Reinhard Kaiser

Königskinder

Eine wahre Liebe

Schöffling & Co.

Ich war nicht auf der Suche nach Geschichten, als ich die ersten Briefe von Rudolf Kaufmann an Ingeborg Magnusson fand – im Mai 1991, bei einer Briefmarkenauktion in Frankfurt. Vor der Auktion ließ ich mir von den mehr als siebentausend angebotenen Losen zehn oder zwölf zeigen, die ich mir im Versteigerungskatalog angekreuzt hatte. Das Los Nummer 6673 war in diesem Katalog so beschrieben: »Deutschland ca. 1890–1955, reichhaltige ungebrauchte, postfrische bzw. gestempelte Zusammenstellung mit auch Bündelware sowie Karten, Briefe und Paketkarten vom Deutschen Reich etc. in unterschiedlicher Erhaltung, enorm hoher Katalogwert! Limit DM 500,–«

Eine Pappschachtel, wie sich bei der Besichtigung zeigte, gefüllt mit Alben, Steckkarten, Pergamintüten und Zigarrendosen voller Briefmarken. Zwischen allerlei Massenware und einigen philatelistischen Besonderheiten stieß ich auf einen Stapel von ungefähr dreißig Umschlägen, alle vom gleichen Absender in Königsberg und einigen anderen deutschen Städten zwischen 1935 und 1939 aufgegeben, alle an die gleiche Empfängerin unter der stets gleichen Stockholmer Adresse gerichtet. In den Kuverts steckten noch die Briefe.

Zu ausgiebigem Lesen reicht bei der Besichtigung vor einer Auktion die Zeit nicht. Aber schon ein kurzes Auseinanderfalten von zwei oder drei dieser Briefe zeigte, daß in ihnen von einer Liebe in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ausgiebig die Rede war. Mehr wußte ich nicht, als ich beschloß, den Versuch zu machen, die Pappschachtel mit allem, was sie enthielt, Marken, Geschichte und Geschichten, zu erstehen.

Bei der Versteigerung zeigte sich dann, daß das Interesse an dem Los mit der Nummer 6673 beträchtlich war. Es entbrannte das, was Briefmarkenversteigerer in ihren Ergebnisberichten gern eine Bieterschlacht nennen. Allein um der Marken willen hätte ich nicht über das Doppelte des Ausrufpreises hinaus mitgehalten. Die Neugier auf die Briefe jedoch erlahmte auch jenseits des dreifachen Limits nicht. Aber je länger ich meine Karte mit der Bieternummer hochhielt, desto weniger verstand ich, wie jemand ohne mein doppeltes Motiv, Marken und Geschichte, den Preis für dieses Los derart in die Höhe treiben konnte. Zuletzt hatte ich es mit einem einzigen hartnäckigen, obendrein für mich unsichtbaren Gegner zu tun. Der Auktionssaal hatte die Form eines »L«. Ich saß im langen, mein Gegner im kurzen Balken des »L«, während der Auktionator hinter seinem Pult im Winkel dieses »L« stand und, abwechselnd auf mich und jenen anderen deutend, seinen Abzählvers aufsagte, die Zahlenreihe, die sich in monotonen und zugleich entnervenden Fünfzigersprüngen auf Zweitausend zubewegte.

Marken haben ihre Marktpreise. Manche mögen selten sein, aber einmalig sind die allerwenigsten. Für Marken werden Phantasiepreise kaum je gezahlt. Wer aber für eine Geschichte, die er nicht kennt, überhaupt etwas zahlt, ob viel oder wenig, der zahlt immer einen Phantasiepreis. So auch ich an jenem Samstagnachmittag im Mai 1991.

Ich trug den Karton, den ich ersteigert hatte, nach Hause – gespannt, was er enthalten würde, aber nicht darauf gefaßt, daß es eine Geschichte war, die mich für Jahre nicht mehr loslassen sollte.