Jack Ketchum
Beutezeit
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Friedrich Mader
Mein Dank an Doug und die zwei Daves (Hinchberger und Barnett) sowie an Neal für ihre großartige Arbeit an der Wiederbelebung dieses Buches.
Zwei Schriftsteller haben im Lauf der Jahre mit großem Einsatz dafür gesorgt, dass meine Karriere nicht einfach sang- und klanglos endete: der bereits verstorbene und schmerzlich vermisste Robert Bloch, dem ich Hide and Seek gewidmet habe, und Stephen King. Das hier ist für Steve, in großer Dankbarkeit. Der, wie ich inzwischen weiß, schon seinerzeit das Original gelesen hat.
ZUM AUTOR
Jack Ketchum ist das Pseudonym des ehemaligen Schauspielers, Lehrers, Literaturagenten und Holzverkäufers Dallas Mayr. Er gilt heute als einer der absoluten Meister des Horror-Genres. 2011 wurde er zum Grand Master der World Horror Convention ernannt. Er erhielt fünfmal den Bram Stoker Award, sowie 2015 den Lifetime Achievement Award der Horror Writers Association. Jack Ketchum verstarb am 24. Januar 2018 in New York City, New York.
Hoffentlich haben Sie die nächtliche Fahrt an der Küste von Maine genossen.
Ich habe schon öfter über die hoffnungsfrohe Entstehungsphase des Buches und ihr einigermaßen ernüchterndes Nachspiel geschrieben, und auch in Interviews bin ich ausführlich darauf eingegangen.
Den ersten Punkt werde ich hier also nicht mehr ansprechen und mich auch im zweiten eher kurz fassen, in der Annahme, dass die meisten Leser dieser Neuausgabe die Geschichte dieses Buchs kennen. Stattdessen möchte ich lieber gleich zum Kern der Sache kommen, weil da für mich sehr viel Herzblut dran hängt – warum klingt das jetzt wie ein Wortspiel? Ist Bob Bloch irgendwo im Zimmer? Also, was ist so anders an diesem Roman? Warum die ganze Aufregung? Was ist daran so wahnsinnig unzensiert?
Eigentlich ist er ziemlich ähnlich wie die Erstausgabe damals.
Andererseits auch wieder nicht. Nicht für mich.
Bis heute habe ich nur wenige meiner Entscheidungen als Autor zu bedauern. Ich bereue den letzten Absatz von She Wakes, den ich hoffentlich noch eines Tages ändern kann. Hier und da vielleicht eine besonders uninspirierte Zeile. Gelegentlich eine schlechte Korrektur. Das ist so ziemlich alles mit Ausnahme dessen, was bei Beutezeit gelaufen ist.
Was da gelaufen ist, fällt in die Kategorie Verhandlungen.
Marc Jaffe von Ballantine kaufte das Buch nur unter der Bedingung ein, dass ich bereit war, es umzuarbeiten. Und ich war auch dazu bereit. Natürlich. Es war mein erster Roman, und ich war froh über den Vertrag. Hielten die mich für blöd? Selbstverständlich würde ich es umschreiben. Allen Beteiligten war klar, dass das Buch in puncto Gewalt bestimmte Grenzen überschritt und dass es einige Widerhaken besaß, die man vorher in der Unterhaltungsliteratur kaum gefunden hatte. Und genau aus diesem Grund hatten sie es ja auch eingekauft. Ich wusste, dass einige Änderungen unvermeidlich waren.
Ich war nur nicht darauf vorbereitet, dass sie so viele wollten.
Ich erinnere mich noch an mehrere Nachmittage, an denen ich einer hübschen jungen Lektorin gegenübersaß, deren Name mir nicht mehr einfallen will. Sie machte keinen Hehl aus ihrem Widerwillen gegen das Buch, aber sie blieb immer nett und loyal. Ihr Verlag hatte ein scheußliches Machwerk von einem Roman eingekauft, mit dem er aus irgendwelchen unsauberen Gründen große Hoffnungen verband, und damit hatte sich der Fall. Ihre Aufgabe war es jetzt, diesen bösartigen Kram in eine anständige Form zu bringen. Vor ihr lag ein gelber Notizblock mit ganzen Seiten voller Vorschläge. Und bei jeder Sitzung kamen weitere Vorschläge hinzu.
Zu einigen sagte ich: klar, kein Problem.
Zu anderen schüttelte ich nur den Kopf: Das kann ich nicht machen. Wie soll ich das machen? Da geht doch das ganze Buch drauf.
Sie versuchte nicht unbedingt, das Buch abzuschlachten, aber eine Maniküre war es auch nicht gerade.
Letztlich lief es auf eine Art Tauschgeschäft hinaus: Du steckst hier Prügel ein, dafür schlucke ich diese Kröte.
Wirklich.
In manchen Absätzen bekämpften wir uns Zeile für Zeile. Wort für Wort.
Dieses Ringen blieb meistens freundlich, war aber frustrierend. Wir hatten beide das gleiche Ziel: ein gutes Buch hinzukriegen, das reißenden Absatz finden sollte. Wenn das klappte, würde sie beim Verlag gut dastehen. Und ich würde einen Haufen Kohle machen. Aber wir hatten stark voneinander abweichende Vorstellungen davon, wie wir das angehen mussten. Wir waren wie zwei Sparringspartner, die für denselben Titel trainierten, aber völlig unterschiedliche Boxstile pflegten. Sie war darauf aus, das Ganze etwas stromlinienförmiger zu machen. Und ich wollte eine gottverdammte Sturmflut.
So ging das einige Wochen.
Inzwischen prangte auf den Manuskriptseiten eine Menge roter Tinte. Und auf ihrem Notizblock gab es viele Streichungen.
Als es vorbei war, ging ich nach Hause. Ein paar Wochen später lieferte ich die Fassung von Beutezeit ab, die Sie gerade gelesen haben. Das Originalmanuskript warf ich in den Müll.
Ja, ja, ich weiß. Das müssen Sie mir nicht erzählen. Ich bin ein Trottel. Aber was soll ich jetzt noch machen?
Damals ging es wieder an den Konferenztisch. Sie hatte sich mit Marc beraten, und sie hatten sich darauf geeinigt, dass das Buch immer noch zu hart war. Sicher, das Buch sollte Aufsehen erregen, aber es sollte die Leute nicht zum Kotzen bringen.
Zunächst mussten einige der schärferen Rezepte dran glauben.
Neue Verhandlungen.
In der Ballantine-Ausgabe hört man also nichts von den Grübeleien der schwangeren Frau darüber, was sie morgen mit dem Rest ihres ersten, namenlosen Schlachtopfers machen wird, wenn sie mit den Würsten fertig ist.
Man erfährt nichts darüber, wie man Menschenfleisch dörrt.
Und das fand ich schon immer schade. Ich hatte das Rezept aus einem Buch mit dem Titel How to Survive in the Wilderness und es für meine Zwecke abgeändert. Schließlich kann man ja nie wissen, ob man so was nicht irgendwann mal braucht.
Schmerzlich vermisst habe ich auch die Zeilen über die Angst als Zartmacher für Fleisch. Ich glaube, das stammt aus Vardis Fishers wunderbarem Roman Mountain Man, aus dem nicht nur ich mich für mein Buch großzügig bedient habe, sondern auch Hollywood den Film Jeremiah Johnson gemacht hat. Angeblich stimmt es sogar. Wenn man eine Scheißangst hat, wird das Fleisch zart.
Sie hatten auch was dagegen, dass der kahl geschorene, gespaltene, augenlose Schädel gekocht wurde, und schlugen vor, ich solle einfach »andere Fleischstücke« schreiben. Seufz.
Es passte ihnen nicht, dass der Junge im Käfig in seinem Erbrochenen lag.
Weg mit dem Erbrochenen.
Was ihnen überhaupt nicht gefiel, war die Szene, in der Lauras Zunge mit einem Fischhaken aufgespießt, herausgeschnitten und verspeist wird. Natürlich war ich anderer Meinung. Mann, das ist doch praktisch eine Metapher für diese Leute. Besonderen Wert legte ich auf den Ausdruck anstoßerregendes Organ. Schließlich hat sie wirklich sehr viel geschrien.
Auch dass Marjie den Schwanzstummel ausspuckt, ging ihnen gegen den Strich. Die Gründe dafür habe ich nie verstanden. Nach dem, was in der Erstausgabe steht, könnte sie ihn sogar hinuntergeschluckt haben.
All diese Streichungen ließ ich mir abringen. Aber der größte Zankapfel zwischen mir und dieser Lektorin kam am Ende des Buches. Hier gingen unsere Auffassungen komplett und mit beinahe katastrophalen Folgen auseinander. Es waren nur ein paar schlichte Zeilen ungefähr fünf Seiten vor dem Schluss des Manuskripts. Und ich bin froh, dass die Streichungen nach all den Jahren diesmal von mir gemacht werden. Wenn Sie das Buch nicht zum ersten Mal gelesen haben, sind sie Ihnen wahrscheinlich schon aufgefallen.
Aus der Erstausgabe bitte streichen: Dieser Nick würde wahrscheinlich durchkommen. Er hatte ein Loch in der Brust, das geflickt werden musste, aber er hatte keine lebenswichtigen Organe getroffen, Gott sei Dank.
Bitte streichen: Nick lag bewusstlos neben ihr. »Wird er es überstehen?«, fragte sie.
»Er hat viel Blut verloren. Aber ich glaube schon.«
»Gut.«
Und bitte auch streichen die Worte ums Haar, so dass es in Peters’ schuldbewussten Schlussgedanken einfach heißt: Und ich habe ihn umgebracht.
Ja, es ist so. Sie haben mich dazu überredet, Nick zu retten. Ich wollte, dass er stirbt.
Ich weiß noch, dass das ein harter Kampf war.
Zuerst weigerte ich mich einfach. Allein schon bei dem Vorschlag wurde ich sauer. Was mir für Nick und eigentlich für das ganze Buch vorschwebte, war das Porträt eines Mannes, der veranlasst durch die Umstände zu einer Heldenhaftigkeit und Loyalität findet, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Und dann, im letzten Moment, wenn sich all diese Mühen und Schmerzen eigentlich auszahlen müssten, wenn eigentlich die Rettung in Form der nahenden Kavallerie kommen müsste, ist es verflucht noch mal genau diese Kavallerie, die ihn niedermäht.
Die Nacht der lebenden Toten, sagen Sie. Unbedingt. Ich weiß noch, wie mich die Schlussszene in diesem Film umgehauen hat, und genau diese Wirkung wollte ich für mein Buch. Ich habe mich gegenüber Ballantine sogar auf den Film berufen. Weder meine Lektorin noch Marc hatten ihn gesehen. Genauso gut hätte ich Altkeltisch mit ihnen sprechen können. Die Nacht der lebenden Toten war doch bloß ein Low-Budget-Schnellschuss. Das Buch sollte ein Renner werden.
Sie wandten meine Argumente gegen mich. Hier ist dieser Mann, erklärten sie, der für eine Frau durch die Hölle geht. Er muss doch einfach überleben.
Muss?
Die Leser wollen, dass er überlebt.
Klar wollen sie das. Ich will es ja auch. Gegen Ende des Buchs bin ich praktisch in den Kerl verknallt. Aber wen interessiert, was die Leser wollen? Für das Buch ist mein Schluss der einzig richtige.
Punkt.
Nicks Tod ist entscheidend, habe ich ihnen erklärt, sowohl thematisch als auch dramaturgisch. Er ist das, worauf das Buch hinauswill. Dass das Leben so ist. Dass die Welt so ist. An einem Tag landest du einen Volltreffer an der Wall Street, und am nächsten Tag überfährt dich ein Bus. Du verliebst dich und findest heraus, dass du Alzheimer hast. Warum erleidet Carla, die starke Schwester, im ersten Akt einen schrecklichen Tod, während Marjorie, die schwache Schwester, überlebt? Wer weiß das schon? Ironie des Schicksals, Zufall, der plötzliche Absturz vom Rand der Welt, das unberechenbare Auf und Ab der Umstände: Das ist die Aussage, die hinter allem steckt.
Ich beschwor sie händeringend.
Vergeblich.
Dann dachte ich mir, okay, es ist dein erstes Buch. Etwas Kompromissbereitschaft konnte nicht schaden.
Schließlich sollte ich reich werden mit dem Buch. Sie hatten es mir versprochen.
Von wegen reich.
Nachdem die Händler die Plakate und Werbemittel aus den Schaufenstern entfernt hatten, nachdem der abgetrennte weibliche Arm auf dem Cover von einem einzigen Blutstropfen ersetzt worden war, nachdem Ballantine jede Verkaufsförderung eingestellt und erst eine britische Lizenz und dann die geplante eigene Ausgabe in Großbritannien verhindert hatte, war klar, dass sich der Verlag auch nicht darum bemühen würde, den Roman in den US-Buchhandlungen präsent zu halten. Die Barnes-&-Noble-Filiale bei mir um die Ecke hatte in wenigen Tagen ein Dutzend verkauft. Dann habe ich das Buch nie wieder dort gesehen. Ballantine wollte das ganze eklige Fiasko nur noch unter den Teppich kehren. Die Telefondrähte glühten. Der CEO von Random House, der Muttergesellschaft, war in einem Artikel der Village Voice dafür getadelt worden, dass er gewalttätige Pornographie veröffentlichte. Beutezeit war zu einer peinlichen Belastung geworden.
Die hübsche junge Lektorin, deren Namen ich vergessen habe, antwortete nicht mehr auf meine Anrufe.
Marc Jaffe verließ den Verlag.
Im Lauf der Jahre habe ich mich öfter gefragt, welcher Aufschrei erst durch die Feuilletons gegangen wäre, wenn Ballantine damals die jetzige Fassung herausgebracht hätte.
Die Rezepte und die Sache mit der Zunge sind nicht so wichtig.
Aber Nicks Tod macht die Sache in meinen Augen unendlich viel düsterer.
Man muss sich nur ansehen, wer diese grausige Nacht am Ende übersteht. Eine Frau – körperlich verstümmelt und psychisch beschädigt –, die eine kalte Zählebigkeit in sich entdeckt, aber Dinge gesehen und getan hat, die niemand je sehen oder tun müssen sollte. Und Peters – ein anständiger Mann, ein Polizist – hat nicht nur einen, sondern gleich zwei Unschuldige getötet, und dass einer von diesen Unschuldigen sich aus Loyalität zu bewundernswerten Taten aufgeschwungen hat, wird für den Rest seines Lebens auf seinem Gewissen lasten.
Auf diese trostlose Perspektive kam es mir an: In dieser Welt gibt es keine Gewinner.
Wenn Nick überlebt, bleibt Hoffnung. Und möglicherweise werden er und Marjie sogar ein Paar.
Wenn er stirbt, ist sie auf sich gestellt.
Für Ballantine war das wohl der Knackpunkt. Für den Verlag war diese Vorstellung einfach unerträglich.
Noch eine Änderung war nötig. Nicht in dieser Ausgabe, sondern in der britischen Taschenbuchversion.
Am Ende der ursprünglichen Fassung ist Marjie im Krankenwagen und sinniert betäubt von Schmerzmitteln, ob die Leute, die sie da versorgen, Sanitäter oder Ärzte sind. Hoffentlich waren es Ärzte, stand ursprünglich da.
Einige Monate nach Erscheinen des Buchs bekam ich einen Brief von einem Fan, der mir schrieb, wie sehr ihm die Lektüre gefallen hatte. Bis er zu dieser Zeile kam.
Er war selbst Sanitäter und erklärte mir, dass Marjie in ihrer Situation bei einer ausgebildeten Rettungsmannschaft viel besser aufgehoben ist als bei einem Haufen Ärzte. Ich prüfte seine Behauptung nach, und natürlich hatte er Recht. Uuups, da hatte ich wohl meine Hausaufgaben nicht gemacht. In meinem Antwortbrief entschuldigte ich mich und dankte ihm, dass er mich auf meinen Fehler aufmerksam gemacht hatte. Ich versprach ihm, die Sache zu beheben, sollte je eine Neuauflage erscheinen.
Die Gelegenheit dazu kam erst 1995, als sich die Briten von Headline meldeten.
Mike Bailey, mein Lektor dort, lachte, als ich ihm den Grund für die Änderungen schilderte.
Selbstverständlich, meinte er, schicken Sie sie einfach.
Keine Verhandlungen.
JACK KETCHUM
Januar 1999
Sie beobachteten, wie sie die Wiese überquerte und nach der niedrigen Steinmauer auf den Wald zusteuerte. Sie wirkte unbeholfen. Ein leichter Fang.
Sie ließen sich Zeit. Brachen die weißen Birkenruten ab und schälten die Rinde herunter. Sie hörten, wie sie durchs Unterholz stapfte. Lächelnd sahen sie sich an, aber sie sagten nichts. Sie schälten die Ruten, und dann gingen sie ihr nach.
Sie dankte Gott für das Mondlicht. Fast hätte sie das alte Kellerloch übersehen, und es war tief. Nach einem vorsichtigen Bogen um die Stelle lief sie weiter durch das hohe Gras und Schilf, vorbei an Weiß- und Schwarzkiefern, Birken und Pappeln. Unter den Füßen Moos und Flechten. Geruch nach Moder und Immergrün. Sie hörte, wie sie mit hellen, musikalischen Stimmen durch das Gestrüpp hinter ihr brachen. Spielende Kinder im Dunkeln. Sie erinnerte sich an die Hände; raue, starke kleine Hände mit langen, scharfen, schmutzigen Nägeln, die über ihre Haut scharrten, als sie nach ihr grapschten. Sie erschauerte. Sie hörte ihr Lachen von ganz nahe. Vor ihr wurde der Wald immer dichter.
Sie musste jetzt langsamer gehen. Sie konnte fast nichts mehr sehen. Lange Zweige zupften an ihrem Haar und stocherten grausam nach ihren Augen. Sie hielt die Arme über Kreuz, um ihr Gesicht zu schützen. Schartiges Holz schürfte über ihre Haut, und sie begann zu bluten. Hinter ihr blieben die Kinder stehen und lauschten. Sie fing an zu weinen.
Blöd, dachte sie. Blöd, dass sie ausgerechnet jetzt zu weinen anfing. Sie hörte wieder ihre Bewegungen in der Nähe. Konnten sie sie sehen? Sie stürzte weiter durch das dichte Gestrüpp. Alte, brüchige Zweige stachen durch ihr dünnes Baumwollkleid, als wäre sie nackt, und neue, blutige Risse entstanden auf den Armen, den Beinen und dem Bauch. Der Schmerz hielt sie nicht auf, er trieb sie voran. Sie gab es auf, ihr Gesicht zu schützen und die Äste mit den Armen zurückzuschlagen, und bahnte sich krachend einen Weg durch das Dickicht zur Lichtung.
Sie holte tief Luft, und auf einmal roch sie das Meer. Es konnte nicht mehr weit sein. Sie begann zu laufen. Vielleicht gab es dort Häuser, Fischerhütten. Irgendjemanden. Die Wiese war lang und breit. Bald hörte sie vor sich die Brandung, und sie warf ihre Schuhe ab, um auf das Geräusch zuzurennen. Gleichzeitig brachen elf blasse kleine Gestalten durch die letzten Ausläufer des Unterholzes und entdeckten sie im Mondlicht.
Sie konnte nichts vor sich sehen, keine Häuser, keine Lichter. Bloß das hohe Gras auf der weiten Ebene. Und wenn nur das Meer vor ihr lag? Dann saß sie in der Klemme, in der Falle. Doch daran durfte sie jetzt nicht denken. Beeil dich, dachte sie, schneller. Sie spürte einen bohrend kalten Schmerz in der Lunge. Die Brandung war jetzt lauter. Das Meer war ganz nah, irgendwo gleich hinter der Wiese.
Sie hörte sie hinter sich rennen und wusste, dass sie ebenfalls ganz nah waren. Sie lief mit einer Kraft, die sie selbst überraschte. Jetzt hörte sie ihre Verfolger lachen. Ihr Lachen war schrecklich: kalt, böse. Sie bemerkte, wie einige zu ihr aufholten. Ohne Mühe hielten sie sich neben ihr, beobachteten sie grinsend, ihre Zähne und Augen glitzerten im Mondlicht.
Sie wussten, dass sie wehrlos war. Sie spielten mit ihr. Sie konnte nur laufen und trotz allem die Hoffnung nicht aufgeben, dass ihnen das Spiel irgendwann zu langweilig wurde. Kein einziges Haus in der Nähe. Sie würde allein sterben. Sie hörte eins der Kinder jaulen wie einen Hund, und plötzlich peitschte ihr etwas von hinten über die Beine. Der Schmerz war so stark und schneidend, dass sie fast hingefallen wäre. Sie würde es nicht schaffen. Sie waren schon überall um sie herum, es war unmöglich. Sie spürte, wie ihre Eingeweide nachgaben, und merkte, dass sie in Panik geriet.
Zum tausendsten Mal verfluchte sie sich dafür, dass sie angehalten hatte, dass sie unbedingt die barmherzige Samariterin hatte spielen müssen. Doch es hatte sie so schockiert, das kleine Mädchen zu sehen, das allein auf der dunklen, verlassenen Straße dahinstolperte. Nach einer Kurve war das Mädchen plötzlich aufgetaucht, das Kleid fast bis zur Taille zerrissen, und im Scheinwerferlicht sah sie, dass die Kleine die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und anscheinend weinte. Sie konnte höchstens sechs Jahre alt sein.
Also hatte sie angehalten und war zu ihr gegangen; sie hatte gedacht: Unfall, Vergewaltigung. Das Mädchen hatte zu ihr aufgesehen, mit diesen intensiven schwarzen Augen, in denen keine Spur von Tränen war, und hatte sie angegrinst. Aus einer Ahnung heraus hatte sie sich umgedreht, um nach hinten zu blicken, und da sah sie sie vor dem Auto. Sie hatten ihr den Rückweg abgeschnitten. Auf einmal hatte sie Angst. Sie schrie sie an, sie sollten von ihrem Auto weggehen, aber sie wusste bereits, dass sie ihr nicht gehorchen würden. »Haut bloß ab hier«, hatte sie gebrüllt, sie war sich hilflos und albern dabei vorgekommen, und da hatten sie zum ersten Mal über sie gelacht und waren auf sie zugegangen. Dann hatte sie ihre Hände auf sich gespürt und gewusst, dass sie sie umbringen wollten.
Jetzt kamen die Laufenden neben ihr immer näher. Sie erlaubte sich einen Blick auf sie. Schmutzig. Widerlich. Es waren vier Kinder, drei links von ihr, eines rechts. Die Dreiergruppe bestand nur aus Jungen, das einzelne Kind war ein kleines Mädchen. Sie scherte nach rechts aus und rammte das Mädchen. Die Wucht ihres Körpers schleuderte das Mädchen zur Seite, und sie hörte einen Schmerzensschrei. Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus. Kurz darauf spürte sie einen brennenden Schmerz am Rücken und an den Schultern, dann zwei Hiebe in rascher Folge auf den Hintern. Ihre Beine waren schwach, wie aus Gummi. Sie wusste, dass ihre Kräfte schwanden. Aber ihre Angst vor dem Hinfallen war schlimmer als der Schmerz, viel schlimmer. Wenn sie stürzte, würden sie sie zu Tode prügeln. Ihre Schenkel und Schultern fühlten sich klebrig an, sie wusste, dass sie blutete. Und jetzt war das Meer so nah, dass sie es schmeckte, dass sie die Gischt schon auf dem Körper spürte. Sie rannte weiter.
Dann sah sie, dass zu den Laufenden links ein neuer Junge gestoßen war, ein großer Junge, der sich schnell bewegte. Mein Gott, dachte sie, was hat der denn an? Irgendein Fell von einem Tier. Was sind das nur für Menschen? Auch rechts waren jetzt noch zwei weitere Kinder. Ob Jungen oder Mädchen, konnte sie nicht erkennen. Sie liefen mühelos durch das hohe Gras. Hört auf, mit mir zu spielen, dachte sie, bitte hört auf. Der große Junge stürmte direkt in ihre Bahn und schob sich vor sie. Jetzt war sie umzingelt. Er warf einen Blick über die Schulter, und im Mondlicht sah sie, dass sein Gesicht eine einzige Ansammlung von Grind und Pickeln war.
Kalt und hohl fraß in ihr die Angst. Die Ruten schnitten ihr tief in den Rücken und die Beine. Sie konnte nur weiterlaufen. Es gab nur noch das Laufen – das Laufen und das Meer.
Sie starrte auf den Rücken des Jungen, versuchte sich zu konzentrieren, um nicht den Mut und die Kraft zu verlieren. Da wirbelte er plötzlich herum, seine Rute zuckte durch die Luft, und ihr Gesicht zersprang vor Schmerz. Ihre Nase blutete, und ein wundes Gefühl zog sich von Wange zu Wange. In ihrem Mund Blutgeschmack. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange konnte. Sie fühlte sich, als wäre etwas in ihr bereits tot. Als der Junge vor ihr abstoppte, wäre sie fast mit ihm zusammengestoßen. Auf der Suche nach einem Ausweg huschte ihr Blick rechts und links an ihm vorbei. Sie konnte ihm nicht ins Gesicht schauen. Nur, wenn es unbedingt sein musste.
Im Mondlicht hinter ihm bemerkte sie ein Glitzern. Da war es. Das Meer. Der Anblick machte sie furchtbar müde. Sie konnte nirgends hin, es gab keine Hilfe. Keine Häuser. Nur eine jäh abfallende Granitklippe, hinab bis zu einem Meeresspiegel in unbekannten Tiefen. Allein der Sturz würde sie wahrscheinlich töten. Es gab keine Hoffnung mehr, keine Hoffnung. Sie blieb stehen und drehte sich langsam ihren Verfolgern zu.
Einen Augenblick lang waren sie wieder nur Kinder. Ihr Blick wanderte verwirrt über die zerfetzten Lumpen, über das Sackleinen, über die unglaublich dreckigen Gesichter, über die vom Jagdfieber leuchtenden Augen und über die kleinen festen Körper, und sie dachte, dass so etwas doch ganz unmöglich war, dass Kinder nie so sein konnten. Dass sie sich in einem Traum voller Blut und Schmerzen verloren hatte. Dann sah sie, wie sie sich duckten und anspannten, wie die Birkenruten wieder nach oben fuhren, wie ihre Augen und Lippen zu schmalen Schlitzen wurden. Sie schloss die Augen, um sie nicht mehr zu sehen.
Und dann kamen sie von allen Seiten. Die stinkenden Klauen rissen an ihren Kleidern, die Ruten peitschten hart auf ihren Kopf und ihre Schultern. Sie schrie. Die einzige Antwort war Lachen. Die sabbernden Münder drängten sich an sie, und das Gefühl von Blut und Speichel machte ihr eine Gänsehaut. Wieder schrie sie, und in ihr stieg eine Angst hoch, wie sie es noch nie erlebt hatte. Verzweifelt setzte sie sich zur Wehr. Plötzlich fühlte sie sich groß und stark im Vergleich zu ihnen, ein riesiges, verwundetes Monster. Sie öffnete die Augen und schlug wild um sich, traf Ohren und Münder mit ihren kleinen Fäusten und stieß hart gegen ihre dreckigen, gemeinen Körper. Einen Moment lang schien es, als hätte sie die Horde durchbrochen und nur noch den großen Jungen vor sich. Dann fielen sie wieder über sie her, und sie drückte mit aller Kraft, wirbelte zweimal um sich selbst, schüttelte sie ab, und plötzlich war sie durch, der Weg war frei. Der große Junge sah, was sie vorhatte, und machte schnell einen Schritt zur Seite.
Sie kam gar nicht dazu, sich irgendetwas zu überlegen oder Angst zu empfinden. Sie hatte keine andere Wahl. Sie rannte vorbei an dem Jungen in die dünne Nachtluft. Ihr Sprung riss sie weit hinaus über die Felswand und atemlos hinab in die heftig schäumenden Wellen, in grenzenloses, unerbittliches Dunkel, und ihr Blut wurde in das kalte, salzige Meer gespült.
In dem kleinen blauen Koffer war nicht viel, was sie interessierte. Drei Baumwollblusen, nicht mehr ganz sauber. Ein grüner Pullover. Ansonsten nur BHs, Höschen, Strümpfe und ein Tweedrock. Auf dem Beifahrersitz lag eine Strickjacke aus weißem Kaschmir. Das Mädchen streifte die Jacke über ihr zerschlissenes Armyhemd. Mit rauen Händen strich sie über den weichen Stoff und rieb dabei Schmutz in die Ärmel, ein wenig abgelenkt von den beiden Zehnjährigen, die sich mit ihren Taschenmessern über das Handschuhfach hergemacht hatten. Im Auto roch es nach dem Parfüm der Frau und nach Zigarettenrauch.
Bis auf einige Papiere – Landkarten, Führerschein, Fahrzeugbrief – war das Handschuhfach leer. Der Junge mit der unreinen Haut leerte die Handtasche auf den Fahrersitz und durchwühlte mit seinen langen, knochigen Händen den Inhalt: Plastikkamm und Bürste, Haarnadeln, ein roter Seidenschal, Lippenstift, Rouge, Augenbrauenstift und ein Fläschchen Eyeliner, ein alter, trüber Taschenspiegel, Adressbuch, Sonnenbrille, Pass, Taschenrechner, ein Taschenbuchthriller, Nagelfeile, noch ein Lippenstift, eine Brieftasche. In der Brieftasche befanden sich fünfundachtzig Dollar in Zehn-, Fünf- und Eindollarscheinen, eine Kundenkarte von Bloomingdale’s und Kreditkarten von Master Charge und American Express. Er blätterte durch die Bilder in Plastikrahmen: ein Mann und eine Frau in Badesachen, die in die Kamera lächelten; ein kleiner, merkwürdig aussehender Hund; eine alte Frau mit Lockenwicklern beim Säubern eines Huhns in einer Porzellanspüle. Nichts davon konnte er gebrauchen.
Er schob seinen schlaksigen Halbwüchsigenkörper aus dem Wagen und winkte dem Jungen und dem Mädchen, die hinter ihm warteten. Die Kinder krochen auf den Sitz. Der Junge suchte sich den dunkleren Lippenstift aus und krakelte damit Kreise auf den Rückspiegel. Dem Mädchen gefiel die Aufnahme mit dem leicht rattenähnlichen Hund und der Taschenspiegel, und sie schob beides in die schmuddelige Ledertasche, die sie um den Hals trug. Inzwischen hatte der große Junge unter dem Sitz eine Dose Enteiser gefunden. Er schüttelte sie. Fast leer.
Den Kofferraum konnte er nicht öffnen, weil er kein Brecheisen hatte. Dass der Schlüssel zum Kofferraum noch immer in der Zündung steckte, sagte ihm nichts. Er hatte keine Ahnung von Schlüsseln. Nur davon, dass da drin vielleicht etwas Brauchbares war.
Auf dem Rückweg durch die Wälder bemerkten sie eine Eule und warteten still, bis der Vogel unten am Wasser seine Beute gerissen hatte, einen großen Ochsenfrosch, der für die Kinder kaum zu erkennen war. Sie sahen zu, wie die Eule mit dem Frosch zu ihrem Baum zurückkehrte und anfing, ihn zu zerfetzen. Dann warf der Junge mit der unreinen Haut einen Stein nach ihr. Der Stein traf den Vogel genau auf die Brust und schleuderte ihn in einen Brombeerstrauch. Die kleineren Kinder jauchzten vor Freude. Doch der Junge kümmerte sich nicht um den toten Vogel. Es war zu mühsam, ihn aus den Dornen zu holen. Irgendein Tier würde schon kommen, dem die Dornen nichts ausmachten. In der Nacht waren alle auf der Jagd.
Die Küche gefiel ihr allmählich. Wirklich eine tolle Küche, wenn sie sie erst mal sauber hatte. Langer Ausziehtisch; geräumige Arbeitsplatte; viel Licht durch das große Fenster über der Spüle, das nach Osten auf das welkende Goldrutenfeld am Berghang zeigte – eine Art Gartenersatz –, und durch die zwei kleineren Fenster nach Westen und Süden. Aber das Beste war der alte Kanonenofen mitten im Zimmer, der so groß war, dass er bestimmt nicht nur die Küche heizte, sondern auch die beiden Schlafräume.
Die Küche war das größte Zimmer und sollte offenkundig als Mittelpunkt des Geschehens im Haus dienen. Beide Türen führten direkt hinein: die Hintertür gleich links von der Spüle und die Vordertür auf der anderen Seite des Tisches, neben dem riesigen Ledersofa. Es würde bestimmt sehr gemütlich werden. Carla trat von der Spüle zurück und blickte sich ein wenig um. Jetzt sah es schon recht gut aus. Sie hob die braune, mit Rückständen und Asche aus dem Ofen gefüllte Papiertüte auf und trug sie hinaus zu den Mülltonnen auf der rückwärtigen Veranda.
Ein wunderbarer Tag. Die Sonne schien hell, aber die Luft war doch schon so frisch, dass sie einen Vorwand hatte, den Ofen anzuheizen. In der Ferne hörte sie das Branden der Wellen. Schade, dass man das Meer nicht sehen konnte. Nur einen Albatross, der einen knappen Kilometer entfernt in großer Höhe dahinsegelte.
Sie öffnete die Tür zum Holzschuppen und fand hoch aufgestapelte Eichen- und Pappelscheite. In einem Kasten auf dem Boden lag Kleinholz zum Anzünden. Da hatte jemand wirklich ganze Arbeit geleistet, um alles für sie vorzubereiten. Na ja, schmutzig war es schon. Aber damit musste man rechnen, und ein bisschen Putzen machte Carla nichts aus. Doch für das Holz war sie dankbar, denn Holzhacken gehörte nicht unbedingt zu ihren Stärken. Und auch die kleinen Gesten wusste sie zu schätzen, wie zum Beispiel die Notrufnummern über dem Telefon – für den Fall, dass sie einen Arzt oder, schreckliche Idee, die Polizei brauchte –, das auf dem Küchentisch hinterlassene Verlängerungskabel für ihre Schreibmaschine und die Tatsache, dass jemand daran gedacht hatte, den Kühlschrank einzustecken. Es war sogar flüchtig gefegt worden. Wenn man überlegte, dass das Anwesen nach Angaben des Maklers über ein Jahr lang nicht mehr vermietet worden war, dann war es eigentlich gar nicht so schlimm. Schlechte Saison letzten Sommer, hatte er ihr erzählt. Zu viele Quallen an den Stränden. Sie hatte sich das Ganze schrecklich verwahrlost vorgestellt und war froh, dass es nicht so war. Alles in allem war das Haus ziemlich gut in Schuss. Im Schuppen gab es eine scharfe Axt, falls sie noch mehr Brennholz brauchte. Aber nach den Stapeln zu urteilen, musste schon ein grimmig kalter Herbst kommen, wenn hier noch etwas zu hacken sein sollte.
Sie lief ein paar Mal zum Ofen und zurück und legte etwas Holz hinein, genug fürs Erste. Dann schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Tisch, um zu überlegen, was noch zu erledigen war. Das Bad war sauber, die Schlafzimmer waren sauber, und die Küche war jetzt auch fertig. Blieb nur noch das Wohnzimmer und, falls sie sich die Mühe machen wollte, der Dachboden. Hätte sie nicht schon für morgen Jim und Marjie und die anderen erwartet, hätte sie das Wohnzimmer erst einmal gelassen, wie es war, aber bei sechs Leuten im Haus brauchten sie den Platz wahrscheinlich.
Blöde Idee, dachte sie, sie kommen zu lassen, bevor ich mich überhaupt eingelebt habe. Aber sie hatte die Einladung spontan ausgesprochen, und jetzt war es eben so. Jims Dreharbeiten waren gerade zu Ende, und es war nicht vorhersehbar, wann er wieder nach L.A. zu den nächsten Aufnahmen für irgendeine idiotische Fernsehwerbung musste. Für ihn zumindest war der Zeitpunkt also ganz günstig. Wie hatte sie sich überhaupt jemals auf einen Schauspieler einlassen können? Auf diese Sorte von Leuten stand sie sonst nicht so besonders. Meistens waren sie sehr ehrgeizig und egozentrisch. Aber sie wusste natürlich, warum sie es getan hatte. Sie hatte einfach noch nie in ihrem Leben so einen hübschen Kerl gesehen. Das Eingeständnis brachte sie zum Lächeln.
Nach Nick war es ihr viel leichter vorgekommen, es mal mit einem Mann zu probieren, der attraktiv war, der mit ihr schlief und mit ihr ausging und es damit gut sein ließ. Nick war viel zu kompliziert gewesen. Sie hatte viel zu viel Kraft in die Sache mit ihm gesteckt. Inzwischen interessierte sie sich nicht mehr für Männer, sondern für ihre Arbeit. Sie hatte schon immer zu viel von ihrem Leben für Beziehungen geopfert, und irgendwie hatte es nie so richtig geklappt. Jetzt vereinfachte sie ihr Leben zugunsten ihrer Karriere. Ihre Erfolge gaben ihr große Befriedigung und das Gefühl, ihr Leben selbst in der Hand zu haben. Und was Jim anging, er war wirklich gutaussehend, und es war sehr angenehm, ihn zu berühren. Aber mehr nicht.
Zerstreut nippte sie an ihrem Kaffee, den Blick auf einen hellen Sonnenfleck auf der Arbeitsplatte fixiert. Sogar ihr Verhältnis zu Nick war nun einfacher. Sie waren jetzt Freunde. Und im Augenblick freute sie sich sogar auf das Wiedersehen mit ihm. Sie erinnerte sich noch, wie eifersüchtig er reagiert hatte, als sie anfing, sich mit anderen Männern zu treffen. Sie war froh, dass das nun vorbei war, dass sie diese kleine Aussprache gehabt hatten, na ja, eigentlich ein Marathongespräch, das bis zur Morgendämmerung gedauert hatte. Ansonsten wäre es vielleicht heikel gewesen, Jim und Nick zusammen einzuladen. Freundschaft und Sex waren eigentlich alles, was sie zurzeit von Männern wollte. Von Nick bekam sie das eine, von Jim das andere – das Leben meinte es gut mit ihr.
Sie dachte darüber nach, wer wo schlafen sollte. Nick und Laura konnten das erste Schlafzimmer haben, Marjie und Dan das zweite. Sie und Jim konnten sich auf das alte Schlafsofa vor dem Fenster im Wohnzimmer legen. Das hieß, sie musste jetzt endlich den Hintern hochkriegen und auch dort sauber machen. Sie kippte den restlichen Kaffee wie einen Whiskey und machte sich an die Arbeit.
Irgendwie war der Aufbau des Hauses merkwürdig. Das Wohnzimmer wirkte fast wie ein nachträglicher Einfall. Es lag Wand an Wand zum ersten, größeren Schlafzimmer, als wäre es eigentlich auch nur ein Schlafzimmer. Im Grunde gab es also nur eine Küche auf der einen Seite des Hauses und drei Räume von annähernd gleicher Größe sowie das Bad auf der anderen. Im Wohnzimmer war ein kleiner Kamin, in den sie besser auch etwas Holz legte. So wie der Kanonenofen in der Küche stand, heizte er das Wohnzimmer wahrscheinlich nicht sehr gut. In dem Raum lag ein leicht modriger Geruch, der sonst nirgends im Haus war. Und so richtig gemütlich war es auch nicht. Die Möbel waren alt und wahrscheinlich nie besonders gut gewesen. Einen nach dem anderen trug sie die Sessel zum Lüften hinaus und klopfte den Staub aus den Polstern.
Das Besondere an diesem Zimmer waren die handbehauenen Balken an der Decke. Nach Angaben des Maklers war das Haus über hundert Jahre alt, und das merkte man vor allem an den Balken. Sie waren massiv, aus schönem, dunklen Holz, wirklich beeindruckend. Am liebsten hätte sie ihre Initialen hineingeschnitzt, damit man sie nach weiteren hundert Jahren dort finden konnte, doch sie brachte es nicht über sich, die Balken so zu verunstalten. Aber sie freute sich schon darauf, sie von unten im Feuerschein zu betrachten, mit einem gewissen jungen Schauspieler auf ihr. Einen Augenblick sah und spürte sie es fast. Balkenphantasie Nr. 620, dachte sie, Unterabteilung Pfadfindergeist.
Wie unanständig, Carla. Jedenfalls hoffte sie, dass der Kamin funktionierte. Sonst würde es hier drin – ob mit oder ohne Jim – sehr kalt werden. Natürlich konnte sie die Dachbodentür offen lassen, damit die dort untertags aufgestaute Wärme die Temperatur ein wenig ausglich. Aber der Gedanke behagte ihr nicht. Ein alter Dachboden hatte etwas Grusliges, daher war es ihr lieber, wenn er zublieb. Sobald das Zimmer sauber war, wollte sie den Kamin ausprobieren.
Um zwei Uhr hatte Carla das Wohnzimmer einigermaßen auf Vordermann gebracht und den größten Teil der Möbel wieder hineingetragen. Sie war müde. Sie hatte wirklich viel geschafft an diesem Tag, und sie war froh, dass sie das Motel zeitig genug verlassen hatte, um heute mit allem fertig zu werden. Andernfalls wäre sie bei der Ankunft ihrer Gäste wahrscheinlich noch immer am Putzen gewesen.
Irgendwie wünschte sie sich fast, sie wären schon wieder weg. In ihr wuchs allmählich das Gefühl, dass das alles ihr gehörte – jetzt, nachdem sie es von seiner Patina aus Staub und Schmutz befreit hatte. Bestimmt würde auch das Lektorieren gut laufen. Der Küchentisch war der perfekte Schreibtisch. Wenn sie ihn auf beiden Seiten auszog, war es sogar der größte Schreibtisch, den sie je gehabt hatte. Ganz was anderes als die kleine, knapp zwei Zentimeter dicke Sperrholzplatte in ihrem Apartment in New York. Oder der mit Briefen und Verträgen überladene Tisch in ihrem Büro. Hier konnte sie sich richtig ausbreiten. Ein Monat Arbeit an so einem Ort war so viel wert wie zwei Monate zu Hause. Viel Ruhe, viel Zeit zum Nachdenken. Keine Bars, die sie am Abend ablenkten, kein Kater am Morgen und nach Jims Besuch auch keine Männer mehr, die ihr Leben kompliziert machten.
Nur dass ihr das Vögeln ab und zu schon fehlen würde. Sie überlegte, wie wohl die Typen hier so waren. Farmer und Fischer wahrscheinlich. Vielleicht gar nicht so uninteressant. Ob es im Ort eine Bar gab? Wenn ja, würde sie wahrscheinlich in ihren gemieteten Pinto steigen und sich die Sache ansehen. Aber nur einmal, nahm sie sich vor. Und sich in nichts hineinziehen lassen. Sich um Gottes willen in nichts hineinziehen lassen. Ich bin hier, um mich durch ein Buch über Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre zu ackern. Es ist ein gutes Buch, das ich eingekauft habe, und es wird mich zum Star machen oder zumindest zur Cheflektorin. Gutes Geld und vernünftige Terminvorgaben. Darum geht es. Und sonst um gar nichts.
In fünf Tagen waren ihre Gäste wieder verschwunden, und dann konnte sie loslegen. Lange einsame Spaziergänge am Meer und acht Stunden pro Tag an der Schreibmaschine. Klang himmlisch. Das Buch war gut durchdacht, absolut professionell und spannend. Der Traum jedes Lektors. Ihr Chef hatte ihr zwei zusätzliche Wochen zu ihrem Urlaub genehmigt, damit sie das Lektorat bis zu ihrer Rückkehr in die Stadt abschließen konnte. Und das konnte sie auch. Doch ihm war nicht klar, dass sie das locker in einer Woche schaffen würde, wenn sie erst ihren Rhythmus gefunden hatte. Danach konnte sie eine Weile ausspannen und das Alleinsein genießen. Natürlich war das nicht ganz astrein, das wusste sie, aber sie hatte in letzter Zeit sehr viel gearbeitet. Sie hatte sich diesen Urlaub schwer verdient und brauchte die Zeit zum Erholen. Vielleicht würde sie selbst etwas schreiben. Oder sich einfach nur zurücklehnen und ausnahmsweise mal gar nichts machen. Wie es sich ergab. Und das alles bei vollem Gehalt. Wichtig war nur, dass sie ein gutes Buch ablieferte. Und das hatte sie fest vor. Der Rest war Dreingabe. Gut gemacht, Carla.
Aber jetzt zum Dachboden.
Sie war schon am Vormittag oben gewesen, und es hatte ziemlich übel ausgesehen. Ihr Ordnungssinn drängte sie, den Raum zumindest oberflächlich sauber zu machen. War wohl besser so. Aber alles schön der Reihe nach. Erst einmal musste sie nachschauen, ob der Kamin funktionierte. Sie ging hinaus, um Späne und einige Scheite aus dem Schuppen zu holen. Sie nahm mehrere Blätter aus dem Sportteil der Sunday Times, rollte sie fest zusammen und streute die Späne darüber. Zuletzt legte sie drei Scheite auf den Rost und vergewisserte sich, dass der Abzug offen war. Mit einem Streichholz zündete sie die Zeitung an. Der Rauch fing an zu ziehen, und bald flackerte ein schönes, warmes Feuer im Kamin.
Schürhaken, Feuerzange und Schaufel standen in einem Kasten neben ihr. Mit dem Schürhaken schob sie die Scheite zurecht und legte noch zwei dazu. Dann lehnte sie sich eine Weile zurück und genoss das Feuer. Es gab eine angenehme Hitze ab. Das Zimmer würde also heute Abend schön behaglich sein. Nachdem sie den letzten dick gepolsterten Sessel hereingebracht hatte, sagte sie sich, dass sie den Dachboden nicht mehr länger hinausschieben durfte. Jetzt oder nie.
Sie öffnete die Tür und trat auf die Treppe.
Die Stufen knarrten natürlich, wirkten aber nicht besonders solide. Am oberen Ende der Treppe war eine zweite Tür. Sie machte sie auf und griff nach oben, um das Licht anzuschalten.
Putzen hatte hier nicht viel Sinn. Der Raum war total verwahrlost. Die Spuren auf dem Boden zeugten vom Wohlergehen ganzer Mäusekolonien. Kackstadt. Und das warf natürlich die Frage nach Fledermäusen auf. Nach allem, was sie über das Landleben wusste, musste man in einem Dachboden voller Mäuse immer auch mit Fledermäusen rechnen. Vielleicht würde sie bei Einbruch der Dunkelheit nach ihnen Ausschau halten. Oder vielleicht auch nicht. Das Putzen konnte sie jedenfalls vergessen.
Die Dachschräge war ohnehin so steil, dass sie sich dabei den Rücken ruiniert hätte. Außerdem gab es hier oben sowieso nicht viel. Ein paar auf dem Boden verstreute Kleiderbügel. Eine alte Matratze, wasserfleckig und verblichen. Eine schwere alte Kommode, der die meisten Schubladen fehlten. Eine rostige Sense.
Das war so ziemlich alles. Es gab nur ein Fenster, und das war klein und völlig verschmiert mit Schmutz und Staub. Neben dem Kamin lag ein Stapel alter Zeitschriften, ein Almanach von 1967 und etliche alte Comicalben – Detective Comics und Plastic Man. Die Comics sahen noch ganz brauchbar aus. Sie hob sie auf und bemerkte erfreut den Geruch nach altem, modrigen Papier. Es war ein Geruch, den sie sehr mochte. Er weckte Jugenderinnerungen an einen Ramschladen in New York im Jahr 1964. An gemähtes Heu im Sommer. Milchshakes. Angenehme Dinge.
Sie legte die Comics neben die Treppe und ging leicht gebückt zum Fenster.
Lüften kann ich ja trotzdem mal, dachte sie. Sie schob den Riegel auf und trat etwas zurück, um das Fenster zu öffnen. Dabei bemerkte sie, dass sie etwas umgestoßen hatte. In der entlegenen Ecke war es schwer zu sehen, aber anscheinend hatte sie etwas … verstreut. Irgendetwas war über den Boden gekullert. Bei offenem Fenster war das Licht etwas besser, aber sie musste sich dennoch hinknien, um etwas zu unterscheiden. Angestrengt betrachtete sie den Boden. Also, was war das denn?
Sie blickte auf einen Haufen Knochen; klein und ordentlich geschichtet. Welche Knochen, konnte sie nicht genau sagen, sie ging aber davon aus, dass sie von irgendeinem Vogel waren – oder von mehreren Vögeln, weil mehrere lange und teilweise auch kürzere weiße Schwanzfedern in den Haufen gemischt waren. Einige Knochen erkannte sie – ein winziger Flügel, ein paar Wirbel. Offensichtlich waren sie abgenagt worden. Wahrscheinlich Insekten. Sie sahen ziemlich alt aus. Die eigentliche Frage war, wie sie hierher gelangt waren. Sie hatte den Haufen mit ihrem unabsichtlichen Tritt kaum beschädigt. Die meisten Knochen bildeten immer noch eine kleine Pyramide mit einem Durchmesser von ungefähr dreißig Zentimetern. Als hätte sie jemand vor das Fenster gekehrt und dann vergessen. Irgendjemand hatte den Boden gefegt und dann die Arbeit liegen gelassen. Ja, das war es wahrscheinlich.
Aber weshalb nur Knochen und Federn? Der Boden war bedeckt mit Kot. Nichts davon war in dem kleinen Haufen zu sehen. Gab es irgendein Tier, das so etwas machte? Eine Eule vielleicht? Sie versuchte sich an den Biologieunterricht im College zu erinnern. Irgendwie konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass Vögel oder womöglich gar Ratten die Überreste ihrer Beute so aufschichteten, obwohl es wahrscheinlich schon denkbar war. Aber es sah eigentlich mehr nach etwas aus, was ein Mensch tun würde. Ein Kind vielleicht. Die Comicalben neben dem Kamin fielen ihr wieder ein. Sie malte sich aus, wie ein armes, einsames, psychisch leicht gestörtes Kind hier oben im Dachboden Hühnerknochen aufstapelte, während sich seine Eltern unten in den Haaren lagen. Sie fragte sich, wer wohl die letzten Mieter im Haus gewesen waren.
Sie ging zurück zur Treppe und griff nach den Comics. Hoffentlich plündere ich jetzt nicht dein Geheimversteck, dachte sie. Sie stieg hinunter und bewaffnete sich mit Schaufel und Besen. Irgendwas an diesem Haufen wollte ihr nicht gefallen. Wenn sie auch sonst nicht aufräumte da oben – den musste sie auf jeden Fall wegschaffen.