern.

Nach einer Stunde war Coralie fertig mit ihrer Runde. Es war zehn nach sechs. Langsam erwachte die Stadt. Auf dem Rückweg zur S-Bahn kamen ihr erste Pendler entgegen. Putzfrauen, Sekretärinnen, Chauffeure, alle auf dem Weg in eine dieser hochherrschaftlichen Villen. Deren Bewohner verließen selten so früh ihr Haus. Wenn doch, dann glitten die schweren Stahltore lautlos zur Seite, und dunkle Limousinen mit getönten Scheiben rollten langsam, man beachte das Wort: langsam!, auf die Kopfsteinpflasterstraße. Oder es waren riesige Geländewagen, hinter den Seitenscheiben die verschlafenen Gesichter von kleinen Kindern, die in den Hort gebracht wurden.

Hey, I just met you, and this is crazy

But here’s my number, so call me maybe

It’s hard to look right, at you baby

But here’s my number, so call me maybe …

Schon von Weitem hörte sie den Gesang. Eigentlich mochte Coralie die Lieder, die dieser Typ, der aussah wie ein vergessener Informatik-Student, jeden Morgen voller Inbrunst sang. Aber sie hatte sie zu oft gehört und in seiner Version wurden sie auch nicht besser. Trotzdem kramte sie ein 50-Cent-Stück hervor. Ein Euro war einfach zu viel und zu schwer verdient. In seinem Hut lagen nur ein paar kleine Geldstücke. Wahrscheinlich war es viel zu früh für Musik. Vor allem in dieser Ecke.

Call me maybe …

Er bedankte sich mit einem Grinsen, klampfte weiter auf seiner Wandergitarre und wies mit einem kleinen Nicken auf eine Telefonnummer, die er mit Kreide an die Wand geschrieben hatte.

»Träum weiter!«

Coralie schaffte in letzter Sekunde die S-Bahn um sechs Uhr vierzehn und plumpste mit einem Aufatmen in die letzte Bank. Der Ohrwurm blieb. Sie würde dieses Lied den ganzen Tag nicht mehr loswerden. Während sie Richtung Neukölln fuhr, zählte sie die Tage bis zu den Sommerferien. Nur noch zwei Wochen, dann konnte sie sich wenigstens noch einmal hinlegen und den Schlaf nachholen, bevor sie am Nachmittag in die Ballettschule ging. Durchhalten, dachte sie noch. Durchhalten. Für London, für Khaled, für meinen Traum. Dann war sie eingeschlafen.

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2.

Mansur Autowerkstatt stand in leuchtend blauen Lettern an der Hauswand. Das war auch das Einzige, das leuchtete. Als Coralie, eine Tüte Brötchen unter dem Arm, den Hinterhof erreichte, hörte sie schon das Quietschen der Hebebühne. Sie stellte das Fahrrad an die Hauswand und schlenderte, die Hände in den Jeanstaschen vergraben, hinüber in den niedrigen Anbau. Vor über hundert Jahren hatte er einmal als Pferdestall gedient. Zu einer Zeit, in der noch Gaslicht die Nacht erhellte und Kachelöfen in den Wohnungen bullerten. Lange hatte er leer gestanden. Bis sie nach Berlin gezogen waren.

An die Zeit davor konnte sich Coralie kaum noch erinnern. Aber an ein Gefühl: dass alles anders, alles besser gewesen war. Dass es Wiesen gegeben hatte und weite Felder. Wie sie zum ersten Mal in einer Seifenkiste den Hügel hinuntergerast und im Graben gelandet war (daher die kleine Narbe am Knie). Dass ihr Vater lange weg war und ihr immer, wenn er wiederkam, ein neues Auto zum Spielen mitgebracht hatte. An Geldsorgen konnte sie sich nicht erinnern. Die waren danach gekommen …

Danach, als sie das Haus verlassen hatten und in die Stadt ziehen mussten. Ihr Vater kam zunächst zwar jeden Abend heim, aber er war müde und ausgelaugt, und ihre Mutter weinte oft. An ein, zwei Zusammenstöße auf der Straße konnte sie sich erinnern. Fremde Leute, die sie anschrien und ihnen böse Dinge hinterherriefen. Das wurde erst besser, als ihr Vater seinen Job hinschmiss und sich selbstständig machte. Geld hatten sie nach wie vor nicht. Aber er war sein eigener Herr.

Da hatte Coralie schon lange aufgehört, mit Autos zu spielen. Denn Autos waren Unglück. Sie hatten ihnen erst das Haus genommen und dann den Vater, der von morgens früh bis abends spät schuftete. Er brachte die Rostkarren der Nachbarschaft wieder auf Vordermann und schien einen geheimen Pakt mit dem TÜV zu haben, denn alle Autos, die er reparierte, liefen anschließend wieder anstandslos. Am Anfang war Coralie noch oft in der Werkstatt gewesen. Sie hatte diesen Geruch gemocht: Öl, Glut, Feuer, untermalt vom satten Tuckern der Motoren. Doch irgendwann hatte sie mitbekommen, dass sie nur an zweiter Stelle stand. Damals hatte sie noch nicht begriffen, dass ihre Eltern ums Überleben kämpften. Damals hatte sie geglaubt, alles sei wichtiger als sie: die Werkstatt, die Kunden, die Autos. Vor allem die Autos. Coralie hasste Autos.

Am Eingang zur Werkstatt blieb sie stehen. Im Halbdunkel erkannte sie die geschwungenen Formen eines beigefarbenen Karman Ghia.

»Guten Morgen!«, rief sie.

Es duftete nach Kaffee und Schmieröl.

»Gute Morgen!«, dröhnte die Stimme ihres Vaters aus der Unterwelt.

Coralie ging in die Knie und beugte sich hinunter in den Werkschacht. Ihr Vater leuchtete gerade die Unterseite des Wagens ab und schüttelte beim Anblick der Hinterachse bedauernd den Kopf.

»Sieht nicht gut aus«, sagte Coralie. Der Rost hatte sich fast zu den Bremsbacken durchgefressen. »Auswechseln?«

»Non. Mal sehen, was von der Substanz noch zu retten ist. Guten Morgen, ma petite

René Mansur drückte ihr die Taschenlampe in die Hand und kletterte aus dem Schacht nach oben. Obwohl es so früh war, blitzten seine Augen hellwach. Er griff nach einem Lappen, um sich die Hände abzuwischen. Ihr fiel auf, dass sie trotz ihrer Turnschuhe eine Winzigkeit größer war als er. Das versetzte ihr einen kleinen Stich. Wie lange würde er sie noch seine Kleine nennen? Sie sahen sich ähnlich. Jedem, der Vater und Tochter nebeneinander sah, fiel das auf. Von ihm hatte sie die kastanienbraunen störrischen Haare geerbt, die Sommersprossen und das kleine, trotzige Kinn. Das Lächeln, hätte ihre Mutter noch hinzugefügt und wäre René dabei durch die struppigen Locken gefahren. Ihr Hugenotten. Immer charmant und nie um eine Ausrede verlegen.

»Wo ist Maman?«, fragte Coralie. Die kleine Eigenheit, französische Kosenamen zu gebrauchen, hatte sie immer gemocht.

»Oben. Wir können gleich frühstücken. Sag ihr, ich bin in fünf Minuten fertig.«

»Aber nicht mit dem da.« Sie wollte auf den Oldtimer deuten, als von der Straße ein untertouriges, bullerndes Geräusch zu ihnen drang. Es wurde lauter. Jemand fuhr gerade mit schätzungsweise 500 auf Schritttempo gedrosselten PS auf ihren Hof. Sie stürmte hinaus und wäre um ein Haar auf der Motorhaube eines feuerroten Ferraris gelandet.

»Matze!«, schrie sie und warf sich dem Mann, der sich unter Ächzen und Stöhnen aus der viel zu niedrigen Sitzschale befreite, an den Hals. »Wo kommst du denn her? Bist du unter die Millionäre gegangen?«

Matze, der beste, älteste und offenbar einzige Freund ihres Vaters, war klein, rund und prall wie ein Medizinball. Die Haare lichteten sich über seiner Stirn. Eigentlich war er das genaue Gegenteil von René, nur das Lächeln der beiden ungleichen Freunde ähnelte sich: Es war offen, herzlich und ehrlich. Mit Matze hatte sie Autofahren gelernt, immer rund um die Abladerampe auf seinem Schrottplatz.

»Coralie«, schnaufte er, nachdem er ihr drei Küsse auf die Wangen geschmatzt und beinahe die Brötchentüte samt Inhalt zerdrückt hatte. »Wenn ich diesen Wagen hätte, hätte ich ihn nicht mehr.«

Sie sah Matze ratlos an.

»Dann säße ich schon längst in der Ardeche auf meinem kleinen Weingut, dass ich mir für das Geld angeschafft hätte.« Er lachte dröhnend. »René! Tut mir leid, dass ich dich so früh störe.«

Die Freunde begrüßten sich mit Handschlag und einer schnellen Umarmung. Während René um den Wagen herumging, immer noch den Lappen in der Hand, erklärte ihm Matze, was es damit auf sich hatte.

»Runtergeheizt bis aufs Gestell. Ist ja nicht mehr der Jüngste. Kannst du ihn mal durchchecken?«

»Dafür habe ich das Gerät nicht.«

»Einfach nur durchsehen. Dann kann er wieder für ein Jahr in die Garage. Wofür nennt man dich denn The Car Whisperer?« Er zwinkerte Coralie zu. »Meine Ersatzteile, dein Können, mein lieber René, und wir rocken das Blech! – Gehört einem Bekannten von mir. Ist das ein Schätzchen? Oder?«

Coralie hob bewundernd die Augenbrauen, weil man das von ihr erwartete. So war das in einer Familie von hugenottischen Autoschraubern. Als sie sechs war und man sie nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt hatte, hatte sie »Frostschutzmittel« geantwortet. Das war rosa. Manchmal glaubte sie, René wäre ein Sohn statt einer Tochter lieber gewesen. Einer, mit dem er fachsimpeln konnte und der den Wagenheber nicht fallen ließ, weil es Zeit war für Tanzstunden.

Mit einem Seufzen wandte sie sich ab und ging über den Hof ins Haus. Sie bewohnten den ersten Stock des grauen Mehrfamilienhauses. Frischer Kaffeeduft stieg ihr in die Nase, als sie die Wohnungstür öffnete.

Ihre Mutter Marion deckte in Frotteebademantel, Pantoffeln und einem um die feuchten Haare geschlungenen Handtuch den Tisch. An anderen Frauen hätte dieser Look vielleicht etwas asselig ausgesehen. Das weiße Handtuch war schon leicht grau und die Pantoffeln hatten auch schon bessere Tage gesehen. Doch Marion konnte sogar einen Werkstattoverall tragen und damit aussehen wie Taylor Swift – okay, eine etwa fünfundvierzigjährige Taylor Swift vielleicht. Zumindest aber wie jemand, der selbst nach zwanzig Jahren Ehe immer noch ein verliebtes Lächeln ins Gesicht ihres Mannes zaubern konnte. Glücklicherweise hatte sich das in den letzten Jahren etwas gelegt. Coralie erinnerte sich noch daran, wie peinlich es ihr gewesen war, dass ihre Eltern die Einzigen gewesen waren, die auf Klassenkonferenzen Hand in Hand erschienen.

»Guten Morgen, chérie!« Marion holte eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank. Sie hatte winzige Fältchen um die Augen, wenn sie lächelte. »Wie war die Tour?«

»Anstrengend. Ich will ins Bett.« Sie nahm ihrer Mutter die Tüte ab und trank einen großen Schluck, bevor sie sie auf den Tisch stellte. Marion nahm das stirnrunzelnd zur Kenntnis.

»Was ist? Außer mir trinkt sie doch keiner.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und legte theatralisch die Arme auf den Tisch und den Kopf gleich dazu.

Ihre Mutter seufzte. »Noch zwei Wochen, dann sind Ferien. Jetzt iss erst mal was und trink einen Kaffee, dann sieht die Welt ganz anders aus.«

Coralie richtete sich auf, nahm ein Brötchen aus der Tüte und sah aus dem Fenster. René und Matze standen immer noch neben dem Ferrari und fachsimpelten. Die Bande aus dem dritten Stock – Jacob, Benjamin und Sascha – stürmte gerade johlend auf den Hof. Matze hatte alle Mühe, die sechs-, acht- und elfjährigen Jungen davon abzuhalten, das Auto zu entern.

René lächelte sein Glückslächeln. Klar. Autos. Da hatte er Zeit. Da ließ er andere Aufträge auch mal sausen, wenn so ein Megakracher in seinem Hof stand. Aber wenn Coralie von Khaled und dem Workshop in London anfing, war alles anders. Kein Geld. Das Totschlagargument. Erst die Werkstatt, dann noch einmal die Werkstatt und dann erst mal ganz lange nichts.

»Ein Frühstück verändert nicht die Welt«, sagte sie.

»Die Welt nicht, aber die Sicht darauf.« Marion stellte sich neben sie und reichte ihr eine Tasse. »Wir sind gesund. Wir haben Arbeit. Und in vier Wochen hast du das Geld für diesen Wunder-Workshop zusammen. Ich habe mir mein erstes Fahrrad auch mit Zeitungsaustragen verdient. Und dein Vater hat eine ganze Gang dazu gebracht, alten Damen die Einkaufstüten für fünfzig Pfennige nach Hause zu tragen.«

»Danke. Ja. Ich kenne die Heldendramen.« Coralie nahm die Tasse und trank einen Schluck.

»Wir können dir nicht mehr geben als das, was wir haben. Immerhin ist es die Hälfte der Kosten, die du für London ausgeben musst.«

»Ist schon gut.«

»Und auch diese dreihundert Euro müssen wir irgendwie aufbringen. Das ist nicht einfach. Für uns alle nicht.«

Coralie versuchte ein Lächeln. Es sah weder charmant noch französisch aus. »Ich weiß. Trotzdem bin ich todmüde. Ist das okay?«

Ihre Mutter nickte. »Es ist immer gut, für seine Ziele zu kämpfen.«

Ja, dachte Coralie. Aber die wenigsten Helden müssen anschließend noch zur Schule.

Laura wartete an der Bushaltestelle. Wenn Coralie ihre beste Freundin in einem Wort beschreiben sollte, würde ihr Spitzmaus einfallen. Eine süße Spitzmaus. Laura hatte kleine dunkle Augen und eine winzige Nase. Sie zwirbelte ihre glatten schwarzen Haare zu einem Dutzend kleiner Zöpfe, die ihr wie Pinsel vom Kopf standen. Alles an Laura war zierlich. Nur ihre Schultasche nicht. Die war riesig, weil Laura zusätzlich zu ihren Schulsachen ein halbes Atelier mit sich herumschleppte. Blöcke, Stifte und – Mangas. Laura liebte Mangas. Vor ein paar Jahren hatte sie mit dem Zeichnen angefangen. Mittlerweile hatte sie schon eine kleine Fangemeinde im Netz.

»Caisha sollte doch nicht den Irreversibler nehmen.« Das war es, was aus Lauras Mund kam, wenn andere Leute »Guten Morgen« sagten. »Ein normales Raumschiff täte es doch auch!«

Der Irreversibler war – darauf war Coralie wirklich stolz – ihre Erfindung: eine Art Lichtgeschwindigkeitsrakete, die nur einen klitzekleinen Fehler hatte: Sie gewann ihre Energie aus sich selbst, war also nur einmal zu gebrauchen. Coralie hatte den Entwurf und die Konstruktion geliefert, nachdem Laura fast verzweifelt war. Seitdem stand sie ihrer Freundin in technischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite – mochten die auch noch so absurd sein (»Wie fängt man eigentlich die Kügelchen wieder ein, die beim Pinkeln im Weltraum verloren gehen?« »Was, wenn du beim superluminaren Tunneln zu schnell zurückkommst und dir selbst gegenüberstehst?«)

Die Kriegerin Caisha hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Laura. Coralie liebte Lauras Mangas! Meistens drehten sie sich um Caishas geheime Aufträge in entfernten Galaxien und die anschließende überstürzte Flucht in Überlichtgeschwindigkeit vor bösen Häschern und um einen geheimnisvollen Unbekannten, in dem sie manchmal Jimi aus der Nebenklasse zu erkennen glaubte. Zumindest trugen beide, Jimi und der rätselhafte dunkle Held aus Lauras Mangas, schulterlange schwarze Locken.

»Hast du Mathe?«, fragte Coralie.

Irreversibel waren in ihrer Welt die schwarzen Löcher, die sich bei Infinitesimalrechnung auftaten.

»Klar. Ich geb’s dir in der großen Pause. Die Schlagzeilen von heute?«

»Krise in Griechenland. Krise in Afghanistan. Krise in meinem Portemonnaie.«

»Die Sonne und ihr Planetensystem gehen heute ins Kino.« Laura wies mit einem Kopfnicken auf die kichernden Mädchen, die sich neben den Stufen zum Eingang zusammengefunden hatten und jeden Neuankömmling in ihrer Mitte herzten, küssten und umarmten. »Ihr Vater stiftet mal wieder Freikarten für die ganze Klasse.«

Die »Sonne« war Marie. Marie strahlte ununterbrochen, selbst wenn ihr der Lehrer die nächste versemmelte Klassenarbeit übergab. Sie war groß, dünn und blond. Ihrem Vater gehörten eine Reihe Multiplex-Kinos, weshalb sie sich um Fragen wie Beliebtheit oder Verabredungen nie den Kopf zerbrechen musste. Auch jetzt war sie wieder umringt von einer Schar ihrer Fans. Durch das Kichern und Gackern hörte Coralie Maries hohes, aufgeregtes Zwitschern.

»Natürlich kommt Casper auch. Er spielt schließlich die Hauptrolle. Es ist so – uuuuh!« Die anderen Mädchen fielen ein. Uuuuh, so hoch wie möglich herausgequiekt, war das neue »cool«.

»Wir dürfen an den roten Teppich, hat mein Vater gesagt. Nicht alle, leider.« Maries Blick bekam etwas Mitleidiges, als er auf Laura und Coralie fiel, die gezwungenermaßen direkt hinter der Clique die Treppen zur Schule hochstiegen. »Steht ihr auf Casper Kendall?«

»Meinst du mich?«, fragte Laura und sah irritiert zu Boden. »Hier liegt keiner.«

Marie verdrehte die Augen.

Coralie prustete los. Casper Kendall war im letzten Jahr bis ins Finale der X-Factor-Show gekommen und hatte danach in zwei Filmen mitgespielt, die »High School Flirt Desaster« oder so ähnlich hießen und bei allen über achtzehn ratloses Kopfschütteln auslösten. Damit – mit den Filmen, nicht dem Kopfschütteln – hatte er im Sturm nicht nur Maries Olymp bestiegen. Casper Kendall grinste von Zeitschriftentiteln, T-Shirts, Frozen-Yoghurt-Bechern und Schulmäppchen. Er war allgegenwärtig. Im Teenager-Universum nahm er die Rolle des Sonnengottes ein, neben dem es bekanntlich keine weiteren Götter geben durfte.

Weder Coralie noch Laura waren Teil dieses Universums. Sie hörten Seeed und Die Toten Hosen, und wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, auch die zahllosen Boygroups auf angesagten Radiostationen. Der Hype um Casper Kendall aber lief ohne sie ab.

»Schon gut. Vergiss es einfach.« Maries Stimme bekam immer einen leicht schrillen Ton, wenn andere nicht begriffen, wie ihr Planetensystem aufgebaut war.

Laura zog Coralie am Arm in die Klasse. Sie waren spät dran. In letzter Sekunde erreichten sie ihre Plätze.

»Weck mich, wenn es vorüber ist«, sagte Coralie zu ihrer Freundin.

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3.

Verfluchte Drei. Höllen-Drei. Lass-mich-doch-in-Ruhe-Drei.

Coralie drehte sich um und war Sekunden später wieder eingeschlafen. Der nächste Wecker war ihr Radio. Um es auszuschalten, musste sie aufstehen und zum Fenster gehen. Schlaftrunken warf sie die Decke zur Seite und tastete sich quer durchs Zimmer.

Noch war es dunkel. Die Straßenlaternen schienen bis in den Hof. Doch schon auf dem Weg zur S-Bahn würde im Osten die Sonne aufgehen. Eigentlich mochte Coralie diese Stunden. Irgendwo zwischen Traum und Tag. Die Menschen, denen man auf der Straße begegnete, waren freundlicher um diese Uhrzeit. Manche grüßten sogar – als ob man sich in einer Parallelwelt begegnen würde. Wir sind das unsichtbare Volk. Die Frühaufsteher. Wir sind die Ersten. Mag der Tag auch noch so laut und hektisch werden, mögen Millionen Menschen hier leben und grußlos aneinander vorüberlaufen, zu dieser Zeit sind wir eine kleine, verschworene Gemeinschaft. Die Vorhut des Tags. Die Busfahrer. Die Bäcker. Die Zeitungsausträger.

Irgendwie gelang es ihr, in ihre Klamotten zu kommen und die nächste Bahn zum Grunewald zu erwischen. Oswald, der Kolonnenführer, hatte die Pakete schon abgeladen. Jeder Zusteller griff sich seinen Teil und verlud ihn entweder in große Satteltaschen oder auf den Anhänger. Coralie hatte ihr Ungetüm von Anhänger von ihrer Vorgängerin geliehen bekommen. Jeden Morgen holte sie es aus einem der S-Bahn-Bögen, zu dem sie einen Schlüssel hatte. So auch heute. Wenig später radelte sie die Hagenstraße entlang. Mehrfamilienhaus. Chrombriefkasten. Zweiter von oben. Klack. Gründerzeitvilla, unten Büro, oben Wohnungen. Zwei fürs Büro. Klack. Nächste Straße, Tannenweg. Rumer. Sie beäugte misstrauisch das große Rolltor, aber es blieb geschlossen. Klack. Weiter zum Hexenhaus.

»Guten Morgen!«

Asta stand auf dem Bürgersteig. Um ein Haar hätte Coralie sie umgefahren. Dieses Mal trug sie einen knallgelben Kimono und hatte die Haare unter einem hochgetwisteten Seidentuch versteckt. Sie sah aus wie eine etwas verwirrte Prinzessin aus dem Morgenland, die geschätzte sechzig Jahre zu spät zu ihrem Rendezvous mit dem Thronfolger erschien. Aber ihre kleinen Augen strahlten, und ihre Stimme klang, als sei sie persönlich für das Wetter verantwortlich.

»Ist das nicht ein herrlicher Tag?«

Zum Schlafen, dachte Coralie. Wie können Leute um diese Uhrzeit nur so wach sein? Sie stieg von ihrem Fahrrad ab, griff in den Anhänger und reichte Asta die Zeitung. »Bitte sehr.«

»Vielen Dank. Möchten Sie vielleicht einen Tee? Ich habe gerade welchen aufgesetzt. Kräuter aus meinem Garten.«

Coralie erhaschte wieder einen Blick durch das Gartentor und erkannte jede Menge nicht gerade vertrauenerweckendes Gestrüpp. »Vielen Dank. Ich habe keine Zeit. Ich muss weiter.«

»Ach so … ja, natürlich.« Asta drehte sich um und tastete sich zurück zu ihrem Tor.

Plötzlich hatte Coralie Mitleid. Wie das wohl war, in so einem kleinen, etwas heruntergekommenen Haus inmitten dieser Prachtvillen zu leben? Asta sah einsam aus. »Fünf Minuten. Mehr nicht.« Sie schob das Fahrrad samt Anhänger aufs Trottoir. »Ich muss rechtzeitig in der Schule sein.«

Das Lächeln im Gesicht der alten Dame erschien so schnell, als hätte jemand eine Lampe angeknipst. »Natürlich. Kommen Sie. Kommen Sie!«

Sie öffnete das Tor und lud Coralie samt Fahrrad und Anhänger mit einer weit ausholenden Geste ein. Vorsichtig sah Coralie sich um. Manchmal kreuzten sich ihre Wege mit denen der anderen Zusteller. Sie musste die Zeit, die sie hier verlor, unbedingt wieder reinholen. Wenn jemand sie dabei beobachtete, wie sie gemütlich Tee trank, statt ihre Arbeit zu tun …

»Die Kanne steht schon auf dem Tisch.« Asta strahlte übers ganze Gesicht. »Ich habe Sie nämlich erwartet.«

Astas Haus war … ungewöhnlich. Durch und durch ungewöhnlich. Im Treppenhaus sah es so aus, als ob eine Herde Waldtiere auf der Flucht durch die Mauer gebrochen und dann stecken geblieben wäre. Die ausgestopften Köpfe von Wildschweinen und Hirschen hingen an den Wänden, allesamt schief und angestaubt, und glotzten sich mit ihren Glasaugen an. Der Teppich war ausgeblichen und an manchen Stellen abgeschabt. Möbel aus längst vergangenen Zeiten und Epochen, bunt zusammengewürfelt, meist aus brauner Eiche und manche mit gedrechselten Füßen oder Löwentatzen, machten die Räume auch nicht gerade heller. Ein gewaltiger Bronzeleuchter hing in der kleinen Diele. Coralie vermied es, direkt unter ihm durchzugehen, während sie Asta in die Küche folgte. Wenn sich genau in diesem Moment die Halterung aus dem bröckelnden Putz lösen würde …

»Hier entlang!«

Coralie betrat eine große, gemütliche Wohnküche. Alte, schwarzweiße Fliesen lagen auf dem Fußboden, darüber bunte Flickenteppiche. An den Wänden standen offene Regale. In ihnen türmten sich Keramikgeschirr und angelaufene Silbergedecke, so nachlässig aufeinandergestapelt, dass es nur eine Frage der Zeit zu sein schien, bis alles miteinander auf den Boden krachen würde. Kupfertöpfe hingen an altmodisch geschmiedeten Gestellen von der Decke und auf dem Tisch mit dem Spitzenläufer hatte Asta zwei Teegedecke arrangiert.

»Setzen Sie sich doch.«

»Ich weiß nicht …« Coralie war unbehaglich zumute. Das war zu viel. Sie hatte geglaubt, eine Tasse Tee im Stehen, ein bisschen kurzes, belangloses Geplauder – das würde reichen. Aber Asta war wohl anderer Meinung. Von einem alterssschwachen, hohen Kühlschrank, der asthmatisch vor sich hin rasselte, holte sie einen Teller mit Haferplätzchen und stellte ihn, nach ausgiebigem Hin- und Herschieben, Deckchenzupfen und Tassenarrangieren, schließlich in der Mitte des Tisches ab.

Nun gab es nicht viel, mit dem man Coralie jagen konnte. Aber zu dem wenigen gehörten staubtrockene Kekse noch vor oder anstelle eines ordentlichen Automechanikerfrühstücks.

»Bitte sehr. Nehmen Sie Platz.«

»Frau Sander, ich kann nicht so lange bleiben.«

»Eine Tasse, mein Kind. Pfefferminze, Kamille und Brennnessel aus meinem Garten.«

Danke, ich fühle mich eigentlich gesund, wollte Coralie sagen, ließ es aber bleiben.

»Und das Lomossonow. Das nehme ich nur für Besuch.«

Stolz deutete Asta auf die Tassen. Sie waren kobaltblau und goldfarben und so dünn, dass man durch sie eine Zeitung hätte lesen können. Das erinnerte Coralie daran, warum sie eigentlich um – ihr Blick fiel auf eine Sechzigerjahre-Wanduhr über der Spüle, sie zeigte auf zehn vor zwölf – um schätzungsweise halb sechs Uhr morgens, also zu nachtschlafender Zeit, mit ihrem Anhänger unterwegs war.

»Im Stehen, Frau Sander. Okay? Ich hab doch noch zu tun. All die Leute, die jetzt schon auf ihre Zeitung warten …«

Asta hob die Kanne und goss ein. In der Küche verbreitete sich ein Duft, den Coralie vielleicht als Mischung aus Krankenhaus und Hustenbonbonmanufaktur beschreiben würde.

»Nun gut. Dann im Stehen. Obwohl das gar nicht gesund ist. Und einen Keks dazu. Die backe ich selbst. Bitte sehr. Bitte!«

Coralie nahm ein Plätzchen und biss hinein. Es schmeckte so, wie sie sich Hundekekse vorstellte. Schnell nahm sie die angebotene Tasse und spülte den Bissen mit der Kräutermischung hinunter, was das Geschmackserlebnis auch nicht besser machte.

»Lecker«, nuschelte sie. Aber ihr Gesichtsausdruck musste sie verraten haben.

Asta setzte sich vorsichtig auf einen Stuhl. »Der Bäcker ist so weit weg«, sagte sie. »Früher … Früher habe ich so gerne im Bett gefrühstückt. Champagner, Kaffee und Croissants. Kennen Sie die?«

Coralie, noch immer im Kampf mit Keks und Hustentee, nickte.

»Als ich jung war, nach dem Krieg, lebte ich zwei Jahre in Paris. Da habe ich mir diese französische Art zu frühstücken angewöhnt. Und danach … eine Zigarette. Gauloises ohne Filter. – Rauchen Sie?«

»Nein.«

»Ab und zu, wenn es abends so still wird, setze ich mich mit einem Glas Rotwein ins Kaminzimmer und rauche eine Gauloise. Nicht richtig. Eigentlich paffe ich nur. Aber hinterher riecht das Zimmer, als wäre er gerade dort gewesen …«

Wer?, wollte Coralie sagen, schluckte die Frage dann aber herunter. Zum einen, weil sie nicht noch eine Geschichte anhören konnte, zum anderen, weil Asta auf einmal einen merkwürdigen Ausdruck in ihrem Gesicht hatte. So, wie man schaut, wenn man sich an etwas Verlorenes erinnert, das einmal sehr wichtig gewesen war. Asta sah auf den Tisch und strich den Läufer glatt. »So ist das, wenn man alt wird. Man wird ein wenig sonderbar.«

Coralie stellte die Tasse ab. »Vielen Dank, Frau Sander.«

»Asta.« Die alte Dame sah hoch. »Sagen Sie doch Asta zu mir. Ich bringe Sie noch hinaus.«

»Nein, danke.« Coralie war schon an der Tür. »Ich finde den Weg. Dann bis morgen!«

Über Astas Gesicht huschte ein Lächeln. »Bis morgen.«